Alte Liebe
Eine Erzählung von Verena Themsen
Die Belagerung von Dahenja ging in den dritten Monat. Nach dem Tod des alten Königs hatte es keine Woche gedauert, bis die Rowenji vor den Toren standen. Unruhig wanderte Terion, Prinzgemahl der Königin Kelina und Regent von Stadt und Land Dahenja, vor den Fenstern der Westgalerie auf und ab. Immer wieder schweifte sein Blick zu den unzähligen Wachfeuern des Feindes hinüber, die ihn aus dem Dunkel der Nacht heraus zu verhöhnen schienen. Nicht alle waren echt, dessen war sich Terion sicher. Die Rowenji hofften, auf diese Weise die tatsächliche Größe ihres Heeres zu verbergen. Doch Terion glaubte, in seinen Stunden auf der Stadtmauer einen ganz guten Eindruck von der wirklichen Zahl gewonnen zu haben. Dort draußen lagerten etwa 1.000 Mann, Troß und Erkundungseinheiten in den Bergen nicht mitgerechnet, und machten jede Verbindung zur Außenwelt unmöglich. Die Lebensmittel neigten sich dem Ende zu, frisches Obst und Gemüse waren schon lange aufgebraucht. Terion dankte den Göttern, daß sie zumindest keinen Wassermangel litten; die Tiefbrunnen der Stadt schienen unerschöpflich und wurden schwer bewacht, um zu verhindern, daß feindliche Spione oder Verräter sie vergifteten. Trotzdem würde die Stadt nicht mehr lange aushalten können. Ihre einzige Hoffnung war, daß auch der Feind Versorgungsprobleme hatte.
Der Befehlshaber der Truppen trat ein. "Ihr habt nach mir geschickt, Prinz Terion?"
"Ja. Komm her." Der Mann trat neben Terion und sah automatisch zu den Feuern hinüber. Auch er wirkte beunruhigt.
"Wie ist der Zustand der Truppe?"
"Die Männer sind satt und ausgeruht. Aber ich weiß nicht, wie lange wir diesen Zustand noch aufrechterhalten können. Das Volk murrt bereits, weil die Soldaten noch immer volle Rationen erhalten, während alle anderen sich einschränken müssen."
Terion seufzte. Dann erklärte er: "Wie du weißt, lasse ich die Rowenji ständig beobachten. In den letzten Tagen wurden sie unruhig, was meiner Meinung nach mit dem Ausbleiben einer Versorgungslieferung zusammenhängt. Auch da drüben wird inzwischen rationiert, und das steigert die Moral der Truppe nicht gerade. Wir müssen diese Gelegenheit nutzen, solange unsere Männer noch stark sind. Wir werden morgen bei Sonnenaufgang einen Ausfall machen."
Der Oberbefehlshaber nickte. "Ich werde die Männer darauf vorbereiten."
"Stelle außerdem einen kleinen Trupp aus deinen besten Reitern zusammen und laß ihnen die schnellsten Pferde geben. Vorrangiges Ziel des Ausbruches muß es sein, diesem Trupp eine Bresche zu schaffen, durch die er die Stadt verlassen kann. Sie sollen mit höchster Geschwindigkeit nach Ravan reiten und dort eine Nachricht überbringen, die ich ihnen morgen früh geben werde. Den Feind werden wir allerdings glauben machen, wir hätten es auf seine Vorräte abgesehen. In Wirklichkeit ist dies aber nur unser zweites Ziel."
"Also soll der Ausbruch von der Westseite aus starten."
"Ja. Und sag den Männern, daß dies möglicherweise unsere letzte Chance ist", setzte Terion hinzu.
"Sag ihnen, sie sollen kämpfen wie eine Tigerin um ihre Jungen."
"Ja, mein Prinz." Der Soldat salutierte und ließ Terion mit seinen Sorgen auf der Westgalerie allein.
Noch jemand beobachtete die Wachfeuer der Rowenji. Auf den Hügeln jenseits der Stadt standen zwei Schatten und sahen in die Ebene hinunter.
"Wenn wir die Aussagen der gefangenen Soldaten von Erkundungs- und Versorgungstrupp richtig interpretiert haben unterhält da unten jede Gruppe mindestens zwei Wachfeuer. Eine Menge Aufwand für ein so altes Täuschungsmanöver", stellte die größere Gestalt fest.
"Da liegst du richtig, Jondar", erwiderte der zweite Schatten, der Stimme nach eine Frau. "Besonders wenn man bedenkt, daß sie nicht mehr allzuviel Brennmaterial haben dürften. Beim Versorgungszug waren allein drei Wagenladungen voll Holz und Stroh dabei. Wir müssen also damit rechnen, daß es vielleicht doch ein paar Mann mehr sind, als wir geschätzt haben."
Jondar nickte. "Und was hast du nun vor, Sinje?"
"Der Plan bleibt bestehen, aber die Männer sollen vorsichtig sein und auf Signale achten. Wir müssen flexibel kämpfen."
"Und wenn die Städter nicht reagieren?"
"Sie müssen reagieren, und zwar schnell, denn ihr Leben hängt ebenso davon ab wie unseres. Sie werden die Rowenji keinen Moment unbeobachtet lassen, und wenn wir losschlagen, werden sie sofort herauskommen, wenn sie auch nur einen Funken Verstand im Kopf haben."
Die Vorbereitungen für den Ausbruch waren so leise wie möglich getroffen worden, um nicht durch lautes Waffengeklirr die Aufmerksamkeit der Wachen der Rowenji zu erregen. Über Hundert Bogenschützen saßen im Schutz der Mauerzinnen bereit und warteten auf das Zeichen, um den hinter dem Tor aufgestellten Soldaten beim Stürmen Deckung zu geben. Terion übergab das flache, versiegelte Päckchen, das seine Nachricht enthielt, dem Anführer der kleinen Reitereinheit.
"Verstaue das gut in deinem Wams", wies er ihn an. "Gib es notfalls an einen anderen Reiter deiner Truppe ab, aber laß es auf keinen Fall in die Hände der Rowenji fallen. Wenn ihr in Ravan angekommen seid, verlangt, unverzüglich vor den Herrscher gebracht zu werden, und übergebt ihm die Nachricht persönlich. Solltet ihr Probleme bekommen, weißt das Siegel auf dem Päckchen vor."
"Jawohl, mein Prinz." Der Reiter verstaute das Päckchen tief in seinem Wams, grüßte ehrerbietig und ging dann zurück zu seiner Gruppe. In diesem Moment bemerkte Terion einen Soldaten, der von der Mauer heruntereilte. Er ging ihm entgegen. Der Soldat zögerte kurz, als er ihn sah, lief dann jedoch auf ihn zu. "Prinz Terion! Herr!"
"Was ist?"
"Dort draußen gibt es Unruhe. Es scheint, daß der Versorgungstrupp aus Rowenja doch noch kommt."
Terion fluchte innerlich. Er brüllte nach dem Oberbefehlshaber und stieg dann selber auf die Mauer, um die Lage zu erfassen. Der Versorgungszug war offensichtlich im Schutz der letzten Nachtstunden aus den Bergen auf die Ebene gezogen und erreichte eben das Lager der Rowenji. Sein Eintreffen brachte früher Leben in das Lager der Feinde als Terion lieb war, und das Bewußtsein des überwundenen Engpasses würde die erhoffte gedämpfte Moral der gegnerischen Soldaten ins Nichts wischen.
Inzwischen war auch der Befehlshaber der Truppen auf der Mauer angelangt. Er wandte sich sofort an Terion.
"Wir sollten losschlagen, solange ihre Aufmerksamkeit noch durch den Troß abgelenkt ist", schlug er vor.
Terion nickte, doch dann bemerkte er etwas, was ihn stutzen ließ. Er hielt den Befehlshaber zurück und lauschte angestrengt in Richtung des Versorgungszugs. Er glaubte, von dort Schreie und Kampflärm zu hören.
"Die Männer sollen absolut ruhig sein", befahl Terion.
Wenige Augenblicke später war alles Gemurmel und Klirren von Rüstungen erstorben. Jetzt hörten es alle.
"Dort drüben wird gekämpft", flüsterte ein Bogenschütze ungläubig.
Terions Augen glitzerten. "öffnet die Tore", brüllte er.
"Sofort alle zum Angriff - auch die Reiter! Das ist unsere Chance!"
Kritisch beobachtete Sinje ihren Leibarzt bei der Arbeit.
"Daß du mir meinen Erstmann ja sorgfältig wieder zusammenflickst, Meister!" mahnte sie ihn.
Ohne seine Arbeit zu unterbrechen erwiderte er: "Ihr bezahlt mich viel zu gut und seid eine viel zu gute Kämpferin als daß ich wagen würde, nicht mein bestes zu geben, Sinje, und das wisst Ihr auch. Würdet Ihr mir bitte mal das kleine Messer da geben?"
Sinje drückte ihm das Messerchen in die Hand und hockte sich neben dem Sitz nieder, in dem Jondar ergeben darauf wartete, daß der Arzt mit seinem Arm fertig wurde.
"Ausser dem Arm noch irgendwelche Blessuren?"
"Nur ein paar blaue Flecken", antwortete Jondar. "Und das hier wäre auch nicht passiert, wenn du mich nicht in dieses hinderliche Kleid gesteckt hättest."
"Ich habe auch im Kleid gekämpft, also jammere nicht. Ich habe wenig genug Kämpfer, die ich für gut genug halte, um in der Lage zu sein, mit einem Rock zu kämpfen; da konnte ich nicht wählerisch sein. Sie wären mißtrauisch geworden, wenn die Troßhuren gefehlt hätten, und die echten mitzunehmen wäre zu riskant gewesen. Und waren ihre erstaunten Gesichter nicht ein herrlicher Anblick?"
Der Arzt zog den Verband fest, und Jondar seufzte hörbar. "Bist du endlich fertig, du Sadist?"
"Ja. Aber ich komme heute abend wieder, um den Verband zu kontrollieren."
"Ist das eine Drohung?" Der Arzt grinste. "Nein, ein Versprechen."
Er verließ das Zelt, und Jondar wandte sich seiner Anführerin zu. "Wie steht`s mit der Truppe?"
"Vielleicht tröstet es dich, daß fast alle, die als Frauen verkleidet waren, leichte bis mittlere Verletzungen davongetragen haben. Es ist sowieso kaum jemand unverletzt geblieben - unser Flickmeister hat noch einen langen Tag vor sich. Jevan und Kaja werden voraussichtlich nicht mehr kämpfen können, und wir haben drei Tote - Red, Gorant und Veron."
"Zu jung", murmelte Jondar. "Veron war gerade achtzehn. Ich hoffe, das ist die Sache wert. Was willst du überhaupt hier?"
Sinje sah zur Seite, ihr Blick wurde abwesend. "Ich bin gekommen", sagte sie leise, "um ein paar alte Freunde zu besuchen."
Und und sie dachte an jene Tage, als ihr Name noch Ranwara gewesen war...
Immer wieder drehte sich Ranwara vor ihrem Spiegel. Es war ein ungewohnter Anblick, der sich ihr bot, aber er gefiel ihr, und sie war sicher, daß er auch Terion gefallen würde. Selten hatte sie bisher Kleider getragen, und noch nie ein so feierliches wie dieses. Rani hatte keinen Bruder, und als älteste Tochter des Königs von Stadt und Land Dahenja hatte sie daher auf seinen Ratschluß hin die Erziehung eines Sohnes erhalten. Nun aber hatte ein Mann um Ranwaras Hand angehalten, der alle nötigen Fähigkeiten zur Herrschaft besaß. Sie hatten sich bei einer der seltenen Gelegenheiten kennengelernt, bei denen Rani ein Kleid trug, und wenn es nach Rani ging, sollte er sie nie in Hosen sehen, denn sie hatte den Eindruck, daß ihm das nicht gefallen würde. Es war ja auch nicht mehr nötig, da mit ihm endlich ein Mann ins Haus kommen würde.
