Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König


Kapitel 8





Kapitel 8: Help!



"Warum hast du gelogen?"

"Was?"

Horst Wagner verschluckte sich fast am Rauch seiner ersten Zigarette des Tages und blickte verschlafen zu seiner Verlobten, die schon putzmunter neben ihm im Bett saß. Er war es nicht gewohnt, so früh schon angesprochen zu werden. Morgens brauchte er immer wenigstens eine Stunde, bis er richtig aufnahmefähig war. Lisa dagegen war jedesmal schlagartig hellwach und wollte auch gleich reden. Daran würde er sich wohl nie gewöhnen können. Er drehte das Radio an und blickte aus dem Fenster. Der Tag hatte anscheinend auch Schwierigkeiten, in Schwung zu kommen. Es wollte nicht so richtig hell werden. Er vertiefte sich wieder in seinen Krimi. Manchmal half das morgendliche Lesen gegen den Kommunikationsdrang seiner Verlobten. So hoffte er auch jetzt, sie würde merken, daß er noch seine Ruhe brauchte. Aber Lisa Eschenburg ließ nicht locker.

"Warum hast du gelogen, als der Polizist dich nach Nicolai gefragt hat?"

Widerwillig befreite Horst sich aus der Gedankenwelt seines Romans und konzentrierte sich auf Lisa. Er kniff einen Mundwinkel zusammen - das Äußerste, was er am frühen Morgen an Freundlichkeit zustande bekam - und knurrte:

"Journalisten lügen nicht, schützen nur ihre Quellen!"

Aus dem Radio nörgelte nun auch noch Paul, wie zu Lisas Unterstützung:

Were you telling lies (the night before) ?
Was I so unwise (the night before) ?
When I held you near you were so sincere
Treat me like you did the night before

Am Abend vorher hatten sie nicht mehr über die Ereignisse des Tages geredet. Alle waren erleichtert gewesen, als die Polizisten sie endlich in Ruhe gelassen hatten. Allerdings blieb diese Ruhe nur oberflächlich. Seit der dramatischen Entdeckung am Morgen beherrschte eine seltsame Atmosphäre das Haus, eine Mischung aus Anspannung, Beklemmung und Angst. Die Polizisten mit ihren schonungslosen Fragen und dem offen gezeigten Mißtrauen gegenüber den Antworten der Hausbewohner hatten das noch verstärkt.
Horst war schon in den Tagen vorher bei seinen gelegentlichen Stippvisiten aufgefallen, daß reichlich Spannung zwischen den Frauen in der Luft lag. Einiges davon schien sich jetzt zu entladen. Auch Lisa zeigte sich heute morgen noch nervöser als sonst. Sie ließ ihm keine Zeit mehr, sich zu sammeln und seine Gedanken zu ordnen:

"Herr Nicolai ist eine Quelle? Und deshalb darf die Polizei nicht wissen, daß du ihn kennst?"

Horst brummte zustimmend. Dann schob er noch eine Bemerkung hinterher:

"Nicht so ratsam, den zu kennen, wenn die Polizei gerade Mordverdächtige sucht."

"Ach, er ist vorbestraft?"

Horst schüttelte den Kopf.

"Nie erwischt worden, geht aber über Leichen, hört man."

"So gefährlich sieht der gar nicht aus!"

"Ist er aber. Wenn du mich fragst, ich würd ihm schon einen Mord zutrauen. Wenn der Einsatz stimmt."

"Was hat denn dann bloß Onkel Hannes mit so einem zu tun gehabt?"

"Wollte er mir nicht sagen. Ich könnt's rausfinden, in der Bibliothek. Aber die Bullen mußten ja das Zimmer versiegeln. Da liegt 'ne Bombenstory, direkt vor meiner Nase. Und ich kann nicht ran!"

Er steckte sich die zweite Zigarette an der ersten an, und seine Verlobte reagierte mit einem tadelnden Blick. Er wartete darauf, daß sie jetzt wieder "Mußt du denn soviel rauchen?" sagen würde, aber Lisa wedelte diesmal nur mit der Hand und rückte etwas weiter von ihm ab. Dann sagte sie:

"Ich hab das gestern gar nicht so gemerkt, aber die glauben doch tatsächlich, daß es einer von uns gewesen ist."

"Ja, klar. Mich haben sie sogar gefragt, wem ich es eher zutraue, Diana oder Malchen."

"Was hast du geantwortet?"

"Daß Malchen so ein naives Dummchen ist, daß sie nicht mal wüßte, wohin sie stechen soll. Und unsere treudoofe Diana kann doch nicht mal 'ner Fliege was zuleide tun. Nee, da würd ich ja noch eher mich selber verdächtigen."

"Und, warst du's?"

"Sehr witzig!"

"Aber schon komisch, daß Rollo gar nicht gebellt hat, wenn doch ein Fremder ins Haus kommt."

"Ach, dieser dämliche Köter weiß bestimmt selbst nicht mal genau, wann er bellt und wann nicht. Nee, der eigentliche Wachhund hier war ja wohl der Ganter."

"Das nimmt die Polizei gar nicht so ernst, daß der umgebracht worden ist!"

