Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König


Kapitel 5





Kapitel 5: A Hard Day's Night



Unheil lag in der Luft.
Es zog sich über dem Anwesen zusammen wie ein bevorstehendes Gewitter.
Im Gegenlicht der untergehenden Sonne lag das Haus nur scheinbar friedlich da. Denn dies war nicht der vertraut beschauliche Abendfrieden, der allmählich aus dem Nachmittag erwächst, sondern eine plötzliche, unnatürlich wirkende Stille, die ohne Ankündigung hereingebrochen war.
Der lebhafte Frühlingswind, der eben noch die Grashalme auf den Wiesen gekräuselt hatte, war mitten in seiner Bewegung jäh erstarrt und hielt jetzt die Luft in einer flirrenden Umarmung gefangen. Unter dieser Anspannung vibrierte sie so nachhaltig, daß auch die Vögel zur Ruhe gezwungen wurden. Sie hatten ihren Abendgesang unterbrochen und hockten in aufgeplusterter Erwartung auf ihren Zweigen.
Unter den Sträuchern, die bereits im Schatten lagen, hatte die Hofkatze einen Beobachterposten bezogen.
Auch vom Haus her waren jetzt keine Geräusche mehr zu hören, und die ganze Natur schien den Atem anzuhalten wie in Erwartung eines erlösenden Schlages, in dem sich die aufgestaute Anspannung entladen würde.
Genau wie die anderen Tiere spürte Rollo die Spannung in jeder Faser seines sehnigen kleinen Körpers, und er war bereit, diesen Schlag zu führen, auf den alle warteten. Er wollte das Böse ein für allemal besiegen. Also schlich er durch das Rübenfeld zu dem alten Schuppen. Und dort lauerte das Unheil!
Es war weiß und schlank.
Nicht oft gelang es Rollo, den Ganter von hinten anzugreifen, mochte er sich auch gegen den Wind anschleichen und noch so leise und sorgfältig sein. Ein sechster Sinn schien dem Vogel spätestens kurz vor dem Angriff einzugeben, woher die Gefahr drohte, und wenn er sich dann herumwarf und seinen kampferprobten Schnabel dem Feind entgegenstreckte, war die Schlacht für Rollo schon fast verloren.
Er hatte einmal Bekanntschaft mit diesem Schnabel gemacht. Er wußte, mit welcher Kraft und Schnelligkeit der alte Ganter seine Hiebe führen konnte. Auch damals hatte er gedacht, er könnte seinen bösartigen alten Widersacher überraschen, aber der hatte dann im letzten Moment den Spieß umgedreht.
Doch heute mußte es gelingen: Der Ganter war vollkommen ahnungslos. Er lag an der Bretterwand des Schuppens auf der Lauer. Offensichtlich erwartete er Rollo aus der entgegengesetzten Richtung.
Rollo setzte zum Sprung an und schlug los.
Doch noch bevor er seinen Feind erreicht hatte, wußte er schon, daß auch dieser Angriff wieder zum Scheitern verurteilt war. Seine eigene Natur hatte sich gegen ihn gewandt. Er konnte einfach nicht lautlos zuschlagen. Die Hinterlist, die den Ganter auszeichnete, war ihm fremd. Er mußte seinen Gegner zumindest durch ein leises Knurren warnen. Heute war er so aufgeregt, daß es sogar ein wütendes Gebell geworden war, das seinen Angriff begleitete.
Der Ganter fuhr herum, sah den Hund auf sich zustürmen, und machte einen Satz zur Seite. Rollo erwischte noch eine Schnauze voll Federn und war ein wenig verdutzt, überhaupt so erfolgreich zu sein.
Er spürte zwar den Jagdinstinkt seiner Vorfahren in sich, aber selbst hatte er noch nie ein anderes Tier getötet. Sollte er den Ganter wirklich einmal erwischen, würde er wahrscheinlich gar nicht wissen, was er dann tun sollte. Er war auch gar nicht darauf aus, ihn zu vernichten. Er mußte nur eindeutige Verhältnisse schaffen. Es gab auf dem Hof nur Platz für einen Herrn.
Der Ganter war schon dagewesen, als Rollo seinen Dienst als Wachhund angetreten hatte. Da hatten sich Angewohnheiten eingeschliffen, die er nicht dulden konnte. So kam es ihm zu, den Landbriefträger zu jagen, wenn der schon einmal Station an dem einsamen Haus machte. Und er hatte zu entscheiden, wer den Hof betreten durfte und sich auf dem Anwesen frei bewegen konnte, und wer nicht. Er allein war dafür verantwortlich, daß die Hühner und Enten sich vertrugen und den Hof nicht verließen. Um die kümmerte sich sein Feind zwar sowieso nur, wenn sie ihm sein Fressen streitig machen wollten, aber sonst mischte er sich in alles ein.
Rollo wußte nicht, daß es früher auch viele Gänse auf dem Hof gegeben hatte. Da hatte der Ganter genug mit seiner Schar zu tun gehabt. Aber das war lange her, und jetzt war er als einziger übriggeblieben. Man hatte ihn bis zuletzt gebraucht, und dann war er selbst schon zu alt gewesen, um noch als Braten zu taugen. Deshalb hatte Johann Burckhardt ihn leben lassen. Eigentlich war ihm eine solche Regung ja fremd. Diana wollte darin seine verborgene Gutherzigkeit sehen. Aber Malchen meinte immer: "Er kann ihn gar nicht umbringen, weil er ihm zu ähnlich ist. Er ist genauso bösartig und zänkisch, und auch so eigenbrötlerisch wie er selbst."
Von alledem wußte Rollo nichts. Er wußte nur, daß er jederzeit bereit sein mußte, um die Herrschaft auf dem Hof zu kämpfen.
Für heute hatte er gewonnen.
Der Ganter war so erschrocken gewesen, daß er sich nicht getraut hatte, zum Gegenangriff vorzugehen. Er war laut schnatternd zum Bach geflohen.
Rollo hatte gezeigt, wer der Herr ist. Aber nur für heute.
Er hatte eine Schlacht gewonnen, aber nicht den Krieg.
Zufrieden trabte er zu seiner Hütte zurück. Im Haus wurde ein Fenster geöffnet, und leise Musik drang heraus:

It's been a hard day's night,
And I've been working like a dog.
It's been a hard day's night,
I should be sleeping like a log.
But when I get home to you
I find the things that you do
Will make me feel alright.



Auch im Innern des Hauses war es längst nicht so friedlich, wie man hätte meinen können. Und in gewisser Weise wurden auch hier verbissene Kämpfe geführt um Zuständigkeiten, Verantwortungsbereiche und Entscheidungsgewalt.
Johann Burckhardt ließ sich zwar bei allem, was er für wichtig genug hielt, von niemandem dreinreden, führte sich dabei mitunter auf wie ein Sippenfürst vergangener Tage und traf seine Entscheidungen, ohne die Frauen auch nur um ihre Meinung zu fragen. Aber mit derselben Entschiedenheit kümmerte er sich um alles andere überhaupt nicht. Das Versorgen der wenigen Tiere, das Bestellen der noch auf dem Hof verbliebenen Nutzflächen und das Führen des Haushaltes mit allem, was dazu gehörte, bezeichnete er als "Tüttelkram" oder "Weiberarbeit".
Dieses 'Machtvakuum' hatte vor gut zwanzig Jahren Diana besetzt, nachdem Frau Burckhardt unter Umständen, die anzusprechen in dem Haus Tabu waren, ihren Mann verlassen hatte. Sie hatte seitdem in all diesen Dingen das entscheidende Wort, so daß Malchen ihren Anweisungen letzten Endes folgen mußte. Und Diana sparte nicht mit Anweisungen. Sie war sich zwar selbst für keine Arbeit zu schade, konnte aber auch sehr gut andere einspannen, und "Malchen endlich ans Arbeiten zu kriegen", bereitete ihr immer wieder neues Vergnügen.
Amalia hingegen hatte sich im Laufe der Jahre bis zur Meisterschaft darin vervollkommnet, diesen Anweisungen aus dem Weg zu gehen oder sie falsch zu verstehen. Wenn sie dann doch einmal eine Arbeit vollständig und sogar zu Dianas Zufriedenheit ausgeführt hatte, wurde sie nicht müde, damit bei Burckhardt zu prahlen und wort- und gestenreich darzustellen, wie arbeitsam sie wäre.
Außerdem glaubte sie zunehmend, überall da, wo sie arbeitete, auch mitbestimmen zu können, so daß es ständig zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen den beiden Frauen kam. Burckhardt wurde dann meist als Schiedsrichter angerufen, aber dem waren diese "Kinkerlitzchen" so unwichtig, daß er immer derjenigen recht gab, die als erste zu ihm kam. So fanden viele der Streitigkeiten nie ihr Ende.
Lisa war in diesen Scharmützeln stets unparteiisch geblieben, und sie vermochte lange Zeit nicht zu begreifen, wie sich die beiden gegenseitig das Leben so schwer machen konnten. Aber schließlich war sie dahintergekommen, daß es ihnen gar nicht um die strittigen Fragen ging, sondern um die Aufmerksamkeit und Anerkennung von Burckhardt. Es wirkte gerade so, als ob sich zwei eifersüchtige Frauen um die Zuneigung desselben Mannes bemühten.