Ihre Schwester Kelana trat neben sie und legte ihr ein langes Tuch über die Haare.
"Das gehört sich so für eine verlobte Frau", bemerkte sie dabei. "Du wirst deine Haare jetzt nur noch zu Hause offen tragen können. Ich habe das rot-braun gemusterte ausgesucht, weil es deine braunen Augen am besten betont."
Kelana sah auf das Bild ihrer Schwester im Spiegel. "Du hast die Augen unserer verstorbenen Mutter", sagte sie leise.
"Dafür hast du ihr sanftes Wesen geerbt, Keli", erwiderte Ranwara. "Ich danke dir für deine Hilfe. Ohne dich wäre ich nicht einmal in der Lage, mir die richtigen Kleidungsstücke auszusuchen."
Keli schüttelte den Kopf. "Ich bin immer noch der Meinung, daß Vater einen Fehler begangen hat, dich so wenig in den weiblichen Fertigkeiten unterweisen zu lassen."
"Er wollte sich eben nicht darauf verlassen, daß sich rechtzeitig vor seinem Tod ein Schwiegersohn finden würde, der Stadt und Land würde übernehmen können. Ich habe alles gelernt, was ein Prinz können muß, und die Leute wissen das und hätten mich akzeptiert. Und jetzt werde ich ja Zofen haben, die auf meine Kleidung achten, und genug Muße, um Dinge wie sticken, weben und nähen zu lernen."
"Ich hätte nie gedacht, daß es überhaupt noch dazu kommen würde, daß du diese Dinge freiwillig lernst. Du mußt Terion wirklich sehr lieben."
Ranis Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck. "Ja, Keli, das tue ich. Obwohl er so gar kein Kämpfer ist, gibt er mir alles, was ich mir je von einem Mann gewünscht habe. Sein Blick, seine Berührung wecken Dinge - ich hätte nie zu träumen gewagt, daß es solche Gefühle, solche Gefühlsstärke überhaupt gibt. Ich dachte früher, das sei alles nur albernes Weibergeschwätz. Jetzt erlebe ich es am eigenen Leib, und der Gedanke, ihn womöglich zu verlieren, macht mich rasend. Allein schon darum bin ich zu allem bereit, was er als schicklich ansieht, und er würde es gewiß nicht schicklich finden, wenn ich in Hosen auf meinem Pferd über die Felder stürmen und mit meinem Schwert Vögel jagen würde, wie ich das früher getan habe. So sehr mir all das auch fehlen wird - ich denke, unsere Liebe wiegt das um ein Vielfaches auf."
"Oh ja, das glaube ich, Rani."
Ranwara wandte sich zu ihrer Schwester um und glaubte, einen Moment so etwas wie Trauer in ihren Augen zu sehen. Doch dann lächelte ihre kleine Schwester sie an. "Wenn du willst, kann ich dir heute abend noch ein wenig auf meinem Stickrahmen zeigen."
"Ohnein, lass uns lieber weben oder Tücher malen.! Ich möchte nicht mit völlig zerstochenen Fingern zu meiner Hochzeit kommen - es würde nicht leicht sein, Terion die Gründe dafür zu erklären."
"Ich hoffe nur, daß es dir wirklich so leicht fallen wird, deine Erziehung abzustreifen. - Was wirst du tun, wenn er doch irgendwann erfährt, daß du gelernt hast, ein Pferd zu reiten und eine Waffe zu führen?"
"Ich hoffe, daß ich bis dahin bereits so sehr Frau geworden bin, wie er sich das nur wünschen kann. Dann werden wir gemeinsam darüber lachen, und er wird es vergessen."
"Daß du all das für ihn opferst..."
"Es fällt mir bestimmt nicht leicht. Aber er ist nun einmal mit bestimmten Vorstellungen darüber aufgewachsen, wie eine Frau zu sein hat, und wenn ich ihn halten will, muß ich eben alles tun, um diesen Vorstellungen zu entsprechen."
Rani sah auf ihre Schwester herunter. "Wenn ich bedenke, wie sehr du eigentlich diesem Bild entsprichst..."
Kelana wandte sich ab, und Rani sah, daß sie zitterte. "Keli? Was ist denn mit dir, Keli?" fragte sie besorgt. Dann dämmerte es ihr langsam. "Du liebst ihn ebenfalls, nicht wahr, Keli" sagte sie leise.
Keli nickte, und Rani nahm sie fest in den Arm. "Ich träume von ihm, seit er vor zwei Jahren zum ersten Mal in unseren Hof geritten ist. Ich war dankbar für jedes Wort, daß er an mich gerichtet hat, für jeden Blick, den er mir geschenkt hat. Aber für ihn war ich eben nur ein kleines, unscheinbares Kind. Er hatte immer nur Augen für dich, und nun... ich freue mich ja für dich, Rani, aber..."
"Oh Keli, meine kleine Keli, es tut mir so leid..."
Sanft löste sich Kelana aus der Umarmung ihrer Schwester und wischte sich die Tränen aus den Augen.
"Es ist nun einmal geschehen, und es läßt sich nicht mehr ändern. Wie die Götter es beschließen, so muß man es nehmen. Und jetzt fange nicht auch noch an zu weinen, Rani, denn verweinte Augen wirst du Terion ebenso schwer erklären können wie wunde Finger", mahnte sie sanft.
"Keli, manchmal denke ich, daß sich manch ein Mann eine Scheibe von deinem Mut und deiner Stärke abschneiden könnte."
Kelana lächelte. "Sag nicht so etwas. Und jetzt laß uns endlich hinunter gehen, sie werden schon mit dem Essen auf uns warten."
Beim Abendessen war Rani ungewöhnlich schweigsam. Terion versuchte mehrmals, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, doch es war erkennbar, daß sie mit ihren Gedanken nicht bei der Sache war. Schließlich legte er seine Hand auf die ihre.
"Rani, was ist mit dir?"
Rani genoß das leise Prickeln, das in ihr aufstieg - wie jedesmal, wenn er sie berührte. Doch es konnte sie diesmal nicht beruhigen. "Es ist nichts, Liebster, ich bin nur ein wenig - müde."
"Das ist es nicht, Rehauge. Ich spüre doch, daß dich etwas bewegt. Ist etwas geschehen?"
"Ich weiß nicht, ob ich es dir sagen kann. Es geht nicht um mich selber."
"Etwas wegen deiner Schwester? Ist etwas mit ihr?"
Rani fragte sich, wie Terion immer ihre Gedanken erriet. "Ja, es ist wegen Keli. Sie hat mir etwas gesagt, was mich beunruhigt."
"Was kann dich denn nur so beunruhigen? Hat sie eine Dummheit begangen?"
"Sie kann nichts dafür. Sie hat sich verliebt, und nun hat sie Kummer, denn er ist einer anderen versprochen."
"Verliebt? Sie ist ja noch ein halbes Kind!"
Rani sah ihn an. "Sie ist nur zwei Jahre jünger als ich. Nach unserem Recht ist sie lange heiratsfähig."
"Nun ja, trotzdem finde ich, daß sie noch sehr jung ist für eine echte Liebe. Wer ist denn der Glückliche?"
Rani wandte sich ab. "Das ist nicht mein Geheimnis. Selbst dir könnte ich das nicht sagen."
"Aber es macht dir Sorgen, und das gefällt mir nicht." Rani sah ihn wieder an und lächelte. "Ich werde versuchen, nicht mehr weiter darüber nachzudenken, Geliebter. Vielleicht ist es auch wirklich nur eine Schwärmerei, die schnell vergeht."
Für den Rest des Abends gab sich Ranwara Mühe, aufmerksam und fröhlich zu wirken. Als das Essen endlich beendet war, entschuldigte sie sich jedoch früh und gab vor, sehr müde zu sein. Terion äußerte den Wunsch, ein wenig durch den Garten zu streifen, und begleitete sie bis zur Treppe.
"Mach dir nicht zu viele Gedanken, Kirschblüte", sagte er leise und gab ihr einen Kuß. Ranis Wangen brannten.
"Gute Nacht, mein Prinz." Und sie wandte sich hastig ab und eilte die Treppe hinauf. Auf ihrem Zimmer angekommen schälte sie sich mühsam aus ihrer Kleidung und löschte die Kerze. Dann setzte sie sich vor ihr Fenster und starrte hinaus in die Nacht. In der Ferne sah sie die Felder im Mondschein liegen. Der dichte Weizen wirkte von hier aus wie eine grau-samtene Decke, und dazwischen schimmerte der Fluß als silbernes Band. Der Anblick beruhigte sie, weckte jedoch gleichzeitig die Sehnsucht in ihr, Sehnsucht nach wilden Ritten, anstrengenden Jagden und erschöpfenden Wettkämpfen. Sie dachte an ihren Braunen, den sie einem jungen Gardisten geschenkt hatte, der mit ihr das Fechten gelernt hatte, und ihr schmales Schwert, das gut verpackt ganz hinten unter ihrem Bett lag. Nein, das alles war jetzt vorbei, sie mußte sich davon lösen... es würde nie mehr so sein.
Sie schreckte aus ihren Gedanken. Hatte sich da nicht eben ein Schatten auf der Mauer bewegt? Sie sah genauer hin, konnte jedoch nichts mehr erkennen. Dann hörte sie einen Kater schreien und ließ sich dadurch beruhigen. Wenig später sah sie plötzlich einen Lichtschein die Straße der Schmiede entlang huschen. Sie fragte sich, wer so spät in der Nacht noch auf sein mochte. Vielleicht ein paar verspätete Zecher aus dem `Sonnenrad´, oder die Wache auf ihrem Rundgang.
Wieder ließ sie ihre Gedanken schweifen, und das Bild ihrer Schwester drängte sich vor ihre Augen. Sie mußte mit jemandem darüber sprechen. Und da er indirekt betroffen war, war es nur recht und billig, wenn sie es Terion sagte. Keli würde das bestimmt verstehen. Schließlich war er ihr Verlobter, und vor ihrem Mann sollte eine Frau keine Geheimnisse haben.
Sie schloß die Fensterläden, warf sich ihr Hauskleid über und verließ leise das Zimmer. Lautlos, um niemanden zu wecken, schlich sie sich über die Galerie zu Terions Räumen, wo sie vorsichtig klopfte. Sie erhielt keine Anwort. Noch einmal klopfte sie, etwas stärker diesmal. Noch immer keine Reaktion. Sie legte ihr Ohr an die Tür und lauschte. Kein Laut war zu hören. Sie legte die Hand auf die Klinke, zögerte jedoch. War das schicklich? Was würde man sagen, wenn man sah, wie sie nachts zum Zimmer ihres Verlobten schlich? Würde man nicht glauben, sie hätte... aber schließlich war er doch ihr Verlobter, und da ging das schließlich niemanden etwas an.
Entschlossen drückte sie die Klinke hinunter. Die Tür war nicht verschlossen. Rani schlüpfte in den dunklen Vorraum und bewegte sich weiter in Richtung Schlafzimmer. Die Tür stand halb offen, doch kein Licht fiel heraus, und es war kein Laut zu hören.. Rani drückte die Tür vorsichtig auf.
"Terion?" Keine Antwort. Das Bett war leer, unberührt, und nirgends eine Spur von Terion. Rani stutze. Konnte er noch so lange im Garten geblieben sein? Vielleicht war er ja auf einer der Steinbänke eingeschlafen?