"Sicher! Für die ist es doch einfacher, uns zu verdächtigen. Der tote Ganter paßt da nicht so ins Bild."

Horst klopfte die Asche von seiner Zigarette und stand jetzt langsam auf, um sich anzuziehen. Als er schon mit einem Bein in der Hose war, mußte er grinsen.

"Stell dir das nur mal bildlich vor: Diana dreht dem Ganter den Hals um, während Malchen mit dem Küchenmesser bewaffnet in die Bibliothek schleicht. Zum Brüllen!"

"Du kennst Diana nicht so gut wie ich. Wenn's sein muß, kann die auch mal ganz schön hart sein. Und Malchen ist sowieso eine kleine Hexe. Ich hab mal gedacht, ich kenn sie gut. Aber inzwischen weiß ich gar nicht mehr, wozu sie fähig wäre. Ich glaub, sie ist krankhaft eifersüchtig auf Diana."

"Dann wird sie ja wohl nicht Burckhardt umbringen."

"Vielleicht doch, wenn der sie zurückgewiesen hat."

"Ich versteh dich nicht. Früher hast du immer gesagt, Malchen wär deine Freundin, und jetzt traust du ihr plötzlich einen Mord zu. Einfach so, von heute auf morgen."

"Menschen verändern sich eben. Kannst du natürlich nicht verstehen!"

"Ich versteh nur, daß du langsam durchdrehst. Wenn du Angst vor Malchen hast, was bleibst du dann noch hier? Fahr doch wieder nach Hause."

"Ich kann Diana jetzt nicht alleine lassen!"

"Ach was! Ist sowieso Blödsinn, daß du immer hier rumhängst!"

"Ich bin in allen Ferien hier, weißt du doch genau. Onkel Hannes freut sich immer so, wenn ich komme."

"Na, jetzt nicht mehr!"

Als ob ihr gerade erst klar würde, daß Burckhardt tot war, schlug Lisa ihre Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.

"Wie kannst du nur so gemein sein! Onkel Hannes war fast wie ein Vater zu mir. Anstatt mich zu trösten, machst du auch noch deine Witze. Du Scheusal!"

Sie nahm ein Kissen aus dem Bett und warf es nach Horst, ohne ihn jedoch zu treffen. Der zog ungerührt seinen alten Pullover über, murmelte noch etwas und ging dann ins Badezimmer.

Lisas Tränen flossen noch heftiger als vorher, aber jetzt doch mehr aus Wut. Es war da wohl etwas von dem herausgeplatzt, was sich in der letzten Zeit in ihr angestaut hatte.
Sie blickte auf den leeren Platz neben sich im Bett. Er war übersät mit Tabakkrümeln und Ascheflecken. Angewidert verzog sie das Gesicht. Dieses ewige Rauchen im Bett ärgerte sie jedesmal. Dabei war das nur eine seiner lästigen Angewohnheiten. Im Laufe der letzten beiden Jahre war es immer mehr geworden, was sie an ihm störte. Für sich genommen waren das meiste nur Kleinigkeiten, bei denen es sich nicht lohnte, deswegen einen Streit anzufangen. Vieles davon nahm sie auch gar nicht mehr bewußt wahr. Doch alles zusammen führte bei ihr schon seit langem zu einem ständig wachsenden unterschwelligen Unwohlsein.
Und dann gab es da noch die größeren Dinge, wie seine Unehrlichkeit: die kleinen Ausflüchte, Notlügen, Verschönerungen der Wahrheit.
Am schlimmsten aber war, wie er immer über andere sprach, wenn die nicht da waren. An das "naive Dummchen" zum Beispiel würde er später wieder seinen Charme versprühen, und auch Diana behandelte er manchmal wie eine Schönheitskönigin, nur um sich dann hinterher darüber lustig zu machen, wie sie reagiert hatte. Er zeigte im Umgang mit allen Menschen immer mindestens zwei Gesichter, so daß sich Lisa schon oft gefragt hatte, ob er wohl zu ihr noch wirklich ehrlich war. Redete er vielleicht auch hinter ihrem Rücken schon mit anderen über sie? Sie war sich da nicht mehr so sicher.
War das überhaupt noch der Mann, den sie einmal geliebt hatte? Es fiel ihr immer schwerer, noch ernsthaft mit ihm zu reden. Über alles und jedes mußte er seine Witze machen! Nichts war ihm heilig! Auch nicht der Tod. Ihr Onkel war gestorben! Und sie hatte nicht mit Horst darüber reden können, was das für sie bedeutete. Es interessierte ihn auch gar nicht. Er hatte ja schon wieder eine "Bombenstory" im Kopf.
Sie stand auf und schüttelte die Betten aus. Aber anstatt sie dann ordentlich aufs Bett zu legen, ließ sie alles einfach auf den Boden fallen. Nachdenklich ging sie zum Fenster und sah hinaus. Draußen auf dem Hof lief Rollo ziemlich verloren umher. Sie beobachtete ihn eine Weile und fühlte sich schließlich genauso einsam wie er.