Am schlimmsten war es immer, wenn alle drei zusammentrafen. Dann liefen die Konkurrentinnen stets zur Höchstform auf.
So war auch heute beim Abendessen kaum eine Minute mit stillem Genuß des Essens zugebracht worden. Eine der beiden Frauen hatte jeweils das große Wort geführt.
Zuerst war es darum gegangen, welche Blumen vor dem Haus gepflanzt werden sollten. Dann war der alte Streit um die Neuaufteilung der Zimmer im Obergeschoß wieder aufgeflammt. Dabei ging es hauptsächlich darum, wer von beiden nach der Renovierung das größere Gästezimmer, das jetzt Lisa bewohnte, bekommen sollte.
Diana und Malchen saßen sich am Tisch gegenüber. Das machte es ihnen leichter, sich gegenseitig giftige Bemerkungen ins Gesicht zu schleudern. Von Zeit zu Zeit wandten sie sich an den am Kopf des Tisches sitzenden Burckhardt, um dessen Zustimmung zum eigenen Standpunkt zu bekommen. Doch der schien dem ganzen Hin und Her wenig Beachtung zu schenken. Sein Blick war fast ständig aus dem Fenster zum Hof gerichtet, und hin und wieder knurrte er unverständlich, was sämtliche Interpretationsmöglichkeiten offen ließ.
Lisa hielt sich aus dem Geplänkel heraus, schien aber zunehmend davon genervt zu sein.
Inzwischen war man beim Nachtisch angekommen, und die Streithennen hatten sich ein weiteres Thema vorgenommen, das ein immer wiederkehrender Anlaß für Auseinandersetzungen war: Rollo, der Hofhund.
Malchen hatte sich gerade lautstark darüber beschwert, daß Rollo den Kräutergarten "verwüstet" hätte, für den sie sich seit einigen Pflanzaktionen verantwortlich fühlte. Diana nahm ihren Liebling natürlich in Schutz, und das nicht nur, um Malchen zu widersprechen:

"Rollo hat überhaupt nichts verwüstet. Er hat nur die Hühner aus deinem Beet vertrieben. Du solltest ihm dafür dankbar sein!"

"Die Hühner vertrieben! Was noch? Du tust ja so, als ob dieser Staubfänger weiß, was er macht. Ist ja lächerlich!"

"Rollo weiß ganz genau, was er tut! Einen besseren Wachhund könnten wir gar nicht haben."

"Ja, einen Wachhund, der unsere Gäste vertreibt! Heute mittag hätte er doch beinahe den netten Herrn Nicolai angefallen. Man muß sich ja schämen, nicht, Onkel Hannes?"

Burckhardt knurrte nur wie vorhin schon mehrmals, aber bei dem Wort "Nicolai" hatte er kurz aufgesehen. Lisa ergriff jetzt die Gelegenheit, von den nicht enden wollenden Streitereien der beiden abzulenken, und sprach ebenfalls Burckhardt an:

"Sag mal, Onkel, was will dieser Typ eigentlich immer hier?"

"Dieser 'Typ' ist jedenfalls jede Mark wert, die ich in ihn investiere!"

"Was, du bezahlst ihn? Wofür denn bloß?"

"Er hilft mir, etwas herauszufinden. Wir haben es auch schon fast geschafft. Es fehlt nur noch ein entscheidender Hinweis, dann sind wir am Ziel. Und die Trottel von der Stadt unterstützen ihn auch noch dabei!"