Sie ging zurück zu ihrem Zimmer, warf sich gegen die Nachtkühle einen schweren Umhang über, schlüpfte in ihre Pantoffeln und eilte dann mit einer Laterne in den Garten hinunter. Die Kieswege leuchteten hell im Mondlicht. Sie folgte ihnen bis zum anderen Ende des Gartens, ohne eine Spur von Terion zu finden. Beunruhigt suchte sie weiter. Schließlich fiel ihr ein dunkler Fleck auf einem Rasenstück nahe der Außenmauer des Gartens auf. Vorsichtig näherte sie sich ihm. Es war ein Stück Stoff, und als Rani es aufhob, erkannte sie es zu ihrem Schrecken als Terions Umhang. Hektisch untersuchte sie ihn. Er war zerrissen und verdreckt, und als sie weiter suchte, fand sie in der Nähe Spuren eines kurzen, aber heftigen Kampfes. Terion war offensichtlich überrascht worden, und alles war so schnell gegangen, daß er noch nicht einmal hatte schreien können:
Terion war vor nicht ganz einer Stunde entführt worden.
Verschlafen setzte sich der alte Fechtmeister Riva auf, wurde jedoch sofort hellwach, als er erkannte, wer ihn geweckt hatte.
"Prinzessin Rani! Was treibt Euch so spät - oder so früh - aus dem Bett und zu mir?"
"Prinz Terion ist entführt worden. Wir müssen ihn finden, bevor die Verräter ihn aus der Stadt schaffen können."
"Prinz Terion? Entführt? Bei Turkas Urin - wollt Ihr mich auch nicht auf den Arm nehmen?"
"Das ist wohl kaum etwas, womit ich meinen Scherz treiben würde. Macht Euch fertig, Riva, wir müssen in die Stadt und nach ihm forschen. Ich hole solange meine Sachen."
Wenig später kam Ranwara zurück, in ihren dunklen Jagdanzug gekleidet, Schwert und Dolch am Gürtel, das Gesicht hinter einem dunklen Tuch verborgen. Riva schüttelte den Kopf.
"Warum alarmiert Ihr nicht lieber die Wache?"
"Bis die soweit sind, kann es bereits zu spät sein. Außerdem würde ein Alarm die Verräter nur warnen. Solange sie nicht wissen, daß ihr Verbrechen bereits entdeckt worden ist, sind sie vielleicht unvorsichtiger und lassen sich mehr Zeit."
"Da mögt Ihr recht haben, aber dennoch bin ich mir nicht sicher, ob Ihr dabei mitgehen solltet. Ich könnte auch alleine versuchen, ihn zu finden."
"Ihr habt selber gesagt, daß ich ein besserer Schüler war als jeder Mann, also sollte für mich wohl keine echte Gefahr bestehen, solange ich nicht unvorsichtig werde, und das habe ich nicht vor. Aber zuerst sollten wir einmal überlegen, wo wir die Suche beginnen wollen."
Riva wollte erneut widersprechen, doch in Ranwaras Augen sah er eine Wut und Wildheit, die ihn sein Vorhaben vergessen ließ. Statt dessen ging er auf ihren Plan ein.
"Wir sollten zuerst zur Torwache gehen und erfragen, welche Fremden in letzter Zeit in die Stadt gekommen sind und wo sie Quartier bezogen haben."
Ranwara nickte. "Ein Hinweis ist vielleicht, daß ich vorhin in der Straße der Schmiede ein Licht gesehen habe. Sollte eine Gruppe Fremder in diesem Viertel wohnen, werden wir dort mit unseren Nachforschungen beginnen."
Langsam zog sich die Dunkelheit aus Terions Schädel zurück und hinterließ nur ein stetiges Brummen. Er spürte kalten Stein in seinem Rücken und stellte fest, daß er an einen Eisenring gebunden war. Er hob die Augenlieder, doch die Dunkelheit vor seinen Augen blieb bestehen. Einen Moment befürchtete Terion, durch den harten Schlag auf den Hinterkopf blind geworden zu sein, doch dann sah er einen dünnen Lichtschimmer irgendwo über sich. Er legte den Kopf in den Nacken und erkannte ein Viereck, das wohl von einer Falltür herrührte. Er zerrte an seinen Fesseln, bewirkte jedoch nur, daß sie um so tiefer ins Fleisch schnitten. Er fluchte leise.
Dann hörte er Schritte, und die Luke öffnete sich. Der Umriß eines Kopfes wurde erkennbar.
"Sieh an, der Herr Prinz ist aus dem Reich der Toten zurück. Wir hatten schon Angst, wir hätten Euch ein wenig zu hart gestreichelt."
Im Hintergund hörte Terion einen weiteren Mann auflachen. Den harten Akzent des Sprechers kannte Terion nur zu gut: Diese Männer waren Rowenji, und die Götter allein wußten, was diese Dämonenanbeter mit ihm vorhatten.
Plötzlich gab es einen lauten Schlag. Ruckartig verschwand der Kopf, und die Luke fiel zu. Er glaubte, einen gedämpften Fluch zu hören, dann einen kurzen Kampf. Dann Ruhe.
Schließlich näherten sich leise Schritte. Die Luke öffnete sich, und eine dunkel gekleidete Person sprang zu ihm hinunter. Eine andere leuchtete mit einer Laterne in den Kellerraum. Die dunkle Gestalt zog ein Messer aus ihrem Gürtel, kniete neben ihm nieder und befreite ihn mit wenigen Schnitten von seinen engen Fesseln. Seine Hände und Füße begannen zu prickeln, als das Blut wieder frei zirkulieren konnte.
"Wer seid Ihr?" fragte er.
"Ruhig, Prinz Terion", flüsterte die Gestalt. "Wir müssen schnell hier heraus, bevor die anderen zurückkommen. Steht auf, ich helfe Euch hinauf."
Gehorsam erhob sich Terion. Seine Beine fühlten sich noch etwas schwach an, doch er nahm keine Rücksicht darauf. Der dunkle Kämpfer bot ihm seine Hände als Steigbügel, und der ebenfalls verhüllte Mann oben faßte nach seinen Armen und zog ihn hinauf. In einer Ecke sah Terion seine Bewacher liegen; aus ihren aufgeschnittenen Kehlen sprudelte noch immer Blut. Der im Keller gebliebene Kämpfer sprang hoch, faßte den Lukenrand und zog sich hinauf. Innerlich bewunderte Terion seine Geschmeidigkeit.
Eilig führten sie ihn durch eine Hintertür aus dem Haus. Ein Stück weiter unten in der Gasse stand ein Junge mit einem Pferd. Die Gestalten hießen ihn, aufzusteigen und zum Palast zurück zu reiten. Doch Terion zögerte.
"Wie soll ich Euch danken, wenn ich nicht weiß, wer ihr seid? Sagt mir bitte eure Namen, damit ich euch gebührend belohnen kann!"
"Uns ist es Belohnung genug, den Rowenji einen Strich durch die Rechnung gemacht zu haben", flüsterte der erste.
Und der zweite setzte hinzu: "Wenn Ihr uns wirklich belohnen wollt, dann macht die Prinzessin Rani glücklich."
"Das habe ich sowieso vor, doch wenn das Euer Wunsch ist, will ich es Euch hiermit nochmals versprechen."
Die Gestalten nickten ihm noch einmal zu und wandten sich dann ab. Doch bevor sie in einer der Gassen verschwinden konnten, faßte Terion den ersten noch einmal bei der Hand.
"Laßt mich Euch wenigstens dies als ein Zeichen meines Dankes überlassen."
Er zog sich einen Ring mit einem herrlich reinen Saphir vom Finger und streifte ihn der Gestalt über die behandschuhte Hand. Zum ersten Mal bemerkte Terion, wie schmal diese Finger waren; der Ring saß trotz des Handschuhs locker.
Die Gestalt entriß ihm ihre Hand und eilte davon. Kopfschüttelnd schwang sich Terion auf das Pferd und ritt zum Palast zurück, wo ihn ein verwunderter Wachmann einließ.
Wenige Stunden später saß Terion beim Frühstück. Enttäuscht stellte er fest, daß Rani fehlte; sie hatte sich mit Unwohlsein entschuldigen lassen. Er fragte sich, ob sie immer noch über die Liebschaft ihrer Schwester grübelte. Er beschloß, sie gleich nach dem Essen aufzusuchen.
"Du siehst übernächtigt aus, mein Sohn", bemerkte Ranis Vater.
Terion lachte auf. "Ich bin heute nacht auch nur sehr kurz und unsanft zum Schlafen gekommen", bemerkte er und berichtete daraufhin seine Erlebnisse. Alle reagierten erschreckt und erstaunt.
"Ich hätte nie gedacht, daß die Rowenji eine solche Frechheit an den Tag legen würden", stellte der König erschüttert fest. "Wir werden wohl unsere Vorsichtsmaßnahmen verstärken müssen."
Terion entschuldigte sich, sobald das Essen beendet war, und ging hinauf zu Ranwaras Räumen. Leise klopfte er an die Tür. Eine Zofe öffnete ihm.
"Die Prinzessin schläft", sagte sie leise.
"Ich möchte nur kurz hineinsehen. Ich werde gleich wieder gehen."
Zögernd ließ die Zofe ihn ein. Er ging zum Schlafzimmer, öffnete ganz vorsichtig die Tür und schlich auf Zehenspitzen zu ihrem Bett. Doch kaum hatte er sich auf wenige Schritte genähert, da fuhr die Prinzessin hoch.
"Wer da?" rief sie. Dann sah sie ihn und entspannte sich. "Terion! Was machst du denn hier?"
"Ich wollte nur sehen, wie es dir geht. Du siehst erschöpft aus."
Ranwara lächelte. "Du auch, mein Prinz. Aber warte einen Moment im Vorzimmer, dann werde ich mich schnell anziehen und zu dir kommen."
"Du mußt nicht meinetwegen aufstehen, wenn du dich nicht wohl fühlst. Schlafe nur weiter, ich werde später wieder kommen."
"Es ist schon gut, ich bin nicht mehr müde. Schicke mir bitte meine Zofe herein."
Terion verließ das Schlafzimmer und sagte der Zofe, daß ihre Herrin nach ihr verlangte. Dann wartete er. Das Zimmer war geschmackvoll eingerichtet, es strahlte Wärme und Weiblichkeit aus. Die Wände waren mit Seidentüchern bespannt, einige Sitzkissen waren verstreut um einen niedrigen Tisch, bedeckt von bunten Seidentüchern, in einer Ecke stand ein Stickrahmen, und in allen Ecken standen kleine Tischchen mit Schälchen, Töpfchen und Schmuckdosen. Eine Dose erregte besonders sein Interesse, da sie anders wirkte als die anderen. Sie war schlichter, nur verziert mit einem Paar gekreuzter Schwerter. Wer mochte einer Frau wohl einen so ungewöhnlichen Schmuck schenken?
Er nahm die Dose in die Hand. Sie war schwer, und er hörte etwas darin klappern. Er griff nach dem Deckel. In diesem Moment betrat Ranwara das Zimmer.
"Terion!"
Terion wandte sich ihr zu, die Dose in der Hand. Ranwaras Anblick bezauberte Terion wie immer, doch in ihren schönen Augen lag etwas Unbekanntes, etwas wie Unruhe oder Angst.
"Woher hast du diese Dose?" fragte Terion neugierig. "Sie ist ein ungewöhnlicher Schmuck für das Zimmer einer Frau."
"Ich habe sie von unserem Fechtmeister Riva geschenkt bekommen."
"Von einem Fechtmeister?"
Ranwara wirkte gereizt. "Er hat mich immer sehr gemocht und schenkte sie mir zum sechzehnten Geburtstag. Es war ein altes Erbstück seiner Familie."
Terion schüttelte die Dose leicht. "Es ist etwas darin. Hat er dir das auch geschenkt?"
"Ich weiß nicht mehr, was darin ist! Ich bitte dich, Terion, laß die dumme Dose und setz dich hier zu mir. Erzähle mir, warum du so übermüdet bist."
Terion ließ sich auf einem der Kissen nieder, behielt die Dose jedoch in der Hand. "Heute nacht ist mir etwas Ungewöhnliches passiert. Stell dir vor, ich bin entführt worden."
