Blutbad im Kopf
Die allmontägliche Kolumne für die ganze Familie

Klassengesellschaft

Heute bin ich nach längerer Zeit mal wieder mit der S-Bahn gefahren. Wie üblich war die Bahn unangenehm überfüllt. Alle Abteile waren voller Menschen. Alle Abteile? Nein. Ein einzelnes unbeugsames Abteil war fast völlig verwaist. Die 1. Klasse.

Es stellt sich dem Unbedarften nun folgende Frage: Wenn die S-Bahnen schon in so unschönem Maße ausgelastet sind, warum blockiert man dann einen ganzen Waggon komplett für einen Großteil der Fahrgäste? Hat sich diese Unterteilung, die früher einmal vielleicht noch irgendeine Art von Sinn hatte, nicht mittlerweile vollkommen überlebt? Ich kann mir gut vorstellen, daß ein nicht unerheblicher Anteil von Passagieren gar nicht weiß, wie man an ein 1.-Klasse-Ticket kommt. Und aus welchem Grund nun gerade dieser Wagen erstklassig ist, bleibt auch völlig schleierhaft. Ich sehe in dem 1.-Klasse-Waggon keinen Champagnerausschank oder wenigstens gutaussehende Masseusen. Wo man in Flugzeugen oder Langstreckenzügen den Unterschied zum Beispiel durch größere Beinfreiheit oder (manchmal) bequemere Sitzmöbel zu spüren bekommt, konstituiert sich die 1. Klasse in S-Bahnen (oder Nahverkehrszügen) lediglich semantisch. Erste Klasse ist das, wo Erste Klasse draufsteht.

Ist man erst einmal auf dieses offensichtliche Problem gestoßen, bleibt eigentlich nur ein einziger Grund für das Fortbestehen dieser Abteile: Es gibt den Gutbetuchten eine Reisemöglichkeit, bei der sie nicht vom billigen Pöbel belästigt werden. Mal ganz davon abgesehen, daß der Unterschied zwischen Gutebtuchtem und Pöbel durch den Kauf eines Zusatztickets im Wert von nicht einmal zwei Euro aufgehoben werden kann, was ihn nicht besonders deutlich hervorstechen läßt, gibt es ein viel gravierenderes Problem damit. Er teilt Menschen in zwei Klassen ein, von denen eine weniger wert ist als die andere. Wenn das der einzige Nutzen der 1.-Klasse-Abteile ist - und durch reines Nachdenken erschließt sich mir kein anderer - dann sollte man sie schleunigst abschaffen. Wenn schon nicht mehr Züge fahren können, um dem öffentlichen Personennahverkehr ein freundlicheres Gesicht zu geben, wird durch die Abschaffung der ersten Klasse wenigstens die Fahrt in den Zügen, die fahren, erträglicher.


[Kreetrapper - 06.06.2005]