Rollo trabte mißmutig vom Schuppen zu seiner Hütte. Dann durch das Rübenfeld und wieder zurück zum Schuppen. Er wußte nichts Rechtes mit sich anzufangen. Heute mußte einer dieser Tage sein, an denen nicht einmal der Briefträger kam. Auch sein alter Feind, der Ganter, war nirgends zu sehen. Doch Rollo wußte, daß der sich heute nicht versteckt hatte, um ihm aufzulauern. Er hatte sich für immer davongemacht.
Sollte er nicht eigentlich froh darüber sein, daß er endlich der unumstrittene Herrscher des Grundstücks war? Aber er war nicht froh, sondern verwirrt. So war der Hof nicht mehr derselbe, würde es nie wieder werden. Es fehlte etwas.
Nicht nur der Ganter blieb verschwunden, auch der Alte war weg. Auch hier fühlte Rollo ganz sicher, daß er nicht wiederkommen würde. Genau wie der Ganter war der Alte nicht sein Freund gewesen. Und trotzdem vermißte er ihn. Immerhin hatte der ihm sein Futter gegeben, wenn sein Lieblingsmensch einmal keine Zeit gehabt hatte. Wer würde das jetzt tun? Die Andere etwa? Die war bis jetzt nur böse gewesen und hatte ihn beschimpft und verjagt, wann immer er in ihre Nähe gekommen war. Von der hatte er nichts zu erwarten. Vielleicht würde ja auch ein neuer Mensch den Platz des Alten einnehmen. Wenn er Glück hatte, so-gar ein freundlicher. Gestern hatten sich schon viele auf dem Grundstück herumgetrieben, und er hatte sie nicht verjagen dürfen. Diese fremden Gerüche lagen auch jetzt noch über dem Hof. Ihre Spuren führten kreuz und quer. Es war verwirrend.
Rollo tat, was er immer machte, wenn er durcheinander war. Er lief zum alten Gartenhaus. Dort lag sein Rückzugsposten. Von da aus konnte man das ganze Grundstück überblicken und wurde selbst nicht gesehen. Es war der beste Platz, um sich zu verstecken, wenn Ärger aus dem Haus drohte. Wenn er gebadet werden mußte oder zum Tierarzt sollte. Außerdem hatte er hier seine Schätze versteckt: wertvolle Knochen, die er im Rübenfeld ausgebuddelt hatte, ein Stückchen einer Postuniform, das einmal nicht schnell genug gewesen war, und seine Stoffkatze, die immer noch den vagen Geruch seines Lieblingsmenschen trug.
Das Gartenhaus bedeutete für ihn Sicherheit und Ruhe. Doch als er jetzt näher kam, bemerkte er erschreckt, daß sich auch hier etwas verändert hatte. Zwei fremde Gerüche schlugen ihm entgegen. Sie gehörten nicht zu denen, die seit gestern überall auf dem Hof zu riechen waren. Aber sie kamen von Menschen, die er kannte. Vorsichtig schlich er näher, immer auf der Hut. Er wußte, mit dem einen dieser Menschen ließ sich nicht spaßen. Behutsam schob er seinen Kopf durch die Tür und sah ins Haus. Es war niemand da. Hier drin wurde der Geruch noch stärker, und das Haus war durchwühlt worden. Besorgt lief er sofort zu seinem Versteck. Zum Glück lagen seine Schätze noch unberührt an ihrem Platz. Die hatte der Böse jedenfalls nicht gefunden. Doch was wollte der hier? Er gehörte hier nicht her! War früher noch nie hier gewesen! Sollte das eine Reviermarkierung sein? Wollte der Böse ihn aus seinem Schlupfwinkel vertreiben? Noch verwirrter als vorher lief Rollo zum Haus zurück.
Von der Stadt her zogen immer mehr dunkle Wolken heran. Regen lag in der Luft.
Jetzt gab es nur noch eine sichere Zuflucht: seinen Lieblingsmenschen.
Er stellte sich an die Eßzimmertür und bellte.
Aus einem Fenster von oben mischte sich traurige Musik dazwischen:

Here I stand with head in hand
Turn my face to the wall
If she's gone I can't go on
Feeling two foot small