Die ganze Zeit, während Terion seiner Verlobten nun die Ereignisse der letzten Nacht schilderte, spielte er mit der Dose. Sie faszinierte ihn ungewöhnlich stark, vielleicht gerade deshalb, weil sie hier so wenig hinpaßte. Hätte er nicht Respekt vor Ranis Wünschen gehabt, hätte er sie längst geöffnet, um zu sehen, ob etwas ähnlich Ungewöhnliches darin verborgen war. Er glaubte Rani nicht, daß sie nicht wußte, was sie enthielt.
Als er seine Erzählung beendet hatte, sah er Rani erwartungsvoll an. Sie lächelte.
"Den Göttern sei Dank, daß die Sache so glimpflich ausgegangen ist", sagte sie leise.
"Und meinen beiden Befreiern", setzte Terion hinzu.
Rani nickte. "Und deinen unbekannten Befreiern. Wer sie wohl waren?" Ihr Blick wanderte einen Moment in die Ferne, doch dann sah sie ihm wieder in die Augen. "Auf jeden Fall würde ich sie auf nahezu jede erdenkliche Art belohnen, wenn ich jemals herausbekäme, wer sie waren. Vielleicht zwei junge Kämpfer aus der Garde, oder Söhne reicher Kaufleute."
"Der eine hatte ganz schmale Hände, fast wie eine Frau. Er war bestimmt nicht von niederer Abstammung." Wieder starrte Terion auf die Dose in seiner Hand. Dann stellte er sie auf den Tisch. Wie nebenbei griff Rani danach und erhob sich, um sie zurück an ihren Platz zu stellen. Terion faßte nach ihr, um sie zurückzuhalten. In diesem Moment entglitt die Dose ihren schlanken Fingern und fiel zu Boden, und für einen Moment wurde ihr Inhalt sichtbar. Sofort bückte sie sich, um alles einzusammeln, doch Terion hielt sie hart zurück. Er traute seinen Augen nicht.
"Woher hast du diesen Ring?" stieß er hervor. Rani zögerte, doch dann warf sie stolz ihren Kopf zurück und richtete sich auf.
"Von dir habe ich ihn erhalten, Prinz Terion, in der letzten Nacht."
Terion ließ sie los, erhob sich und wich vor ihr zurück. "Du warst der Kämpfer mit den schlanken Händen?"
Rani schluckte und nickte.
"Du kannst ein Schwert führen?"
"Nach dem Tod meiner Mutter hatte mein Vater Angst, ohne männlichen Erben zu sterben. Er ließ mich in allem ausbilden, was ein Prinz können mußte, einschließlich der Waffenkunst."
Terion wirkte zutiefst betroffen. Zum ersten Mal sah er die wahre Rani, die selbstbewußte, kämpferischen Frau, zu der sie ihre ungewöhnliche Erziehung gemacht hatte, und sie sah Abscheu in seinen Augen hochsteigen.
"Nein, das ist nicht die Rani, die ich kenne und liebe", sagte er leise. "Die zwei Männer gestern - sie waren tot! Das kannst du nicht getan haben. Das kann nicht sein! Sag, das das nicht wahr ist!" Er schrie jetzt fast.
Doch Ranwara blieb ruhig. "Es ist wahr, und es ist nicht zu ändern. Ich will versuchen, eine so gute Frau zu sein, wie es nur geht, Terion, aber da du dies nun weißt, wäre es sinnlos, es weiter verbergen oder leugnen zu wollen."
Einen Moment stand Terion wie erstarrt, dann stürzte er aus dem Raum.
Rani ließ sich zurück auf die Kissen sinken und vergrub ihr Gesicht in den Armen.
Gegen Mittag wurde Rani in den Thronsaal gerufen. Als sie kam, trug sie ihre dunkle Jagdkleidung. Terion war auch da; er wandte sich ab, als er sie sah. Rani kniete sich vor ihren Vater.
"Ihr wünschtet mich zu sprechen, mein König und Vater?"
Der alte Mann wirkte bedrückt, und er tat Rani leid. Dabei wußte er noch nicht, daß er bald mehr verlieren würde als nur einen Schwiegersohn.
"Rani, Terion ist zu mir gekommen und hat mich gebeten, eure Verlobung zu lösen. Er hat mir seine Gründe für diesen Wunsch dargelegt, und ich muß sagen, ich kann ihn verstehen. Du hast voreilig gehandelt, Tochter, voreilig und unüberlegt. Du hättest die Sache der Wache überlassen sollen. Du weißt, daß sich all das für eine Frau nicht ziemt. Natürlich trifft auch mich einen Teil der Schuld, denn ich habe dir diese Ausbildung angedeihen lassen, aber ich hatte auf dein Urteilsvermögen vertraut, daß du solches Vorgehen unterlassen würdest, insbesondere jetzt."
Rani erhob sich. "Ich hatte schon damit gerechnet, daß Prinz Terion sich außerstande sehen würde, mit einer Frau zu leben, die ihm einmal überlegen war und ihm vielleicht sogar das Leben gerettet hat", stellte sie mit ausdrucksloser Miene fest. "Kein Mann könnte das, glaube ich. Und da sich die Sache über kurz oder lang herumgesprochen haben wird, wird sich wohl auch kein Mann mehr für die Thronerbin finden. Da ich damit für Dahenja nur noch Schlechtes bringen kann, habe ich beschlossen, Stadt und Land zu verlassen. Lebe wohl, Vater. Und lebt wohl, Prinz Terion - Geliebter."
Sie spuckte es förmlich aus, und mit Befriedigung bemerkte sie, wie er zusammenzuckte. Dann wandte sie sich um und verließ eilig den Saal. Sie hörte, daß ihr jemand folgte, und als sie sich im Hof auf ihr Pferd schwang, sah sie noch einmal zurück. Terion stand im Tor zum Hof und blickte sie an. Sie wußte nicht, was seine Augen ausdrückten - Schmerz, Angst, Abwehr - doch es schien, als versuche er verzweifelt, etwas zu sagen.
Rani wandte sich ab und gab ihrem Pferd die Sporen.
"Damals lagerten Eskarions Söldner in der Gegend", schloß Sinje ihre Erzählung. "Ich ritt zu ihnen und bat um Aufnahme. Sie lachten mich aus. Ich tötete einen seiner Männer im Zweikampf - der erste Mensch, den ich je getötet habe; die beiden Verräter gingen auf Rivas Konto. Eskarion machte mich zur Unterführerin. Den Rest kennst du."
Eine Weile herrschte Schweigen. Dann bemerkte Jondar: "Das ganze muß über zehn Jahre her sein."
"Ziemlich genau zwölf Jahre. Ich war damals siebzehn."
"Und die ganze Zeit über hast du stets die Geschicke von Dahenja im Auge behalten."
Sinje nickte. "Als ich hörte,daß mein Vater im Sterben lag, eilte ich hierher, um ihn noch einmal zu sehen. Er war zwar ein alter Narr, aber ich habe ihn trotzdem stets geliebt. Und als wir hier ankamen - nun, wir sind zu spät gekommen und doch gerade zur rechten Zeit."
"Und nun?"
"Das werden wir sehen. Wie gesagt, ich möchte ein paar alte Freunde besuchen."
"Prinz Terion? Ist er noch hier?"
Sinje nickte. "Er hat zwei Jahre nach meinem Verschwinden Keli geheiratet, meine Schwester. Er hatte endlich begriffen, was mich damals so beunruhigt hatte, und Keli entsprach genau dem Bild, das er sich von einer Frau machte."
"Und jetzt?"
"Ist er Herrscher von Stadt und Land Dahenja. Aber noch bin ich da - und ich bin die ältere Tochter."
"Sinje! Was hast du vor?"
Nachdenklich musterte Sinje die Zeltwand. "Wir werden sehen. Zunächst will ich den Prinzen besuchen. Er hat mich und meine Offiziere für heute abend zu einem Festmahl eingeladen."
Sinje lachte, und der Ton dieses Lachens gefiel Jondar ganz und gar nicht.
Als man Terion das Eintreffen der Söldnerführerin Sinje ankündigte, machte er sich auf, um ihr entgegenzureiten. Er war erstaunt, als man ihm berichtete, daß sie alleine kam.
Jubelnde Menschen säumten den ganzen Weg vom Westtor, durch das die Söldnerin einritt, bis zum Palast. Erleichtert sah der Prinz in die glücklichen Gesichter der Bürger, während er durch die Straßen ritt. Noch immer wirkten sie ausgezehrt, aber die Freude über die unerwartete Rettung hatte alles Leid der vergangenen Tage aus ihren Mienen vertrieben. Dann konnte Terion die Söldnerin sehen und zügelte sein Pferd, um sie zu erwarten.
Sie ritt einen schönen Braunen, und das Braun ihrer Kleidung unterstrich den Eindruck, Pferd und Reiterin seien eine Einheit. Als sie näher kam, sah er, daß sie anscheinend Jagdkleidung trug. Das verwunderte ihn, doch gleichzeitig regte sich tief in ihm eine alte, lang vergessene - oder verdrängte - Erinnerung, ohne jedoch sein bewußtes Denken zu erlangen. Er hatte lediglich das vage Gefühl, die Frau bereits einmal gesehen zu haben. Sie trug ihr Haar unter einem Kopftuch, das auch einen Teil ihres Gesichtes bedeckte und dadurch ihre Augen noch mehr hervorhob. Es waren schöne Augen, braun und feurig, wild, kämpferisch. Ein wenig erschreckend, vielleicht. Terion spürte einen leichten Schauer sein Rückgrad hinauflaufen, verdrängte jedoch das seltsame Gefühl.
"Seid gegrüßt, Sinje", rief er, als sie ihn erreichte. "Ich möchte Euch noch einmal aufrichtig für die unerwartete Rettung unserer Stadt danken. Ich bin gekommen, um Euch zur Burg zu begleiten, wo wir ein Festmahl zu Euren Ehren vorbereitet haben. Leider können wir Euch nicht viel mehr Lohn bieten..."
Die Söldnerin streifte das Kopftuch zur Seite, so daß ihr ganzes sonnengebräuntes Gesicht sichtbar wurde. Eine Narbe lief vom linken Ohr über die Wange, aber ansonsten war es in all seiner wettergegerbten Wildheit ein schönes Gesicht.
"Erkennt Ihr mich nicht, Prinz Terion?" unterbrach ihn Sinje vernehmlich.
Verwirrt sah Terion sie an. Doch plötzlich brach die Erinnerung sich Bahn. "Rani?" flüsterte er ungläubig.
"Ranwara, Prinzessin von Dahenja, genannt Sinje, die Söldnerführerin. Ja, mein Prinz, ich bin es. Es scheint, als habe die Vergangenheit uns endlich eingeholt."
"Rani! Wir dachten, du seist tot!"
"Das sehe ich. Ich bin gekommen, um meinen Vater vor seinem Tod noch einmal zu sehen, und mußte die Stadt unter Belagerung finden. Während der Herrschaft meines Vaters hätten die Rowenji niemals diese Frechheit aufgebracht. Daraus schließe ich, daß ein anderer inzwischen die Herrschaft übernommen hat."
Terion nickte. "Kelana ist zur Herrscherin von Dahenja ausgerufen worden, und sie hat mich als ihren Regenten eingesetzt."
"Also hast du schließlich doch noch erlangt, was du durch deine Ablehnung der ersten Tochter beinahe verloren hättest. Wie praktisch, daß ich verschwunden war. Aber jetzt bin ich wieder da, Terion, und ich frage dich: wo ist mein Erbe?"
Unruhe machte sich im umstehenden Volk breit. Die meisten wunderten sich nur, warum es nicht weiter ging, doch die am nächsten Stehenden verbreiteten rasch die Nachricht, daß die Söldnerführerin Sinje in Wirklichkeit die zurückgekehrte Ranwara war, die älteste Tochter des alten Königs. Rufe wurden laut, verstärkten sich zu einem Chor: "Rani! Rani!"