"Aber worum geht es denn?"

"Kann ich euch noch nicht sagen. - Wenn ich's mir recht überlege, vielleicht später auch nicht. Aber soviel könnt ihr wissen: Es wird eine schöne Stange Geld in unsere Kasse spülen. Vielleicht verkaufe ich dann sogar den Hof und mache eine Weltreise. Ihr könnt schon mal überlegen, wer mich begleiten will."

Bei dem Stichwort "Geld" hatte Malchen aufgehorcht, und bei "Hof verkaufen" war auch Dianas Interesse geweckt. Alle drei Frauen bestürmten Burckhardt jetzt, doch mehr zu erzählen, aber der meinte nur:

"Was ihr nicht wißt, könnt ihr auch nicht verraten. Frauen können ja nun mal den Mund nicht halten. Dieser komische Gelehrte von der Akademie ist sowieso schon neugierig geworden. Daß mir keine von euch mit dem redet, wenn er demnächst mal hier vorbeikommt."

Ehe noch jemand etwas darauf erwidern konnte, stand er auf, ging durch das Wohnzimmer in die Bibliothek und schloß die Tür hinter sich. Er ließ drei überraschte Frauen zurück, die sich gegenseitig ratlos ansahen. Durch die entstandene Stille konnte man jetzt die Musik hören, die aus dem Wohnzimmer kam.

Say you don't need no diamond ring
And I'll be satisfied
Tell me that you want those kind of things
That money just can't buy
For I don't care too much for money
Money can't buy me love.

Malchen fand als erste ihre Sprache wieder:

"Eine Weltreise! Was sagt ihr denn dazu? Kommst du auch mit, Lisa?"

Bevor Lisa antworten konnte, fuhr Diana dazwischen:

"Daß er den Hof verkauft, glaub ich erst, wenn ich es sehe. Das Lied hab ich schon zu oft gehört."

"Ist doch ganz egal. Viel wichtiger ist doch, daß wir eine Weltreise machen. Dann komm ich endlich mal hier raus!"

"Das ist ja wieder typisch! Du interessierst dich nur für dein Vergnügen. Und was machst du nach der Reise, wenn du kein Zuhause mehr hast, weil der Hof weg ist?"

"Meinst du, ich bin darauf angewiesen, hier zu leben? Ich könnte überall hingehen. Vielleicht bleib ich auch irgendwo unterwegs, wo es schön ist. Du bist ja nur neidisch, daß du kein neues Leben mehr anfangen kannst!"

"Und warum sollte ich das nicht können?"

"Weil du schon viel zu alt bist! Und außerdem weißt du ja gar nicht, was du mit dir anfangen sollst, wenn du nicht mehr für Onkel Hannes sorgen kannst."

Jetzt war Diana beleidigt. Mit zugekniffenem Mund stapelte sie Teller aufeinander und ging damit in die Küche. Lisa stand auch auf und folgte ihr, um ihr beim Abwasch zu helfen, aber Diana fuhr sie nur an:

"Ich mach das schon alleine, verderb du dir mal nicht deine mühsam gepflegten Hände mit dem Spülwasser."

So abgefertigt ging Lisa ins Wohnzimmer und hatte vor, dort Malchen ein paar passende Worte zu sagen, aber die war gar nicht da. Erst einige Minuten später kam sie nach, und zwar aus der Bibliothek. Lisa nahm sie gleich in Empfang:

"Was denkst du dir eigentlich, Diana so anzumachen? Was hat sie dir bloß getan, daß du so eklig zu ihr bist?"

"Ach, die soll sich nicht so anstellen. Die tut immer so, als ob sie hier die Thronerbin wäre. Sie führt sich auf wie Lady Di persönlich. Dabei will Onkel Hannes hauptsächlich mich mitnehmen auf seine Weltreise. Ich hab ihn extra noch mal gefragt."

"Und, hast du sonst noch was aus ihm herausbekommen? Was das mit Nicolai und dem Geld auf sich hat, das die beiden verdienen wollen?"