Diana Burckhardt stand auf der anderen Seite der Tür und blickte nach draußen. Das trübe Wetter paßte gut zu ihrer Stimmung. Sie war wie betäubt. Am Abend vorher, nachdem die Polizei endlich gegangen war, hatten sie alle noch zusammen gesessen. Doch es war ein stilles Beisammensein gewesen. Keiner hatte sich getraut, es auszusprechen. Aber die Polizisten hatten keinen Zweifel daran gelassen: Es wurde ein Mörder gesucht, und sie suchten ihn hier, bei ihnen! Sie sah auf Rollo. Spürte er auch den schrecklichen Verdacht, der über dem Haus lag? Er kam ihr genauso durcheinander vor wie alles andere. Seit gestern war hier nichts mehr so wie früher.
Ihr Vater war tot! Diese Erfahrung hatte sie nun auch gemacht.
Sie wunderte sich, daß sie gar nicht traurig war. Doch dann fiel ihr wieder ein, wie dieses Gefühl gestern, nach dem ersten Schrecken, gedroht hatte, alles zu überschwemmen. Und sie hatte sich ganz einfach dagegen wehren müssen, hatte sich abgeschottet, um nicht unterzugehen. Auch heute war die Trauer noch da, lag aber verborgen, tief unten in ihr, und Diana traute sich nicht, genauer hinzusehen.
Neben der Trauer, die nicht zu spüren war, vermißte sie auch noch ein anderes Gefühl, das eigentlich da sein sollte: Erleichterung. Schließlich war sie jetzt frei! Sie konnte endlich anfangen, richtig zu leben, tun, was sie schon immer tun wollte. Niemand würde mehr über ihren Kopf hinweg bestimmen, niemand sie demütigen oder erpressen. Denn es war niemand mehr da, der das tun konnte. Niemand mehr da ...
Das war es, was Diana deutlich fühlte. Es war die Abwesenheit von etwas. Eine Last war von ihrer Schulter genommen worden. Aber sie war nicht erleichtert. In den ganzen Jahren hatte sie sich daran gewöhnt, diese Last zu tragen, so daß sie schon gar nicht mehr ohne ihr Gewicht gehen konnte. Deshalb hatte sie seit gestern ständig das Gefühl zu taumeln. Der Gegendruck, den sie gebraucht hatte um zu überleben, stieß jetzt ins Leere und machte sie orientierungslos.
Diana spürte diese Leere nicht nur auf ihren Schultern, sondern auch in ihrem Innern. Es war, als wäre ein Stück aus ihr herausgerissen worden und hätte ein großes Loch in ihrem Bauch zurückgelassen. Dieses Loch begann sich nun mit etwas zu füllen, das schlimmer war als Angst, es war Panik. Sie wollte diese Panik loswerden, alles herausschreien, so laut wie Rollo bellte, aber sie war unfähig dazu.
Sie mußte versuchen, das Gefühl zu unterdrücken. Sie mußte beherrscht sein wie immer. Genau wie schon gestern. Da war es Diana gewesen, die die Polizei gerufen hatte. Sie hatte die ersten Auskünfte gegeben, die Beamten durchs Haus geführt und versorgt. Malchen war nur hysterisch gewesen. Lisa hatte geweint. Nur sie war stark geblieben. Wie immer. Wie jetzt.

"Hat dieses Gekläffe auch mal ein Ende?"

Malchen war ins Zimmer gekommen. Diana drehte sich herum, um ihr die passende Antwort zu geben. Aber dann schluckte sie die Worte, die ihr schon auf der Zunge lagen, wieder herunter und redete stattdessen auf Rollo ein.

"Ruhig, Rollo, ruhig! Wird schon alles wieder gut."

Rollo reagierte sofort und legte sich, immer noch leise zitternd, auf die Türschwelle. Malchen war nicht so leicht zu beruhigen:

"Immer dieser Radau! Auch gestern. Man muß sich ja schämen! Sogar den netten Herrn Schneider hat er erschreckt und seinen Freund. Hast du das gesehen?"

"Ja, aber da war noch ein anderer Mann vor der Tür gestern, den hat Rollo sofort gemocht. Hast du das auch gesehen?"

"Und ob! Ein völlig Fremder! Da geht er natürlich sofort schwanzwedelnd hin und leckt ihm die Hand. Ein seltsames Tier! Und Herrn Nicolai muß er jedesmal wieder anbellen. Warum bloß?"

"Ach, das kann ich gut verstehen. Mir ist dieser Bursche auch nicht geheuer. Wer weiß, auf welche dunklen Geschäfte sich Vater da eingelassen hat. Vielleicht hat ihn das ja auch das Leben gekostet."

"Du willst doch jetzt nicht etwa Herrn Nicolai verdächtigen?"

"Verdächtig war mir der immer schon."

"Quatsch! Den sollten wir uns warm halten. Dann macht er sein Geschäft ja vielleicht mit uns. Wir müssen schließlich auch an unsere Zukunft denken!"

"Ich mache mit Nicolai keine Geschäfte! Der kommt mir nicht mehr ins Haus! Wenn ich nur daran denke, wie teuflisch er immer grinst, läuft's mir kalt den Rücken herunter."

"Er grinst nicht, er lächelt. Würd dir auch ganz gut stehen, mal ein bißchen freundlicher zu sein. Ich meine -"

"Du hast hier gar nichts zu meinen!"

"Das hab ich mir gedacht! Daß du dich jetzt erst so richtig als Herrin aufspielst. Aber warte mal ab, Lisa ist ja auch noch da, und die sagt, ich würde vielleicht auch was erben. Oder kennst du schon das Testament von Onkel Hannes?"

"Testament! Erbe! Geschäft! Du hast nur Geld im Kopf! Tut es dir denn gar nicht leid, daß Vater gestorben ist?"

"Natürlich tut mir das leid. Vielleicht mehr als dir! Aber Onkel Hannes war alt und mußte sowieso bald sterben. Und ich bin jung und hab mein Leben noch vor mir."

"Ich! mir! mein! Ewig denkst du nur an dich! Hast du immer schon gemacht. Du hast Hannes nie wirklich gemocht."

"Ach, gibst du jetzt die trauernde Tochter? Wer hat denn immer über ihn gemeckert? Wer hat sich denn pausenlos beklagt? Hast du dir nicht schon oft gewünscht, ihn endlich vom Hals zu haben? Wolltest du nicht frei sein? Sei froh! Das bist du ja jetzt!"