Rani zeigte keine Reaktion, aber sie sah Terion unverwandt in die Augen, und sie merkte, wie er unruhig wurde. Eine Spur von Angst schien sich in seine Augen zu stehlen.
"Was hast du vor, Rani?" flüsterte er.
"Ich habe dir eine Frage gestellt, Terion, und ich warte auf deine Antwort. Ich werde dich jetzt nicht zu deinem Festmahl begleiten, damit ich euch den Appetit nicht verderbe. Aber du kannst mich jederzeit in meinem Lager vor der Stadt finden. Mein Zelt ist das mit den gekreuzten Schwertern auf dem Wimpel." Und sie wandte ihr Pferd um und ritt aus der Stadt.
Langsam wandte auch Terion sein Pferd und kehrte zum Palast zurück. Allmählich verlief sich die Menschenmenge und verbreitete die Nachricht in der ganzen Stadt, daß die Prinzessin Ranwara zurückgekehrt war. Terion indessen ließ sich beim Festmahl entschuldigen und saß den Rest des Tages an seinem Fenster und starrte auf die Zelte der Söldner. Auch er erinnerte sich. Erinnerte sich an die letzte Gelegenheit, bei der er Rani gesehen hatte.
Gegen Abend betrat von ihm unbemerkt Kelana den Raum und legte ihm sanft die Hände auf die Schulter. Dankbar überließ Terion sich ihrer sanften Massage.
"Weißt du, Kelana", sagte er leise, "es gibt etwas, das habe ich dir nie erzählt."
Er spürte, wie sie einen ganz kurzen Moment in ihren Bewegungen innehielt.
"Etwas, das Ranwara betrifft?"
Terion nickte. "Ich habe sie noch einmal gesehen, nachdem sie den Hof verlassen hatte. Sie war da, damals, bei unserer Hochzeit."
Er schwieg einen Moment, versuchte, sich unter Kelanas Händen zu entspannen. "Vielleicht erinnerst du dich noch, daß ich während des Festmahls einmal für eine Weile in den Garten ging. Sie war da, hat auf mich gewartet, auf einer der Steinbänke bei der Mauer. Sie ahnte wohl, daß ich früher oder später kommen würde." Als er die Augen schloß, sah er sie wieder vor sich, wie er sie damals gesehen hatte: eine wilde, freie junge Frau, die ein Selbstbewußtsein ausstrahlte, von dem er niemals geglaubt hatte, daß eine Frau es besitzen konnte. Sie hatte damals schon diese Narbe gehabt, doch er hatte es vergessen.
"Sie erinnerte mich damals an meine Schwüre ihr gegenüber - daß ich zweimal versprochen hatte, sie glücklich zu machen, und beide Versprechen gebrochen hatte. Sie schwor, Rache an mir zu nehmen, sollte ich auch meine Versprechen dir gegenüber brechen." Unbewußt faßte Terion nach Kelis Händen, zog sie an seine Lippen. Sie ließ es geschehen.
"Und ist das nun der einzige Grund, daß unsere Ehe seit zehn Jahren glücklich ist - deine Angst vor Ranis Rache?"
Terion öffnete die Augen und sah Keli an. "Nein, Keli. Selbst wenn Rani damals nicht da gewesen wäre, wäre unser Leben keinen Moment anders verlaufen. Aber ich wollte verhindern, daß du das denkst - und später habe ich einfach nicht mehr daran gedacht." Er wandte sich ihr voll zu und zog sie zu sich herunter. "Der einzige Grund, warum ich dich geheiratet habe und seit zehn Jahren glücklich bin, Kelana, ist der, daß ich dich liebe."
"So, wie du Rani geliebt hast?" Terion schüttelte den Kopf. "Nein, nicht so. Ruhiger. Tiefer. Meine Liebe zu Rani war heiß, wie eine auflodernde Flamme, die schließlich zu Asche herunterbrennt. Keiner weiß, was aus uns geworden wäre, hätten wir damals den Fehler begangen, zu heiraten. Ich weiß nicht, wann meine anfangs nur freundschaftliche Zuneigung zu dir zu Liebe wurde, aber auf einmal erkannte ich eben, daß da etwas war, das mir unendlich viel wertvoller war als alles, was ich vorher gekannt habe..."
"Ich weiß", sagte Keli ruhig. "Aber du hast es bisher noch nie gesagt."
Sie sahen sich an, und jeder sah ein Stück Ewigkeit in den Augen des anderen. Die Nacht hatte einen Teil ihres Schreckens verloren.
Am nächsten Tag ritt Terion in das Lager der Söldner. Er kam alleine und fragte sich zu Sinjes Zelt durch. Als er es schließlich erreichte, saß er ab. Ein Wächter stand vor dem Zelt, winkte Terion jedoch nur wortlos hindurch. Der Prinz betrat das Zelt.
Rani saß auf einem Stuhl hinter einem großen, massiven Tisch, auf dem eine Karte des Landes ausgebreitet lag. Sie schien ihn zu erwarten.
"Setz dich, Terion", forderte sie ihn auf und wies auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
"Ich ziehe es vor, zu stehen", erwiderte Terion.
"Na, na, stolz geworden? Stolz kann ganz schön unbequem sein." Sie lehnte sich zurück und legte ihre Füße auf einen Hocker. "Was hast du mir zu sagen, Prinzregent von Dahenja?"
"Was willst du hören?"
Rani hob die Augenbrauen. "Rate."
Terion schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht. Ich glaubte einmal, dich zu kennen, aber ich bin mir nicht mehr sicher. Deine Taten sprechen andere Dinge als früher, und ich weiß nicht, ob ich meinem Gefühl glauben soll oder dem, was deine Worte und Taten nach außen hin anzudeuten scheinen."
Eine Weile herrschte Schweigen. Dann räusperte sich Rani. "Ist das alles, was du mir zu sagen hast?"
Terion schien mit sich zu ringen, nach Worten zu ringen. Dann brach es hervor: "Ich habe dich geliebt, Rani. Ich glaube sogar, ich liebe dich auf eine Weise noch immer. Aber ich hatte und habe auch Angst vor dir, und diese Angst machte mir den Gedanken an ein Leben mit dir unmöglich, sogar unerträglich. Vielleicht habe ich dich damals zu hart zurückgewiesen - ich wollte dir nicht wirklich weh tun, aber du hattest mich zutiefst erschreckt. Ich hätte es niemals ertragen können, mit einer Frau zusammenzuleben, die stärker ist als ich; dafür war mein Stolz zu groß. Ich fürchtete, daß ich mich nicht gegen dich würde durchsetzen können, solltest du jemals Grund haben, dich gegen mich zu stellen. Heute bin ich älter und selbstbewußter, aber jetzt ist es zu spät. Was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht mehr geändert werden. Jetzt bitte ich dich nur, Rani, daß du meine Ängste nicht im nachhinein noch wahr werden läßt: Ich flehe dich an, stelle dich nicht gegen mich!"
Sinje stand auf und wandte sich ab. "Und warum sollte ich dir mein Erbe einfach überlassen? Welches Recht glaubst du darauf zu haben, das über meinem Recht steht?"
"Welches Recht hast du denn noch? Du warst nicht da. All die Jahre seit meiner Hochzeit warst du nicht da. Du hattest dein Erbe in dem Moment weggeworfen, als das Leben dir zum ersten Mal Schmerz bereitet hat." Terion unterbrach sich und holte tief Luft. Dann fuhr er ruhiger fort: "Niemand glaubte noch, daß du jemals zurückkehren würdest. Die meisten zweifelten sogar daran, daß du überhaupt noch lebst. Aber ich war hier. Deine Schwester und ich haben an der Seite deines Vaters gestanden und ihm geholfen, sein Volk auch mit zunehmendem Alter noch gut und gerecht zu führen. Das wäre dein Platz gewesen, Rani, und hättest du ihn eingenommen, hätte niemand jemals deinen Anspruch auf Stadt und Land angezweifelt. Du hättest deinen Vater stützen sollen, als er alt wurde. Aber du warst nicht da, und damit hast du in meinen Augen, und nicht nur den meinen, dein Recht auf das Erbe deines Vaters verwirkt."
Noch immer empfand Terion Sinjes Stimme gefährlich ruhig, als sie erwiderte: "Ich habe die Geschicke von Dahenja stets im Auge behalten, und als die Stadt mich am nötigsten brauchte, da war ich da! Ohne mich gäbe es gar keine Stadt mehr, über die wir uns streiten könnten. Gibt mir das nicht einen Teil meines Rechtes zurück?"
Terion schüttelte langsam den Kopf. "Jede beliebige Söldnertruppe hätte tun können, was du getan hast, und dennoch tragen wir nicht jedem beliebigen Söldnerführer den Thron an. Du hast nie gelernt, ein Volk zu führen, Rani. Du weißt nicht, welche Verantwortung und welche Pflichten damit verbunden sind. Ich aber habe all das gelernt, während dein Vater mir Stück für Stück seine Aufgaben überließ. Ich bin ein Herrscher; du aber wärst trotz deiner Abstammung nicht viel mehr als eine Usurpatorin."
"Unterschätze nicht die Pflichten und die Verantwortung, die ein Söldnerführer trägt, Terion. Ich trage diese seit sieben Jahren, und ich glaube, ich bin recht gut darin."
"Du glaubst doch nicht wirklich, daß sich ein gut strukturiertes und durchorganisiertes Heer mit einem Volk aus Männern, Frauen, Alten und Kindern, Armen und Reichen, Gebildeten und Ungebildeten, Gesunden und Kranken, Starken und Schwachen vergleichen läßt? Nein, Rani, deine Fähigkeiten als Söldnerführerin mögen herausragend sein; als Herrscherin müßtest du dennoch ganz von vorne anfangen."
"Ich glaube nicht, daß alle in der Stadt so denken wie du, Terion."
"Sicherlich würden einige Bürger dich unterstützen, sei es aus Tradition oder aus Dankbarkeit. Und sicherlich hast du mit deiner Truppe die stärkeren Arme auf deiner Seite. Aber wenn du nur gekommen bist, um dein Volk zu spalten und Bruder gegen Bruder zu hetzen, dann hättest du uns lieber den Rowenji überlassen."
Rani schwieg; ihre Miene blieb verschlossen.
"Rani", fuhr Terion beschwörend fort, "ich bitte dich, ich flehe dich an, wenn du willst auch auf Knien: Teile nicht unser Volk! Stürze uns nicht in einen weiteren Krieg, nachdem du uns aus diesem gerettet hast."
Rani ging zu ihrer Waffentruhe, öffnete sie und griff ein Schwert heraus. Einen Moment wog sie es in der Hand, dann warf sie es Griff voran Terion zu. Er fing es auf, ließ die Klinge jedoch sofort sinken. Rani zog indessen ihr eigenes Schwert.
"Ich sehe, daß du inzwischen gelernt hast, eine Waffe zu führen."
Terion betrachtete nachdenklich das Schwert in seiner Hand. "Nach den Ereignissen damals habe ich eingesehen, daß ich in der Lage sein muß, mich notfalls selbst zu verteidigen. Insbesondere nachdem dein Vater..." Er sah auf und verstummte.
"Dann nutze jetzt deine Fähigkeiten, Terion, und kämpfe für dein Volk", erwiderte Rani ruhig.
Verständnislos sah Terion sie an. Dann begriff er. "Rani, bitte! Ich will nicht gegen dich kämpfen!"
"Bist du so sicher, daß du verlierst?"
Terion schüttelte den Kopf. "Selbst wenn du schwächer wärst als ich, würde ich nicht gegen dich kämpfen wollen."
"Nicht einmal jetzt, wo ich in deinen Augen dein Volk bedrohe?" Terion zögerte, senkte schließlich den Kopf und schwieg.
"Ich gebe dir einen Tag Bedenkzeit, Terion. Morgen um diese Zeit werde ich vor der Stadt auf dich warten. Kommst du nicht, werde ich sehen, wer in der Stadt auf meiner Seite steht. Bist du aber da, soll unser Kampf entscheiden, wer wem Loyalität schwört."