"Nee, da schweigt er wie ein Grab. Ich hab wohl gesehen, daß lauter alte Landkarten auf seinem Schreibtisch lagen und dicke Bücher mit irgendwelchen Listen, oder so. Keine Ahnung, was das ist.
Aber sag mal, du sitzt da so cool? Bist du denn gar nicht aufgeregt? Wenn es um so viel Geld geht, muß dich das doch auch interessieren. Sicher erbst du doch auch was, wenn Onkel Hannes mal stirbt."

"Ich glaub nicht so recht an diese geheimnisvolle Geldquelle. Außerdem brauch ich nichts, ich hab mein Auskommen auch so, und Onkel Hannes kann meinetwegen noch fünfzig Jahre leben."

"Na, meinetwegen doch auch! Aber Diana, die redet immer von ihrem Erbe. -
Wenn Onkel Hannes aber dann doch mal stirbt, meinst du, er vermacht mir auch was?"

"Da bin ich sogar ganz sicher."

Malchen wollte erstaunt nachfragen, was Lisa so sicher machte, aber da wurde sie von der Türklingel unterbrochen. Weil Diana in der Küche näher an der Haustür war, blieben beide sitzen und horchten gespannt darauf, wer das wohl sein mochte. Malchen erkannte als erste die entfernte männliche Stimme:

"Es ist Horst! Ich wußte ja gar nicht, daß der heute noch kommt."

"Ich auch nicht. Aber du weißt ja, wie er ist: Wenn man auf ihn wartet, kommt er nicht, und wenn man nicht mehr mit ihm rechnet, steht er plötzlich vor der Tür."

Horst Wagner stand jedoch nicht mehr vor der Tür, sondern war schon mit großem Hallo ins Wohnzimmer gekommen:

"Na, ihr beiden Hübschen! Was liegt an?"

Der etwa dreißigjährige Mann war zwar nachlässig gekleidet mit abgewetzter Jeansjacke, ungefähr gleichaltriger Hose und einem Pullover von undefinierbarer Farbe, aber er machte diesen Eindruck durch das strahlendste Lächeln wett, das man sich vorstellen konnte. Er wußte allerdings ganz genau, wie dieses Lächeln wirkte, und deshalb hielt er es einen Moment länger auf dem Gesicht, als normal gewesen wäre, während er unternehmungslustig von einer Frau zur anderen schaute.
Malchen reagierte mit ihrem "Die-Sonne-geht-auf-Blick" auf diesen Auftritt. Lisa hatte es längst aufgegeben, sich über die immer wieder verblüffende Wirkung ihres Verlobten auf andere Frauen aufzuregen, und auf Malchen war sie sowieso nicht eifersüchtig. Trotzdem bekam die zuerst einen mitleidig-belustigten Seitenblick ab, bevor sie Horst direkt ansprach:

"Das ist aber mal schön, daß du jetzt schon kommst. Hast du auch deine Sachen nicht vergessen?"

Horst war schon damit beschäftigt, seine schlanke Gestalt möglichst malerisch in einen der riesigen Sessel zu lümmeln, und wurde von der Frage kalt erwischt. Sein jetzt etwas dümmlicher Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, daß er keine Vorstellung davon hatte, worüber seine Verlobte sprach. Er wollte eine nichtssagende Bemerkung machen, um Zeit zu gewinnen, aber Lisa hatte seine Ahnungslosigkeit schon bemerkt.

"Du hat es also vergessen! Wir wollten doch morgen nach Goslar fahren!"

"Ach so, ja, ja, nein, das hab ich nicht vergessen, aber es geht nicht. Ich bin da gerade einer sehr wichtigen Sache auf der Spur. Da muß ich unbedingt dranbleiben."

"Du mit deiner komischen Arbeit! Immer ist alles wichtiger als ich! Wir haben das schon vor über zwei Wochen abgemacht!"

"Ja, ja, ich weiß, wir holen das auch nach, ganz bestimmt! Goslar läuft uns doch nicht weg."

"Goslar nicht, aber vielleicht lauf ich dir bald weg, wenn du so weitermachst."

"Jetzt reg dich doch nicht so auf! Außerdem weiß ich gar nicht, was du da unbedingt willst. Wenn du Fachwerkhäuser sehen willst, kannst du doch nach Wolfenbüttel gehen. Eine dieser malerischen Städte ist doch wie die andere."

"Immer dasselbe mit dir! Alles, was dich nicht interessiert, hat auch für andere unwichtig zu sein. Deine ganze Welt dreht sich nur um dich!"