Diana erbleichte. Mühsam rang sie nach Worten:

"Ich - ich bin - ich bin nicht froh! Ich hab ihn doch geliebt! Er war mein Vater!"

"Onkel Hannes wußte schon, wer ihn wirklich geliebt hat. Das wirst du merken, wenn wir erst das Testament zu sehen kriegen."

"Das Testament kannst du dir sonstwo hinstecken. Ich werde -"

Sie wurde von der Türklingel übertönt.
Als ob beide dankbar für diese Unterbrechung waren, liefen sie gemeinsam nach vorne und blickten hinaus. Draußen stand jemand, den sie hier schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Es war der einzige Nachbar, den es in ihrer Abgeschiedenheit gab, wenn man überhaupt jemanden Nachbar nennen konnte, der eine Viertelstunde Fußweg entfernt wohnte. Früher hatte es Zeiten gegeben, in denen Gustav von Kleist beinahe täglich im Haus gewesen war, doch jetzt überraschte es beide Frauen gleichermaßen, daß er vor der Tür stand. Malchen ließ ihn herein:

"Herr Kleist! Das ist aber nett, daß sie vorbeischauen!"

Kleist ging an Malchen vorbei in die Halle und wandte sich direkt an Diana:

"Diana, es tut mir ja so leid. Was mußt du nur durchmachen!"

Sein markantes Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, das Ergebnis seiner Bemühungen, Trauer, Mitleid und Wiedersehensfreude gleichzeitig auszudrücken. Diana nahm die ausgestreckte Hand, und Kleist legte seinen freien Arm um ihre Schulter und geleitete sie ins Wohnzimmer. Seine Bewegungen waren erstaunlich geschmeidig für sein Alter. Aber Malchen, die den beiden nachschaute, fragte sich doch, ob seine Haare wirklich noch so schwarz waren, oder ob er da schon etwas nachgeholfen hatte.
Gustav von Kleist hatte sie an der Tür stehen lassen wie einen Dienstboten. Empört über diese Behandlung, ging sie jetzt hinterher und kam noch rechtzeitig genug ins Zimmer, um zu sehen, wie Kleist Diana einen Sessel zurechtrückte und ihr hineinhalf. Das war ihr dann doch etwas zu viel an Aufmerksamkeit für die Ältere.

"Diana ist doch nicht krank, Herr Kleist! Sie kann ganz gut alleine gehen!"

Kleist ignorierte sie und richtete auch seine nächsten Worte wieder nur an Diana:

"Du sollst wissen, daß ich bereit stehe, wenn ihr tatkräftige Hilfe braucht. Es gibt jetzt sicher einiges zu tun, was für Frauen doch eher schwer ist."

Bevor ihm Diana dafür danken konnte, redete Malchen schon wieder dazwischen:

"Haben Sie nicht mal gesagt, daß Sie dieses Haus nie wieder betreten werden?"

"Man muß auch Vergangenes ruhen lassen können."

Kleist hatte sich kurz zu Malchen gedreht, um ihr einen Blick voller Mißbilligung zukommen zu lassen, aber dann sprach er schon wieder zu Diana:

"Du weißt bestimmt, daß sich dein Vater damals reichlich unwürdig benommen hat, aber das ist lange vergessen."

"Onkel Hannes hat uns nie erzählt, warum ihr euch so gestritten habt!"

"Mißverständnisse, nur Mißverständnisse! Das zählt jetzt ja auch nicht mehr.
Ihr mußtet euch wohl gestern noch lange mit der Polizei herumärgern?"

"Ja, denk nur, sie haben hier alles auf den Kopf gestellt, und dann mußten wir endlos Fragen beantworten. Sogar Fingerspuren von uns haben sie gemacht!"

"Nein, wie furchtbar! Haben sie denn etwas entdeckt?"

"Wieso, was sollten sie denn entdecken?"

"Ach nichts, ich dachte nur.
Aber sag mal, die durchwühlen hier das ganze Haus? Haben sie denn nicht draußen nach Spuren gesucht?"

"Doch, haben sie auch gemacht. Aber nicht so richtig. Die glauben nämlich nicht, daß ein Fremder ins Haus gekommen ist."

"Was? Die denken doch nicht etwa ..."

"Doch! Genau das! Daß es einer von uns gewesen ist. Das denken die!"

"Das ist doch die Höhe! Euch zu verdächtigen! Nein!
Wenn die Polizisten wiederkommen, ruf mich an. Ich weiß, wie man mit denen umspringt. Die sollen keine wehrlosen Frauen mehr quälen! Nicht, wenn ich es verhindern kann.
Solche Dummköpfe, euch zu verdächtigen! Dabei gibt es ja wohl genug Leute, die da in Frage kommen. Entschuldige, Diana, aber der alte Johann hatte leider ziemlich viele Feinde."

"Ach, das ist doch alles schon so lange her. Aber dieser Herr Nicolai geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich denke immer, er schleicht da draußen noch rum."