Ohne ein weiteres Wort ließ Rani ihre Waffe in die Scheide gleiten und verließ das Zelt. Wie betäubt starrte Terion auf das Schwert in seiner Hand. Schließlich löste er sich aus seiner Erstarrung und ging langsam zu der Truhe, aus der Rani es genommen hatte. Er legte die Waffe auf den Truhendeckel, wandte sich um und zuckte zusammen als er einen Mann bemerkte, der offensichtlich die ganze Zeit im Schatten der hinteren Zelthälfte gesessen hatte. Der Fremde war jetzt aufgestanden und wollte ebenfalls das Zelt verlassen. Terion rief ihn an, und er blieb stehen.
"Wer seid Ihr?" fragte Terion scharf. Der Mann drehte sich um, und der Prinz sah in ein ausdrucksvolles Gesicht mit einem Paar unglaublich tiefer brauner Augen, Augen wie Ranis Augen.
"Mein Name ist Jondar. Ich bin die rechte Hand der Prinzessin."
"Ihr nennt sie ebenfalls Prinzessin?"
Jondar lächelte. "Die Frau, die ihr Ranwara nennt, kannte ich bis vor kurzem unter keinem anderen Namen als Sinje Söldnerprinzessin. Sie hat nie ein Wort über ihren wahren Namen oder ihre Abstammung verloren, aber ihre Sprache und ihr Verhalten verrieten uns, daß sie nicht von niedriger Abstammung war."
"Im Moment scheint sie aber keinen besonderen Wert auf edles Verhalten zu legen", erwiderte Terion bitter.
Jondars Miene wurde ausdruckslos. "Es ist nicht meine Sache, die Worte oder Taten meiner Anführerin zu beurteilen." Er wandte sich wieder ab und verließ das Zelt. Terion sah ihm nach und schüttelte langsam den Kopf.
"Oh Rani, Rani", sagte er leise, "was haben wir nur aus dir gemacht."
Später am Abend saßen Jondar und Sinje nebeneinander auf einem Felsen und sahen auf die Stadt herunter.
"Er ist ein sympathischer Mann", sagte Jondar leise. Sinje nickte. "Ich glaube fast, du liebst ihn noch immer", setzte er nach einer Weile hinzu.
Sinje sah ihn an. "Es wäre nichts Echtes gewesen, wenn nicht noch immer ein Schatten davon zurückgeblieben wäre, oder?"
Jondar lächelte. "Würde er dich noch kennen, hätte er gesehen, daß du zweimal dein Spiel beinahe abgebrochen hättest. Allerdings weiß selbst ich noch immer nicht, warum du all das eigentlich tust."
"Ich habe meine Gründe, glaube mir; und sie basieren nicht auf Machthunger oder Habgier." Sie schwiegen eine Weile. Schließlich seufzte Jondar tief und richtete eine Frage an die Sterne.
"Werde ich eigentlich stets der bleiben, der zwei Schritte hinter dir geht, um die Scherben aufzusammeln?"
Sinje lachte auf. Dann wandte sie sich ihm voll zu. "Ich versichere dir, es wird diesmal keine Scherben geben. Und noch etwas versichere ich dir: Wenn all dies vorbei ist, wirst du mehr in der Hand halten als ein paar Bruchstücke."
"Mögen die Götter deine Worte bezeugen, Sinje", erwiderte Jondar leise. "Es wäre an der Zeit."
Sinje faßte seine Hand und führte sie sanft an ihren Bauch. "Oh ja", sagte sie leise, "es wäre an der Zeit."
Als Terion am nächsten Morgen durch das Stadttor trat, erwartete Sinje ihn bereits. Einige ihrer Kämpfer hatten sich am Rande ihres Lagers versammelt, um das Duell zu beobachten, ebenso wie die Stadtbewohner, die sich in großer Menge auf der Stadtmauer eingefunden hatten. Der Oberbefehlshaber der Truppen versuchte, Terion zurückzuhalten.
"Ihr solltet nicht auf ihr Spiel eingehen, Prinz Terion", riet er ihm. "Das Heer steht voll auf Eurer Seite; niemand aus dem Volk wird es wagen, sich gegen Euch zu stellen."
"Aber es wird welche geben, die es versuchen, und sie werden Kämpfer auf ihrer Seite haben, von denen jeder mehrere von unseren aufwiegt. Nein, ich kann und will nicht riskieren, daß es in dieser Stadt zum Kampf kommt. Aber genauso wenig kann und will ich sie kampflos in die Hände eines Menschen legen, den ich nicht für fähig halte, sie gut zu führen. Ich muß mich diesem Zweikampf stellen, es ist der einzige Ausweg, und wenn die Götter auf meiner Seite sind, werde ich ihn trotz allem gewinnen."
"Ich habe nicht Euer Vertrauen in die Götter."
"Es ist die einzige Hoffnung, die ich habe, also halte ich sie fest. Die Götter haben uns vor den Rowenji gerettet, warum also nicht auch heute?" Er wandte sich ab und schritt auf die Ebene hinaus.
Ranwara trug wieder den Jagdanzug vom vorigen Tag. Er war aus festem Leder, das vor leichten Schlägen schützte und ihre Bewegungsfreiheit nicht einschränkte. Auch Terion hatte leichte Rüstung vorgezogen. Er war nicht besonders stark und vertraute daher ebenfalls lieber auf Schnelligkeit und Gewandheit. Seine Hauptsorge aber war seine Kondition - durch die magere Versorgung während der Belagerung fühlte er sich geschwächt. Wenn er siegen wollte, mußte das also schnell geschehen.
Sinje kam ihm entgegen. "Ich freue mich, dich zu sehen, Prinz Terion", begrüßte sie ihn laut. "Daß du kommst, zeigt, daß du zumindest mehr Mumm in den Knochen hast als ich befürchtet hatte. Es wäre schade gewesen, diese Gelegenheit zu verpassen, dir ein paar Schläge zurückzugeben."
Terion blieb stehen. "Ich bitte dich, Rani, überlege noch einmal, ob es nicht doch einen anderen Weg gibt, das hier zu regeln. Denke doch bitte auch an deinen verstorbenen Vater..."
"Vater war ein Dummkopf. Er wünschte sich einen Sohn, und da er keinen hatte, erzog er mich wie einen. Hätte er sich an die Regeln gehalten, hätte er nicht seine Tochter und ich nicht meinen Mann verloren, und wir stünden uns heute nicht mit blanken Klingen gegenüber. Also sprich mir nicht von meinem Vater, sondern kämpfe!" Und sie zog ihr Schwert und stürmte auf ihn zu.
Überrascht griff Terion nach seiner Klinge und konnte sie gerade noch rechtzeitig hochbringen, um den ersten wilden Schlag abzuwehren. Sinje zog sich einen Schritt zurück und ließ sich in Kampfstellung fallen. Schützend hielt Terion seine Klinge vor sich und versuchte, seinen Atem zu regulieren. Dann griff sie wieder an.
Sie drängte Terion vom Anfang an in die Defensive. Die Geschwindigkeit und Heftigkeit, mit der ihre Schläge ihn bedrohten, war zu viel für seine untrainierten Arme. Er spürte, wie die Muskeln begannen, sich zu verkrampfen. Ein bitterer Geschmack stieg in seinen Mund. Er wußte nicht, wie viele Schläge er abgewehrt, wie viele Angriffe er pariert hatte, ehe sie plötzlich von ihm abließ. Auch ihr Atem ging schnell, und ihre Augen brannten wild. Doch schien es bei ihr eher Erregung als Erschöpfung zu sein. Ob sie den Kampf genoß? Ob es ihr wohl Spaß bereitete, Menschen zu besiegen und zu töten?
Sie stand ihm wieder in Kapfstellung gegenüber und musterte ihn. "Du bist besser, als ich gedacht habe", bemerkte sie. "Ich hätte nicht geglaubt, daß du solange durchhalten würdest. Ich werde dir ein Zugeständnis machen, Terion, um meiner Schwester willen: Gewonnen soll bereits haben, wer als erster das Blut des Anderen zum Vorschein bringt. Was hältst du davon?"
Zur Antwort hob Terion sein Schwert und stürmte vor. Diesmal war Sinje die Überraschte. Sie ließ sich auf ein Knie fallen und blockte den Schlag über ihrem Kopf ab. Dann rammte sie ihren Ellbogen in sein Knie. Heißer Schmerz durchzog das Bein, und auch Terion sank zu Boden. Sinje sprang auf und holte aus. Wie ein Racheengel stand sie über ihm.
Mit seinem ganzen Gewicht warf sich nun Terion gegen ihre Beine, und beide stürzten zu Boden. Sie rollten sich nach verschiedenen Seiten weg und sprangen auf. Terion biß die Zähne zusammen, als er das verletzte Knie belastete.
Wieder sprang Sinje auf ihn zu. Terion riß seine Klinge hoch. Eine Handbreit von seiner Kehle entfernt zitterte das Sonnenlicht auf Sinjes Stahl. Und er spürte, daß er weiter näher kam, gegen seinen Widerstand. Er suchte nach der Kraft seiner Angst, der Kraft seiner Wut. Und dann blieb die Klinge stehen, wurde zurückgedrängt, glitt an seinem Stahl entlang außer Gefahr - und ohne eine bewußte Bewegung seinerseits fuhr sein Schwert in einem Bogen herum, und die Spitze der Klinge streifte Fleisch. Einen Moment lang stand Terion wie erstarrt. Sinje ließ ihr Schwert fallen. Ihre Hand fuhr an ihre Seite, und als sie sich wieder löste, war Blut daran. Terion starrte auf die Wunde. Erleichtert bemerkte er, daß es nur eine leichte Verletzung war. Er sah auf, in ihr Gesicht, und traute seinen Augen nicht, denn er glaubte, einen Moment Befriedigung darin gesehen zu haben. Dann nickte sie langsam, wandte sich der Menge zu.
"Ich habe den Prinzen Terion offensichtlich unterschätzt", sagte sie ruhig, doch vernehmlich. "Ich habe mein Wort gegeben und werde es auch halten." Und ehe Terion reagieren konnte, kniete Sinje sich vor ihn, und deutlich schwor sie: "Ich, Ranwara, erste Tochter des letzten Herrschers von Stadt und Land Dahenja, verzichte hiermit für jetzt und mein ganzes Leben vor meinem Volk freiwillig auf das mir nach den Gesetzen zustehende Erbe, und schwöre als Tochter Dahenjas der Königin Kelana und ihrem erwählten Regenten, dem Prinzgemahl Terion, meine Treue. Mögen die Götter meine Zeugen sein."
Sie erhob sich. Doch noch ehe sie sich abwandte, um in ihr Lager zurückzukehren, vor dem bereits ihr Leibarzt wartete, zischte sie Terion zu:
"Aber glaube nicht, daß du Sinje jemals etwas wirst befehlen können."
Die Zeltklappe öffnete sich, und Terion trat ein. Sinje grüßte ihn mit einem Nicken.
Der Prinz stand einen Moment ruhig da. Dann fragte er leise: "Warum?"
Sinje sah ihn an. "Warum was?"
"Du hast mich bewußt siegen lassen. Ich war vielleicht besser, als du erwartet hast, oder einfach nur wilder, aber du hättest mich mehrmals besiegen können. Warum also das ganze Spiel? Nur um mich zu quälen? Das kann ich nicht glauben."