Horst hatte gemerkt, daß er, anstatt Lisa zu beruhigen, sie nur noch mehr gegen sich aufgebracht hatte, und er überlegte gerade, wie er am besten etwas Zündstoff aus dem Gespräch nehmen könnte, als ihm ganz unvermutet Malchen zu Hilfe kam:

"Lisa, jetzt bist du aber ungerecht! Horst kann doch nichts dafür, daß seine Arbeitszeiten so unregelmäßig sind. Schließlich ist das schon schwer genug, immer den Neuigkeiten hinterher zu jagen, auch ohne daß du auch noch an ihm herumnörgelst."

Lisa war so verblüfft, daß ihr für einen Augenblick die Worte fehlten. Den Moment nutzte Horst, um sich aus der Schußlinie zurückzuziehen. Noch bevor eine der Frauen, die sich jetzt feindselig ansahen, es bemerkt hatte, war er zur Tür in die Bibliothek geschlichen und murmelte jetzt:

"Ihr kommt ja sicher eine Weile alleine zurecht. Ich muß ganz dringend etwas mit Herrn Burckhardt besprechen. Ich glaube, er kann mir in meiner Sache weiterhelfen."

Dann war er verschwunden. Die Frauen waren noch mit sich selbst beschäftigt und nahmen es kaum zur Kenntnis. Aus den Miniboxen in der Schrankwand war John zu hören:

I've got ev'ry reason on earth to be mad
'Cause I've just lost the only girl I had
If I could get my way
I'd get myself locked up today
But I can't so I cry instead

Schließlich hatte auch Lisa die passenden Worte gefunden:

"Was bildest du dir eigentlich ein, dich in meine Angelegenheiten einzumischen? Kümmer dich doch gefälligst um deine eigenen Sachen!"

"Aha, jetzt hab ich bei der Gnädigsten wohl einen Nerv getroffen, was?
Fahr doch alleine nach Goslar! Du weißt doch ganz genau, daß Horst diesen Kleinstadt-Mief nicht haben kann. Er lebt erst in der Stadt richtig auf, hat er mir mal erzählt."

"Weißt du was, du kleine Hexe? Du kannst ihn geschenkt haben, nimm ihn doch mit auf deine Weltreise, dann könnt ihr beide mal aufleben."

"Ach, das ist mir zu lächerlich, mich mit dir rumzustreiten. Ich geh nach oben. Gute Nacht, Elisabeth."

Mit dieser kleinen Gemeinheit, denn sie wußte genau, daß Lisa ihren vollen Namen nicht mochte, ging Malchen aus dem Zimmer. An der Tür stieß sie beinahe mit Diana zusammen, die endlich in der Küche fertig geworden war und jetzt ins Wohnzimmer kam. Sie fand ihre Cousine ziemlich durcheinander vor: Ihre auch sonst schon großen grünen Augen waren vor Empörung noch größer geworden, und die Zornesröte hatte ihre Wangen gefärbt. Diana wollte erst etwas bemerken, setzte sich aber dann lieber still hin und sprach erst nach ein paar Minuten:

"Entschuldige, daß ich vorhin so kurz angebunden war, aber Malchen treibt mich immer zur Weißglut."

"Schon OK. Ich weiß, was du meinst. Mich hat sie inzwischen auch ganz schön auf die Palme gebracht. Ich wußte ja gar nicht, daß sie so nervig sein kann."

"Da siehst du mal, was ich hier immer aushalten muß. Aber wenn's Malchen alleine wäre, wär es ja halb so schlimm."

"Wie meinst du das? Mußt du dich etwa mit Onkel Hannes auch rumärgern?"

"Und frag nicht, wie."

"Aber der ist doch immer so lieb."

"Ja, wenn du hier bist, zeigt er sich immer von seiner besten Seite. Aber was meinst du denn, warum deine Mutter damals so schnell aus dem Haus wollte und auch später immer nur wiedergekommen ist, um dich herzubringen oder abzuholen? Die kannte ihren Bruder."

"Ich bin eigentlich immer gerne hier gewesen."

"Ja, du warst auch nur zu Besuch und bist später wieder zurück zu deinen Freunden in die Stadt gegangen. Aber ich bin hier praktisch nie rausgekommen."