"Wenn ihr euch hier nicht sicher fühlt, dann kommt doch einfach mit zu mir. In meinem Gasthof sind immer Zimmer für euch frei. Dann könnte ich auch ein bißchen für dich sorgen. Das muß ja alles unerträglich gewesen sein. Erst der Schmerz über den Verlust, und dann auch noch diese Plagegeister von der Polizei. Und du bist ja jetzt für alles verantwortlich."

"Ja, das stimmt. Ist alles ein bißchen viel im Moment."

"Du mußt achtgeben, daß du dich bisweilen auch ein wenig ausruhst. Jetzt schenk ich dir erst mal einen Sherry ein. Der wird dir guttun."

Bevor Diana protestieren konnte, war Kleist schon zur Schrankwand gegangen und hatte die Bar geöffnet. Er füllte zwei Gläser, brachte eins zu Diana und behielt das andere selbst in der Hand. Dann ging er noch einmal zurück und schaltete das Radio ein. Leise sang John:

It's only love and that is all
Why should I feel the way I do
It's only love and that is all
But it's so hard loving you

Diana nippte an ihrem Sherry. Zum ersten Mal seit gestern gelang es ihr, sich ein wenig zu entspannen. Es tat ihr gut, daß endlich einmal jemand etwas Mitgefühl für sie hatte. Dankbar sah sie Kleist an. Der schien jetzt vollkommen in der Rolle des ritterlichen Herrn aufzugehen.

"Weißt du, Diana, ich sollte das jetzt vielleicht nicht sagen, aber dieses schwarze Kleid steht dir ausgesprochen gut. Es betont das Damenhafte an dir, das ich immer schon so geschätzt habe."

Diana errötete leicht und blickte verlegen auf ihr Glas.
Malchen wollte sich gerne über das alberne Getue der beiden amüsieren, aber es gelang ihr nicht. Ein brennender Ärger hatte sich in ihrem Magen festgefressen. Sie wollte gehen, aber auch das konnte sie nicht. Stattdessen mußte sie mitanhören, wie Kleist jetzt auch noch anbot, seinen Gasthof für die Trauerfeier zur Verfügung zu stellen. Da platzte es aus ihr heraus:

"Das können wir doch nicht machen, Diana! Onkel Hannes würde sich ja im Grab umdrehen!"

Kleist bedachte sie mit einem Seitenblick wie für ein vorlautes Kind, redete aber weiter mit Diana:

"Das hat ja auch noch Zeit.
Diana, was hältst du davon, einen kleinen Gang mit mir zu machen? Ich müßte sowieso mal einen Blick auf meinen Bach werfen. Mein Junge will da so ein neues Bewässerungssystem bauen. Da braucht er meinen Rat."

Wieder konnte Malchen den Mund nicht halten:

"Der Bach ist ja wohl noch auf unserem Grundstück!"

"Ja? Ist ja auch nicht so wichtig. Aber gucken muß ich doch mal."

Diana sagte: "Das geht am besten am alten Gartenhaus. Von da aus kannst du den Bach gut sehen."

"Ach, das gibt's noch? Ich dachte, das hättet ihr längst abgerissen.
Was ist jetzt? Gehen wir?"

"Ich weiß nicht, ob ich mit soll. Ich hab ein bißchen Angst rauszugehen."

"Ach, solange ich bei dir bin, kann dir nichts passieren. Der Mörder soll nur kommen! Ich werd ihm schon heimleuchten!"

Er bot Diana seinen Arm an und ging dann untergehakt mit ihr nach draußen.

"Benehmen sich wie ein Liebespaar, die beiden. Richtig affig!" murmelte Malchen halblaut vor sich hin.
Auf dem Tisch standen die beiden Sherrygläser. Wenn Diana dachte, daß jemand hinter ihr herräumen würde, hatte sie sich geschnitten. Im Gegenteil! Trotzig ging Malchen zur Bar, drehte die Musik lauter und goß sich selbst ein Glas ein. Sie hatte nicht auf das Etikett geachtet, aber es mußte wohl etwas anderes als Sherry gewesen sein. Denn als sie die Flüssigkeit mit einem Schluck herunterkippte, brannte es in ihrer Kehle wie Feuer. Sie schüttelte sich, aber das Brennen ließ nicht nach. Es breitete sich in ihrem Bauch aus.
Kleist hatte sie wie ein kleines Kind behandelt, das man links liegenlassen konnte! Sein ganzes Interesse hatte sich auf Diana beschränkt, mit ihr war er umgegangen wie mit einer Gleichgestellten. Um sie herumgetändelt hatte er, als ob Diana eine große Dame wäre! Und dann war er auch noch mit ihr spazieren gegangen. Malchen mochte sich gar nicht ausmalen, was die beiden da jetzt im Gartenhaus tun würden. Der Gedanke daran verzog ihr das Gesicht. Wenn sie sich selbst im Spiegel hätte sehen können, wäre sie sicher erschrocken gewesen.
Amalia setzte sich in einen der Sessel, das leere Glas noch immer fest in der Hand. Das Aufheben, das Kleist um Diana machte, würde sicher nicht dazu beitragen, die von ihrem hohen Roß zu bekommen. Malchen hatte sowieso schon befürchtet, daß es nach Burckhardts Tod noch schwerer werden würde, mit 'Lady Di' auszukommen. Aber unter diesem Regiment würde sie nicht mehr leiden! Dann schon lieber weggehen! Auch ohne Geld! Der Gedanke an ihre Zukunft machte ihr Angst. Oft hatte sie damit gespielt wegzugehen. Aber jetzt könnte es ernst werden. Was sollte dann aus ihr werden? Ohne Geld.
Aber vielleicht hatte ja Lisa recht, und Onkel Hannes würde ihr wirklich etwas vererben. Sie beschloß, noch mal mit ihr darüber zu reden. Wenn man mit ihr reden konnte. In der letzten Zeit war das immer schwerer geworden. Lisa war nicht mehr die Freundin von früher, war mehr zu einem Stadtmenschen geworden und hielt sich inzwischen auch für etwas Besseres. Diana hatte Malchen ja schon immer wie eine Untergebene behandelt, aber Lisa hatte sonst zu ihr gehalten und ihr gegen die Ältere geholfen. Sie fühlte sich von Lisa im Stich gelassen.
Warum konnte es nicht mehr so sein wie damals? Da waren alle für sie da gewesen: ihre Eltern und Onkel Hannes, wenn die Zeit hatten, und Diana, wenn die Erwachsenen arbeiten mußten. Später war dann auch noch Lisa dazugekommen und zu ihrer vertrauten Freundin geworden. Doch das war lange her. Inzwischen hatten sie längst alle verlassen. Nacheinander waren sie gegangen.
Und nun auch noch Onkel Hannes. Malchen war wütend. Wie konnte er sie nur hier mit der herrschsüchtigen Diana alleine lassen? Warum war er einfach gestorben wie ihre Eltern? Wen hatte sie denn jetzt noch, wenn Rat und Hilfe nötig waren? Als Paul jetzt auch noch "Yesterday" sang, mußte sie gegen ihre Tränen ankämpfen.