Sinje lächelte. "Oh Terion, denk doch einfach einmal nach. Auch ich liebe mein Volk und möchte es nicht in einen Zwist treiben. Allein meine Anwesenheit allein drohte bereits, einen solchen Zwist hervorzurufen. Während des Kampfes hatten mich bereits einige deiner Offiziere erkannt, und auch die Bürger hätten sich nicht lange über meine Identität hinweg täuschen lassen. Jetzt überlege: ich bin die ältere Tochter, habe also rein rechtlich mehr Anrecht auf den Thron als meine Schwester. Und du bist zwar die ganze Zeit dagewesen, wie du gesagt hast, aber das macht dich noch lange nicht zu einem Dahenjo. Ich hingegen bin eine Tochter der Stadt, und überdies habe ich sie auch noch vor dem Übergriff der Rowenji gerettet - zum zweiten Mal schon, wenn man deine Entführung mitrechnet. Es gibt genug Leute in der Stadt, die dich für zu schwach hielten, einen verweichlichten Gelertenprinzen in dir sahen. Diesen gab mein Auftauchen Auftrieb, und selbst mein sofortiges Bekenntnis zu deiner Herrschaft hätte sie nicht zum Verstummen gebracht. Also mußtest du mich besiegen, mußtest meine Loyalität verdienen. Und genau das hast du getan."
Terion sah aus, als müßte er das erst einmal verdauen. "Also wirklich kein alter Groll?"
Sinje schüttelte den Kopf. "Die ganze Sache ist zwölf Jahre her, selbst ich könnte einen Groll nicht so lange tragen. Außerdem hast erst du mir das Leben möglich gemacht, das ich jetzt führe, und ich versichere dir, ich genieße es. Manchmal erscheint es mir wie ein Eingriff der Götter, daß mir diese Schmuckdose damals entglitt. Ein Leben mit dir wäre ein Leben ständiger Täuschung und Selbsttäuschung gewesen. Hier, unter meinen Leuten, habe ich einen Mann gefunden, der weiß, was und wie ich bin, und mich dafür liebt."
"Der dunkle Mann - Jondar? Deine rechte Hand?"
Sinje nickte. "Er findet dich übrigens sehr sympathisch."
"Ich ihn auch." Terion lachte auf. "Er hat deine Augen."
Sinje lachte ebenfalls. "Das ist mir nie aufgefallen."
Plötzlich, aus einer Regung heraus, nahm Terion sie in den Arm und küßte sie. Etwas bäumte sich in der harten Kämpferin auf. Doch sie unterdrückte die Regung, trat einen Schritt zurück und lächelte. "Lebe wohl, Terion. Und grüße mir Keli. Ich wünsche euch alles Gute."
"Willst du sie denn nicht mehr selber sehen?" Terion wirkte gleichzeitig verlegen und verwundert.
"Ich habe sie schon gesehen."
"Keli? Wann? Wie?"
"Sie war in der Nacht vor dem Kampf bei mir und versuchte, mich von diesem Zweikampf abzubringen", erklärte Sinje. "Ich mußte ihr versprechen, dich auf keinen Fall zu töten."
"Dann hast du selbst ihr nicht die Wahrheit gesagt?"
"Sie hätte es vor dir nicht geheimhalten können. Es ist mir sehr schwer gefallen, ihr die rachsüchtige Verlassene vorzuspielen, aber es war notwendig. Wenn du es gewußt hättest, hättest du nicht halb so gut gekämpft. Du hast mich ehrlich überrascht."
Terion zuckte die Schultern "Es ging eben um alles, was mir etwas bedeutete. Ich habe dich in dem Moment wirklich gehaßt, weil du mich zu etwas zwangst, was ich nicht wollte."
"Doch nun haben alle Dahenji, die sich nach einem starken Herrscher sehnten, den Beweis, daß sie bereits einen haben. Aber trotzdem werde ich ab und zu vorbeikommen, um zu sehen, ob nicht noch ein paar starke Arme gebraucht werden."
"Das hoffe ich, Rani." Er hob noch einmal die Hand zum Gruß und verließ dann das Zelt.
Mit einem seltsamen Gefühl im Magen zog sich Sinje in den hinteren Teil ihres Zeltes zurück, wo Jondar sie erwartete. Dieser lachte leise in sich hinein.
"Eines muß man sagen: Du kannst hervorragend nicht nur mit deinem eigenen Schwert, sondern auch mit dem deines Gegners umgehen."
"Hat man das so deutlich gesehen?"
"Ich beobachte deinen Kampfstil nun seit über zehn Jahren - es wäre ein Armutszeugnis, wenn ich es nicht gemerkt hätte."
Sinje ließ sich auf ihren Hocker fallen und lehnte sich an Jondars Seite. "Was für ein Auftrag ist jetzt dran?"
"Ich habe etwas weit, weit im Osten ausgesucht. Ein paar aufständische Barbaren, die raubend und mordend durch das Land ziehen."
"Genau das Richtige, um sich zu erholen und auf andere Gedanken zu kommen. Laß uns endlich aufbrechen."
[Verena]
Der Befehlshaber der Truppen trat ein. "Ihr habt nach mir geschickt, Prinz Terion?"
"Ja. Komm her." Der Mann trat neben Terion und sah automatisch zu den Feuern hinüber. Auch er wirkte beunruhigt.
"Wie ist der Zustand der Truppe?"
"Die Männer sind satt und ausgeruht. Aber ich weiß nicht, wie lange wir diesen Zustand noch aufrechterhalten können. Das Volk murrt bereits, weil die Soldaten noch immer volle Rationen erhalten, während alle anderen sich einschränken müssen."
Terion seufzte. Dann erklärte er: "Wie du weißt, lasse ich die Rowenji ständig beobachten. In den letzten Tagen wurden sie unruhig, was meiner Meinung nach mit dem Ausbleiben einer Versorgungslieferung zusammenhängt. Auch da drüben wird inzwischen rationiert, und das steigert die Moral der Truppe nicht gerade. Wir müssen diese Gelegenheit nutzen, solange unsere Männer noch stark sind. Wir werden morgen bei Sonnenaufgang einen Ausfall machen."
Der Oberbefehlshaber nickte. "Ich werde die Männer darauf vorbereiten."
"Stelle außerdem einen kleinen Trupp aus deinen besten Reitern zusammen und laß ihnen die schnellsten Pferde geben. Vorrangiges Ziel des Ausbruches muß es sein, diesem Trupp eine Bresche zu schaffen, durch die er die Stadt verlassen kann. Sie sollen mit höchster Geschwindigkeit nach Ravan reiten und dort eine Nachricht überbringen, die ich ihnen morgen früh geben werde. Den Feind werden wir allerdings glauben machen, wir hätten es auf seine Vorräte abgesehen. In Wirklichkeit ist dies aber nur unser zweites Ziel."
"Also soll der Ausbruch von der Westseite aus starten."
"Ja. Und sag den Männern, daß dies möglicherweise unsere letzte Chance ist", setzte Terion hinzu.
"Sag ihnen, sie sollen kämpfen wie eine Tigerin um ihre Jungen."
"Ja, mein Prinz." Der Soldat salutierte und ließ Terion mit seinen Sorgen auf der Westgalerie allein.
Noch jemand beobachtete die Wachfeuer der Rowenji. Auf den Hügeln jenseits der Stadt standen zwei Schatten und sahen in die Ebene hinunter.
"Wenn wir die Aussagen der gefangenen Soldaten von Erkundungs- und Versorgungstrupp richtig interpretiert haben unterhält da unten jede Gruppe mindestens zwei Wachfeuer. Eine Menge Aufwand für ein so altes Täuschungsmanöver", stellte die größere Gestalt fest.
"Da liegst du richtig, Jondar", erwiderte der zweite Schatten, der Stimme nach eine Frau. "Besonders wenn man bedenkt, daß sie nicht mehr allzuviel Brennmaterial haben dürften. Beim Versorgungszug waren allein drei Wagenladungen voll Holz und Stroh dabei. Wir müssen also damit rechnen, daß es vielleicht doch ein paar Mann mehr sind, als wir geschätzt haben."
Jondar nickte. "Und was hast du nun vor, Sinje?"
"Der Plan bleibt bestehen, aber die Männer sollen vorsichtig sein und auf Signale achten. Wir müssen flexibel kämpfen."
"Und wenn die Städter nicht reagieren?"
"Sie müssen reagieren, und zwar schnell, denn ihr Leben hängt ebenso davon ab wie unseres. Sie werden die Rowenji keinen Moment unbeobachtet lassen, und wenn wir losschlagen, werden sie sofort herauskommen, wenn sie auch nur einen Funken Verstand im Kopf haben."
Die Vorbereitungen für den Ausbruch waren so leise wie möglich getroffen worden, um nicht durch lautes Waffengeklirr die Aufmerksamkeit der Wachen der Rowenji zu erregen. Über Hundert Bogenschützen saßen im Schutz der Mauerzinnen bereit und warteten auf das Zeichen, um den hinter dem Tor aufgestellten Soldaten beim Stürmen Deckung zu geben. Terion übergab das flache, versiegelte Päckchen, das seine Nachricht enthielt, dem Anführer der kleinen Reitereinheit.
"Verstaue das gut in deinem Wams", wies er ihn an. "Gib es notfalls an einen anderen Reiter deiner Truppe ab, aber laß es auf keinen Fall in die Hände der Rowenji fallen. Wenn ihr in Ravan angekommen seid, verlangt, unverzüglich vor den Herrscher gebracht zu werden, und übergebt ihm die Nachricht persönlich. Solltet ihr Probleme bekommen, weißt das Siegel auf dem Päckchen vor."
"Jawohl, mein Prinz." Der Reiter verstaute das Päckchen tief in seinem Wams, grüßte ehrerbietig und ging dann zurück zu seiner Gruppe. In diesem Moment bemerkte Terion einen Soldaten, der von der Mauer heruntereilte. Er ging ihm entgegen. Der Soldat zögerte kurz, als er ihn sah, lief dann jedoch auf ihn zu. "Prinz Terion! Herr!"
"Was ist?"
"Dort draußen gibt es Unruhe. Es scheint, daß der Versorgungstrupp aus Rowenja doch noch kommt."
Terion fluchte innerlich. Er brüllte nach dem Oberbefehlshaber und stieg dann selber auf die Mauer, um die Lage zu erfassen. Der Versorgungszug war offensichtlich im Schutz der letzten Nachtstunden aus den Bergen auf die Ebene gezogen und erreichte eben das Lager der Rowenji. Sein Eintreffen brachte früher Leben in das Lager der Feinde als Terion lieb war, und das Bewußtsein des überwundenen Engpasses würde die erhoffte gedämpfte Moral der gegnerischen Soldaten ins Nichts wischen.
Inzwischen war auch der Befehlshaber der Truppen auf der Mauer angelangt. Er wandte sich sofort an Terion.
"Wir sollten losschlagen, solange ihre Aufmerksamkeit noch durch den Troß abgelenkt ist", schlug er vor.
Terion nickte, doch dann bemerkte er etwas, was ihn stutzen ließ. Er hielt den Befehlshaber zurück und lauschte angestrengt in Richtung des Versorgungszugs. Er glaubte, von dort Schreie und Kampflärm zu hören.
"Die Männer sollen absolut ruhig sein", befahl Terion.
Wenige Augenblicke später war alles Gemurmel und Klirren von Rüstungen erstorben. Jetzt hörten es alle.
"Dort drüben wird gekämpft", flüsterte ein Bogenschütze ungläubig.
Terions Augen glitzerten. "öffnet die Tore", brüllte er.
"Sofort alle zum Angriff - auch die Reiter! Das ist unsere Chance!"
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Kritisch beobachtete Sinje ihren Leibarzt bei der Arbeit.
"Daß du mir meinen Erstmann ja sorgfältig wieder zusammenflickst, Meister!" mahnte sie ihn.
Ohne seine Arbeit zu unterbrechen erwiderte er: "Ihr bezahlt mich viel zu gut und seid eine viel zu gute Kämpferin als daß ich wagen würde, nicht mein bestes zu geben, Sinje, und das wisst Ihr auch. Würdet Ihr mir bitte mal das kleine Messer da geben?"