"Hast du nicht mal eine Zeitlang in Kleists Gasthof gearbeitet und da auch gewohnt?"

"Ja, hab ich. Das war auch schön. Ich durfte sogar manchmal bedienen. Aber das ging nicht lange gut, dann hat Frau Kleist gemerkt, daß ihr Mann hinter mir her war, und ich mußte wieder gehen."

Daß Diana einmal der Anlaß für Ehestreitigkeiten bei den Nachbarn gewesen war, war Lisa neu. Irgendwie hatte sie ihre etwas grob und maskulin wirkende Cousine nie mit Männern in Verbindung gebracht. Aber wieso eigentlich nicht? Kleist war allerdings bestimmt zwanzig Jahre älter als Diana, er hätte ja ihr Vater sein können!
Das sagte sie ihr natürlich nicht, sondern hörte weiter zu, wie Diana über alte Zeiten redete. Viele dieser Erinnerungen hatten sie auch gemeinsam, und so saßen sie noch lange beisammen und plauderten. Die ganze Zeit über hörten sie aus der Bibliothek nebenan auch angeregte Stimmen, und sie fragten sich, was Johann Burckhardt und Horst wohl zu bereden hatten. Gelegentlich wurden die Stimmen sogar so laut, daß man fast etwas verstehen konnte. Aber leider eben nur fast. Das wenige, was vielleicht verständlich gewesen wäre, wurde von der Stereoanlage übertönt:

You say you'll be mine, girl
'Til the end of time
These days such a kind, girl
Seems so hard to find
Someday when we're dreaming
Deep in love not a lot to say
Then we will remember
Things we said today.



* * *



Er saß auf einer Bank im Obstgarten. Der fahle Mond versilberte die Wipfel der Bäume und tauchte die Wiesen in einen blassen, nebligen Schimmer. Die Luft war trocken und frisch, und er fröstelte leicht. Vielleicht war es aber auch seine Angst, die ihm den leisen Schauer auf die Haut trieb.
Er zwang sich, klar zu denken. Wer war schon Johann Gottlieb Burckhardt? - Ein selbstsüchtiger alter Narr, der die ganze Menschheit bestehlen wollte. Und diese Tat würde nur den Schlußpunkt setzen unter ein Leben, das gezeichnet war von Rücksichtslosigkeit und Härte, dessen Höhepunkte sämtlich aufgebaut waren auf den Niederlagen seiner Mitmenschen. Dieser Mann hatte immer nur auf seinen eigenen Vorteil geachtet, die Bedürfnisse der Menschen um ihn herum waren ihm nie wichtig gewesen. Und hier stand er nun am Ende seines Weges, und anstatt wenigstens jetzt einmal an andere zu denken, wenn auch nur an die wenigen Personen, die ihm noch nahestanden, plante er durch diese letzte Tat, seine Skrupellosigkeit auf eine bisher nicht erreichte Spitze zu treiben. Jetzt richtete sich seine Selbstsucht nicht nur gegen einzelne, sondern gegen alle.
Eine innere Stimme drängte ihn, ins Haus zu gehen, aber er hatte sich durch seine Gedanken in eine Unruhe gesteigert, die nach Besänftigung verlangte. Deshalb stand er auf und ging über die Wiese zum Wald.
"Wer könnte leben ohne den Trost der Bäume?" dachte er.
Das trockene Unterholz knackte unter seinen Schritten. Sorgfältig vermied er es, in einen dicken Pilz zu treten, und blieb dann an einem abgestorbenen alten Baum stehen. Er fühlte sich als Teil der Natur. Er war nur ein Rädchen in dem großen Getriebe, aber eines, das seine eigene Geschwindigkeit steuerte. Er konnte durch seine Bewegung auch den Lauf anderer, größerer Räder beeinflussen. In diesem Bewußtsein wurde er ganz ruhig, und seine Aufgabe lag klar vor ihm.
Er zwängte sich durch einen Busch und kehrte zurück zum Haus. Am Schuppen traf er auf Rollo. Der Hund kam ihm schnell entgegen, stutzte dann etwas verunsichert und blieb knurrend stehen. Er streckte ihm den linken Arm entgegen und deutete mit zwei Fingern der ausgestreckten Hand auf seine Augen. Leise wimmernd drehte der Hund um und lief zu seiner Hütte zurück.
Durch die Eßzimmertür ging er ins Haus. Er blieb stehen, überlegte kurz und betrat dann das Wohnzimmer. Der tiefstehende Mond schien durch die Fenster und verwandelte den Raum, der ihm eigentlich vertraut vorkommen mußte, in eine beunruhigende Fremdheit. Er nahm sich einige Augenblicke Zeit, um sich zu orientieren. Da hörte er leise Schritte in der Halle. Sie kamen näher. Die Tür zum Eßzimmer wurde geöffnet, und jemand betrat den benachbarten Raum.