Yesterday all my troubles seemed so far away
Now it looks as though they're here to stay
Oh, I believe in yesterday

Lisa betrat den Raum.

"War das etwa Herr Kleist, mit dem Diana weggegangen ist?"

"Ja, jahrelang hat er sich nicht hergetraut. Aber kaum ist Onkel Hannes tot, da taucht er schon wieder auf und ist auch gleich hinter Diana her."

"Na, Diana hat ja Nerven! Hier geht alles drunter und drüber, und sie geht gemütlich spazieren!"

"Laß bloß Diana zufrieden! Die hat jetzt ganz schön was auszuhalten. Ein bißchen Abwechslung tut ihr bestimmt gut."

Lisa staunte, daß Malchen sich plötzlich für Diana einsetzte, und wurde etwas kleinlauter:

"Wo sind sie denn hingegangen?"

"Zum Gartenhaus. Herr Kleist muß nachsehen, ob der Bach noch da ist. Wenn der mal nicht ganz andere Pläne hat."

"Wieso?"

"Na, du hättest mal sehen sollen, wie der sich hier aufgeführt hat: 'Diana hier' und 'Diana da', 'ach du Arme' und 'was für ein schönes Kleid'. Richtig widerlich!"

"Na und? Die zwei kennen sich doch noch gut von früher."

"Ne, ne, es geht ihm gar nicht um Diana. Der will was von ihr, was er hier nicht kriegen konnte, als Onkel Hannes noch da war. Der hätte ihn schon vom Hof gejagt!"

"Was soll das denn sein?"

"Weiß ich auch nicht. Aber findest du's nicht seltsam, daß er hier so postwendend erscheint? Als ob er nur auf den Mord gewartet hätte."

"Doch. - Aber vielleicht hat er ja gar nicht gewartet?"

"Kleist traue ich alles zu. Der hat damals ganz fürchterliche Drohungen ausgestoßen. Da hatte ich schon Angst um Onkel Hannes."

"Worum ging's denn bei dem Streit eigentlich?"

"Da muß irgendwas mit ihren krummen Geschäften gewesen sein."

"Krumme Geschäfte? Onkel Hannes? Das glaub ich nicht."

"Du bist vielleicht naiv! Frag doch mal die Bauern hier in der Gegend. Dann wirst du schon sehen, daß der Onkel kein Heiliger war, und Kleist ja sowieso nicht."

Lisas wollte erneut widersprechen, aber da wurde sie von einem Knarren abgelenkt. Es kam von der Tür zur Bibliothek, die sich langsam bewegte. Es konnte doch keiner in dem Zimmer sein! Horst rumorte noch oben und Diana und Kleist waren draußen!
Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte Lisa zur Tür. Die öffnete sich weiter, doch es war niemand zu sehen, der sie bewegte. Als die Anspannung immer größer wurde, begann Malchen plötzlich schallend zu lachen. Das brachte Lisa jetzt völlig aus der Fassung. Sie dachte: "Nu ist sie durchgeknallt."
Aber Malchen war gar nicht durchgedreht. Sie hatte nur früher als Lisa gesehen, wer da ins Zimmer kam: Rollos Kopf erschien hinter der Tür.
Er war unsicher, ob er diesen Aufruhr erzeugt hatte, und blieb deshalb vorsichtshalber erst einmal abwartend stehen.

"Erschrickst du auch schon vor Staubwedeln?"

