Der Vermesser
Autor: | Clare Clark |
---|---|
Titel: | Der Vermesser |
Originaltitel: | The Great Stink |
Übersetzung: | Bernhard Jendricke, Rita Seuß |
Verlag: | Hoffmann & Kampe |
Erscheinungsjahr: | 2005 |
Umfang: | 416 Seiten |
Preis: | € 19,95 |
Es gibt Zeiten, zu denen ich nicht unbedingt gelebt haben möchte und es gibt Orte, an denen ich nicht unbedingt leben möchte. Außerdem gibt es Zeiten, an denen ich an bestimmten Orten nicht gelebt haben möchte. Nach der Lektüre dieses Romans hat sich London Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts in diese Liste eingereiht. In dieser Zeit stieg die Einwohnerzahl von ca. 1.000.000 auf ca. 2.650.000 Menschen (Wikipedia). Durchaus angemessen für die Hauptstadt des britischen Imperiums unter Königin Viktoria, mag man denken. Es ist aber zu beachten, dass die Engländer ca. 1800 Jahre gebraucht haben, um die erste Million zu erreichen, für die nächste Million jedoch nur 50 Jahre. Deswegen gab es leider für diese Masse an Menschen keine angemessene Kanalisation, um die Abfälle und Fäkalien abzutransportieren. Stattdessen wurde alles wie in den vergangenen Jahrhunderten in die Themse geleitet. Da Flüsse nur ein begrenztes Auffangvermögen haben und diverse Faktoren wie Ebbe und Flut, Sonneneinstrahlungen und auflandiger Wind den Wasserstand und die Strömungsgeschwindigkeit beeinflussen, verwandelte sich die Themse in eine riesige Kloake. Nachdem 1853-54 10738 Einwohner durch die Cholera umkamen, folgte 1858 ein besonders heißer Sommer. Alle, die in der Nähe der Themse wohnten oder arbeiteten, wurden durch den großen Gestank überwältigt (daraus leitet sich auch der Titel des englischen Originals ab: "The Great Stink"), einschließlich der Parlamentarier im House of Parliament. Da nun auch die Oberschicht betroffen war, wurde der Ingenieur Joseph Bazalgette (1819 - 1891) beauftragt, eine neue Kanalisation zu bauen.
Einer seiner Angestellten ist William May, ein Vermesser, um dessen Job ich als studierter Vermessungsingenieur ihn nicht beneide. Er muss nämlich hinabsteigen in den stinkenden Untergrund, die vorhandenen Kanäle inspizieren und Pläne davon anlegen. Ihm macht es nicht soviel aus, hat er doch im Krim-Krieg Schlimmeres erlebt und gesehen. Im Gegenteil, dort unten findet er die Ruhe und Ungestörtheit, die es ihm ermöglicht seinem fast unstillbarem Verlangen nach Selbstverstümmelung nachzugehen, dass ihn seit dem Krieg plagt. Irgendwann geschieht ein Mord in der Kanalisation und William, sowieso durch seine Zurückgezogenheit von allen anderen schief angesehen, gerät in Verdacht. Von diesem Verdacht kann ihn nur der langarmige Tom reinwaschen, der seinen Lebensunterhalt damit bestreitet, in den Kanälen Ratten für illegale Kämpfe (Hund gegen Ratten) zu fangen. Dieser verstrickt sich in eine Geschichte, die er ganz anders geplant hatte. Er wird vom ominösen Captain um seinen Hund Lady betrogen, die 19 Ratten in einer Minute töten kann. Sie ist also nicht nur eine Granate im Ring, sondern Tom muss sich eingestehen, dass er sehr an ihr hängt (und sie an ihm).
Der Roman erzählt in zwei Handlungssträngen die Geschichten
von William und Tom, die sich irgendwann miteinander verknüpfen. Das Besondere
an ihm ist die Darstellung des psychischen Leidens von William und seine
Auswirkungen auf ihn und sein familiäres und gesellschaftliches Umfeld. Nach
außen spielt William die Fassade des zwar vom Krieg gezeichneten, jedoch
liebenden Ehemannes. Innerlich ist er jedoch emotional tot bis auf die Momente,
in denen er sich selbst verletzt. Dann merkt er durch den Schmerz, dass er noch
lebt und Gefühle empfinden kann. In den Phasen nach den Verletzungen fühlt er
sich seiner Familie und dem Leben näher. Durch die geregelte Arbeit als
Ingenieur und die damit verbundene Anerkennung sowie der fast grenzenlosen
Geduld seiner Frau Polly verschwindet der Drang zur Selbstverstümmelung fast
ganz im Hintergrund, bis er durch Korruption und den oben erwähnten Mord einen
Rückfall erleidet. Schließlich wendet sich auch Polly von ihm ab, was sein
Leiden nur noch vergrößert. Schon zum Tode verurteilt wartet William auf
Nachricht von seinem Pflichtverteidiger Rose, der verzweifelt versucht, Hilfe
von Tom zu erhalten.
Historisch ist der Roman anscheinend nicht ganz korrekt. Der Krim-Krieg ging
1856 zu Ende, während mit dem Bau der Kanalisation 1858 angefangen wurde. Durch
das Buch erhält man den Eindruck, dass der Krim-Krieg noch im Gange war, während
in London schon modernisiert wurde. Die Schilderungen der Kanalisation und der
anderen Schauplätze kommen sehr plastisch rüber, ebenso die Charaktere der
Hauptdarsteller William und Tom. Zum Ende hin wird es zwar etwas hektisch und
man denkt "Typisches Hollywood-Happy-End", trotzdem lässt sich das Buch gut
lesen und ist ein guter Zeitvertreib.
[Stefan - 26.09.2005]