* * *



Rollo trottete in der Morgensonne durch den Obstgarten. Es sah aus, als ob er mitten in einer angestrengten Suche seine Spur verloren hätte und nun nicht mehr wüßte, was er eigentlich hier wollte. Er wirkte irritiert und etwas verloren.
Jetzt machte er halt, drehte beinahe auf der Stelle um und lief zurück zum Hof. Er blieb an der Tür zum Eßzimmer stehen, sah hinein und bellte lebhaft.



Drinnen saßen die drei Frauen am Frühstückstisch. Horst war schon sehr früh wieder nach Braunschweig gefahren, und Burckhardt war, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, noch nicht nach unten gekommen. Deshalb überlegten die drei jetzt, woran das wohl liegen könnte. Diana sagte:

"Bestimmt ist er gestern wieder zu lange in der Bibliothek geblieben und ist jetzt noch müde. War Horst nicht auch noch bei ihm, als wir schlafen gegangen sind, Lisa?"

"Ja, der kam dann kurz nach mir ins Bett."

"Und was hatten die beiden da zu bereden?"

"Keine Ahnung. Ich hab nicht gefragt. Er wollte mir zwar noch irgendwas erzählen, aber ich hatte gestern die Nase voll von seinen Geschichten und wollte nichts mehr hören."

Kaum war die Sprache auf den vergangenen Abend gekommen, da verdrückte sich Malchen vorsichtshalber. Sie sagte etwas von "Eier holen für Onkel Hannes" und ging hinaus. Doch nur kurze Zeit später kam sie völlig aufgelöst und außer Atem wieder herein und rief schon von der Tür her:

"Er ist tot! Er ist tot! Diese Bestie hat ihn ermordet!"

"Wer ist tot?"

"Mein Gänserich natürlich, tu nicht so, als ob du nicht weißt, daß Rollo pausenlos hinter ihm her ist, und jetzt hat er ihn umgebracht!"

"Nie und nimmer!"

Diana ging selbst hinaus um nachzusehen. Wenig später kam sie wieder und sah so verwirrt aus, daß Lisa sie bedrängte:

"Was ist denn nun passiert?"

"Der Ganter ist wirklich tot! Aber es war natürlich nicht Rollo. Keine Bißspuren! Jemand hat ihm den Hals umgedreht!"

Erschrocken sahen die drei sich an. Solch eine Tat trauten sie keinem der Hausbewohner zu. Dann mußte aber ein Fremder in der Nacht auf dem Grundstück gewesen sein. Malchen lief sofort nach oben, um Burckhardt davon zu erzählen. Die anderen beiden waren so beeindruckt, daß sie wortlos warteten. Malchen kam alleine wieder und sagte:

"Er ist nicht in seinem Zimmer! Das Bett ist gar nicht benutzt worden!"

"Vielleicht ist er ja in der Bibliothek am Schreibtisch eingeschlafen."

Alle drei liefen in die Halle. Lisa war als erste da und öffnete die Tür zur Bibliothek. Im Türrahmen blieb sie wie angewurzelt stehen, so daß die anderen fast in sie hineingelaufen wären. Alle drei stolperten dann vollends ins Zimmer und sahen ein Bild des Friedens vor sich:
Im Kamin glimmten die Reste eines Feuers, das den Raum auch über Nacht gemütlich warm gehalten hatte. In der Nähe dieser Wärmequelle hatte sich die Katze zusammengerollt und schlief. An dem mit Büchern vollgestapelten Schreibtisch saß Burckhardt genauso still und friedlich, und man hätte meinen können, daß er ebenfalls schlief - wenn da nicht das Messer in seiner Brust gewesen wäre.




Weiter mit Kapitel 6