Vor lauter Lachen konnte man Malchens Worte kaum verstehen. Lisa schämte sich für ihre Ängstlichkeit. Deshalb bemühte sie sich sofort, das Gespräch wieder aufzunehmen:

"Was war denn jetzt mit dem Streit?"

"Da hat wohl einer von beiden probiert, auch noch seinen Partner auszutricksen. Hoffentlich erzählt Herr Kleist nichts davon der Polizei. Das wär nicht so schön für uns."

"Ich kann mir das gar nicht vorstellen, was da gewesen sein soll."

"Dann frag doch mal Horst, der weiß so ziemlich Bescheid. Er hat auch gesagt, wir sollen bloß aufpassen, ..."

"Was hast du denn schon wieder mit Horst zu schaffen?"

"Ich wollte mal seine Meinung wissen. Außerdem hat ihn das sehr interessiert. Er hat mich lauter Sachen gefragt, die ich gar nicht verstanden hab."

"Na, wenn du glaubst, da muß was geheim gehalten werden, dann bist du ja bei Horst an der richtigen Adresse. Bestimmt kannst du die Geschichte bald in der Zeitung lesen. Aber sei ganz ruhig. Dein Name wird nicht genannt, er schützt nämlich seine Quellen."

"Du spinnst ja!"

"Wenn du meinst. Ich bin jetzt nicht in der Stimmung, mit dir zu streiten. Heute nicht!"

"Ach, mußt wohl um deinen geliebten Onkel trauern, was? Warum denkt ihr nur alle, daß ich nicht traurig bin? Ich bin auch traurig! Ich kann es mir nur nicht leisten, damit hausieren zu gehen, so wie ihr das macht! Das ist ja alles so erbärmlich!"

Malchen hatte sich aus ihrem Sessel erhoben und zunehmend lauter gesprochen. Zuletzt knallte sie ihr Glas, das sie die ganze Zeit noch in der Hand gehalten hatte, auf die Tischplatte und ging überstürzt hinaus.
Lisa glaubte sogar, Tränen in ihren Augen gesehen zu haben. Dieser ganze Gefühlsaus-bruch war ihr rätselhaft. Etwas irritiert wollte sie die Gläser einsammeln, um sie in die Küche zu tragen. Zwei hatte sie schon in der Hand, und sie beugte sich gerade über den Tisch, um das dritte zu greifen, als die Tür, die Malchen zugeschlagen hatte, wieder geöffnet wurde. Aus dem Augenwinkel sah sie eine große, schwarze Gestalt ins Zimmer kommen, die auch noch etwas zu ihr sagte. Lisa bekam einen heillosen Schrecken, denn sie erkannte in der Gestalt Johann Burckhardt wieder! Die Gläser flogen im hohen Bogen über den Tisch.
"Er hat uns beobachtet!" sagte die Gestalt, und Lisa bemerkte mit großer Erleichterung, daß sie sich geirrt hatte. Es war natürlich nicht Burckhardt, der gekommen war, sondern Diana. Die Ähnlichkeit der Cousine mit ihrem Vater war Lisa noch nie so aufgefallen. Als Diana jetzt weitersprach, wurde dieser Eindruck aber noch verstärkt. Es schien, als hätte sie seit gestern auch noch seine Art zu reden angenommen.
Diana sah, daß ihre Cousine offenbar nicht richtig zugehört hatte. Deshalb wiederholte sie noch einmal:

"Er hat uns beobachtet! Aus dem Gartenhaus!"

"Wer denn?"

"Na, der Mörder doch! Das ganze Gartenhaus ist durchwühlt worden. Stell dir vor, er hat da auf der Lauer gelegen und uns beobachtet. Wie grauselig!"

Lisa begriff erst jetzt, was Diana da sagte.

"Du meinst, der Mörder war im Gartenhaus und hat gewartet, bis wir alle schlafen gegangen sind, und dann ..."

"Ja! Ja! So war das!
Gustav meint, irgendein Fremder könnte das gewesen sein. Aber der muß doch das Gartenhaus gekannt haben.
Wie Herr Nicolai. Der war mit Vater einmal da, das weiß ich."

"Na, wir kennen das Gartenhaus ja auch alle, oder? Malchen hat zum Beispiel -"

"Laß Malchen aus dem Spiel! Die hat nichts damit zu tun!"

"Aber wieso? Es könnte doch -"

"Nein! Könnte es nicht! Du spinnst wohl vollkommen! Malchen ist genauso unschuldig wie ich."

"Ich wollte doch nur ..."

"Du wolltest nur Zwietracht säen zwischen uns. Aber das wird dir nicht gelingen. Wir halten nämlich zusammen, wenn's drauf ankommt."

"Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst. Ich hab doch überhaupt nichts gesagt."

"Das ist auch besser so. Ich weiß sowieso nicht, was du immer hier willst. Wir brauchen dich nicht!"

Beleidigt stand Lisa auf und wollte mit den Resten der Gläser in die Küche gehen. An der Tür stieß sie beinahe mit Amalia zusammen. Die kam kreidebleich ins Zimmer gelaufen und rief:

"Der Mörder! Der Mörder! Ich hab ihn gesehen!
Im Gartenhaus! Ruft die Polizei!"




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