Sinje drückte ihm das Messerchen in die Hand und hockte sich neben dem Sitz nieder, in dem Jondar ergeben darauf wartete, daß der Arzt mit seinem Arm fertig wurde.
"Ausser dem Arm noch irgendwelche Blessuren?"
"Nur ein paar blaue Flecken", antwortete Jondar. "Und das hier wäre auch nicht passiert, wenn du mich nicht in dieses hinderliche Kleid gesteckt hättest."
"Ich habe auch im Kleid gekämpft, also jammere nicht. Ich habe wenig genug Kämpfer, die ich für gut genug halte, um in der Lage zu sein, mit einem Rock zu kämpfen; da konnte ich nicht wählerisch sein. Sie wären mißtrauisch geworden, wenn die Troßhuren gefehlt hätten, und die echten mitzunehmen wäre zu riskant gewesen. Und waren ihre erstaunten Gesichter nicht ein herrlicher Anblick?"
Der Arzt zog den Verband fest, und Jondar seufzte hörbar. "Bist du endlich fertig, du Sadist?"
"Ja. Aber ich komme heute abend wieder, um den Verband zu kontrollieren."
"Ist das eine Drohung?" Der Arzt grinste. "Nein, ein Versprechen."
Er verließ das Zelt, und Jondar wandte sich seiner Anführerin zu. "Wie steht`s mit der Truppe?"
"Vielleicht tröstet es dich, daß fast alle, die als Frauen verkleidet waren, leichte bis mittlere Verletzungen davongetragen haben. Es ist sowieso kaum jemand unverletzt geblieben - unser Flickmeister hat noch einen langen Tag vor sich. Jevan und Kaja werden voraussichtlich nicht mehr kämpfen können, und wir haben drei Tote - Red, Gorant und Veron."
"Zu jung", murmelte Jondar. "Veron war gerade achtzehn. Ich hoffe, das ist die Sache wert. Was willst du überhaupt hier?"
Sinje sah zur Seite, ihr Blick wurde abwesend. "Ich bin gekommen", sagte sie leise, "um ein paar alte Freunde zu besuchen."
Und und sie dachte an jene Tage, als ihr Name noch Ranwara gewesen war...
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Immer wieder drehte sich Ranwara vor ihrem Spiegel. Es war ein ungewohnter Anblick, der sich ihr bot, aber er gefiel ihr, und sie war sicher, daß er auch Terion gefallen würde. Selten hatte sie bisher Kleider getragen, und noch nie ein so feierliches wie dieses. Rani hatte keinen Bruder, und als älteste Tochter des Königs von Stadt und Land Dahenja hatte sie daher auf seinen Ratschluß hin die Erziehung eines Sohnes erhalten. Nun aber hatte ein Mann um Ranwaras Hand angehalten, der alle nötigen Fähigkeiten zur Herrschaft besaß. Sie hatten sich bei einer der seltenen Gelegenheiten kennengelernt, bei denen Rani ein Kleid trug, und wenn es nach Rani ging, sollte er sie nie in Hosen sehen, denn sie hatte den Eindruck, daß ihm das nicht gefallen würde. Es war ja auch nicht mehr nötig, da mit ihm endlich ein Mann ins Haus kommen würde.
Ihre Schwester Kelana trat neben sie und legte ihr ein langes Tuch über die Haare.
"Das gehört sich so für eine verlobte Frau", bemerkte sie dabei. "Du wirst deine Haare jetzt nur noch zu Hause offen tragen können. Ich habe das rot-braun gemusterte ausgesucht, weil es deine braunen Augen am besten betont."
Kelana sah auf das Bild ihrer Schwester im Spiegel. "Du hast die Augen unserer verstorbenen Mutter", sagte sie leise.
"Dafür hast du ihr sanftes Wesen geerbt, Keli", erwiderte Ranwara. "Ich danke dir für deine Hilfe. Ohne dich wäre ich nicht einmal in der Lage, mir die richtigen Kleidungsstücke auszusuchen."
Keli schüttelte den Kopf. "Ich bin immer noch der Meinung, daß Vater einen Fehler begangen hat, dich so wenig in den weiblichen Fertigkeiten unterweisen zu lassen."
"Er wollte sich eben nicht darauf verlassen, daß sich rechtzeitig vor seinem Tod ein Schwiegersohn finden würde, der Stadt und Land würde übernehmen können. Ich habe alles gelernt, was ein Prinz können muß, und die Leute wissen das und hätten mich akzeptiert. Und jetzt werde ich ja Zofen haben, die auf meine Kleidung achten, und genug Muße, um Dinge wie sticken, weben und nähen zu lernen."
"Ich hätte nie gedacht, daß es überhaupt noch dazu kommen würde, daß du diese Dinge freiwillig lernst. Du mußt Terion wirklich sehr lieben."
Ranis Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck. "Ja, Keli, das tue ich. Obwohl er so gar kein Kämpfer ist, gibt er mir alles, was ich mir je von einem Mann gewünscht habe. Sein Blick, seine Berührung wecken Dinge - ich hätte nie zu träumen gewagt, daß es solche Gefühle, solche Gefühlsstärke überhaupt gibt. Ich dachte früher, das sei alles nur albernes Weibergeschwätz. Jetzt erlebe ich es am eigenen Leib, und der Gedanke, ihn womöglich zu verlieren, macht mich rasend. Allein schon darum bin ich zu allem bereit, was er als schicklich ansieht, und er würde es gewiß nicht schicklich finden, wenn ich in Hosen auf meinem Pferd über die Felder stürmen und mit meinem Schwert Vögel jagen würde, wie ich das früher getan habe. So sehr mir all das auch fehlen wird - ich denke, unsere Liebe wiegt das um ein Vielfaches auf."
"Oh ja, das glaube ich, Rani."
Ranwara wandte sich zu ihrer Schwester um und glaubte, einen Moment so etwas wie Trauer in ihren Augen zu sehen. Doch dann lächelte ihre kleine Schwester sie an. "Wenn du willst, kann ich dir heute abend noch ein wenig auf meinem Stickrahmen zeigen."
"Ohnein, lass uns lieber weben oder Tücher malen.! Ich möchte nicht mit völlig zerstochenen Fingern zu meiner Hochzeit kommen - es würde nicht leicht sein, Terion die Gründe dafür zu erklären."
"Ich hoffe nur, daß es dir wirklich so leicht fallen wird, deine Erziehung abzustreifen. - Was wirst du tun, wenn er doch irgendwann erfährt, daß du gelernt hast, ein Pferd zu reiten und eine Waffe zu führen?"
"Ich hoffe, daß ich bis dahin bereits so sehr Frau geworden bin, wie er sich das nur wünschen kann. Dann werden wir gemeinsam darüber lachen, und er wird es vergessen."
"Daß du all das für ihn opferst..."
"Es fällt mir bestimmt nicht leicht. Aber er ist nun einmal mit bestimmten Vorstellungen darüber aufgewachsen, wie eine Frau zu sein hat, und wenn ich ihn halten will, muß ich eben alles tun, um diesen Vorstellungen zu entsprechen."
Rani sah auf ihre Schwester herunter. "Wenn ich bedenke, wie sehr du eigentlich diesem Bild entsprichst..."
Kelana wandte sich ab, und Rani sah, daß sie zitterte. "Keli? Was ist denn mit dir, Keli?" fragte sie besorgt. Dann dämmerte es ihr langsam. "Du liebst ihn ebenfalls, nicht wahr, Keli" sagte sie leise.
Keli nickte, und Rani nahm sie fest in den Arm. "Ich träume von ihm, seit er vor zwei Jahren zum ersten Mal in unseren Hof geritten ist. Ich war dankbar für jedes Wort, daß er an mich gerichtet hat, für jeden Blick, den er mir geschenkt hat. Aber für ihn war ich eben nur ein kleines, unscheinbares Kind. Er hatte immer nur Augen für dich, und nun... ich freue mich ja für dich, Rani, aber..."
"Oh Keli, meine kleine Keli, es tut mir so leid..."
Sanft löste sich Kelana aus der Umarmung ihrer Schwester und wischte sich die Tränen aus den Augen.
"Es ist nun einmal geschehen, und es läßt sich nicht mehr ändern. Wie die Götter es beschließen, so muß man es nehmen. Und jetzt fange nicht auch noch an zu weinen, Rani, denn verweinte Augen wirst du Terion ebenso schwer erklären können wie wunde Finger", mahnte sie sanft.
"Keli, manchmal denke ich, daß sich manch ein Mann eine Scheibe von deinem Mut und deiner Stärke abschneiden könnte."
Kelana lächelte. "Sag nicht so etwas. Und jetzt laß uns endlich hinunter gehen, sie werden schon mit dem Essen auf uns warten."
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Beim Abendessen war Rani ungewöhnlich schweigsam. Terion versuchte mehrmals, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, doch es war erkennbar, daß sie mit ihren Gedanken nicht bei der Sache war. Schließlich legte er seine Hand auf die ihre.
"Rani, was ist mit dir?"
Rani genoß das leise Prickeln, das in ihr aufstieg - wie jedesmal, wenn er sie berührte. Doch es konnte sie diesmal nicht beruhigen. "Es ist nichts, Liebster, ich bin nur ein wenig - müde."
"Das ist es nicht, Rehauge. Ich spüre doch, daß dich etwas bewegt. Ist etwas geschehen?"
"Ich weiß nicht, ob ich es dir sagen kann. Es geht nicht um mich selber."
"Etwas wegen deiner Schwester? Ist etwas mit ihr?"
Rani fragte sich, wie Terion immer ihre Gedanken erriet. "Ja, es ist wegen Keli. Sie hat mir etwas gesagt, was mich beunruhigt."
"Was kann dich denn nur so beunruhigen? Hat sie eine Dummheit begangen?"
"Sie kann nichts dafür. Sie hat sich verliebt, und nun hat sie Kummer, denn er ist einer anderen versprochen."
"Verliebt? Sie ist ja noch ein halbes Kind!"
Rani sah ihn an. "Sie ist nur zwei Jahre jünger als ich. Nach unserem Recht ist sie lange heiratsfähig."
"Nun ja, trotzdem finde ich, daß sie noch sehr jung ist für eine echte Liebe. Wer ist denn der Glückliche?"
Rani wandte sich ab. "Das ist nicht mein Geheimnis. Selbst dir könnte ich das nicht sagen."
"Aber es macht dir Sorgen, und das gefällt mir nicht." Rani sah ihn wieder an und lächelte. "Ich werde versuchen, nicht mehr weiter darüber nachzudenken, Geliebter. Vielleicht ist es auch wirklich nur eine Schwärmerei, die schnell vergeht."
Für den Rest des Abends gab sich Ranwara Mühe, aufmerksam und fröhlich zu wirken. Als das Essen endlich beendet war, entschuldigte sie sich jedoch früh und gab vor, sehr müde zu sein. Terion äußerte den Wunsch, ein wenig durch den Garten zu streifen, und begleitete sie bis zur Treppe.
"Mach dir nicht zu viele Gedanken, Kirschblüte", sagte er leise und gab ihr einen Kuß. Ranis Wangen brannten.
"Gute Nacht, mein Prinz." Und sie wandte sich hastig ab und eilte die Treppe hinauf. Auf ihrem Zimmer angekommen schälte sie sich mühsam aus ihrer Kleidung und löschte die Kerze. Dann setzte sie sich vor ihr Fenster und starrte hinaus in die Nacht. In der Ferne sah sie die Felder im Mondschein liegen. Der dichte Weizen wirkte von hier aus wie eine grau-samtene Decke, und dazwischen schimmerte der Fluß als silbernes Band. Der Anblick beruhigte sie, weckte jedoch gleichzeitig die Sehnsucht in ihr, Sehnsucht nach wilden Ritten, anstrengenden Jagden und erschöpfenden Wettkämpfen. Sie dachte an ihren Braunen, den sie einem jungen Gardisten geschenkt hatte, der mit ihr das Fechten gelernt hatte, und ihr schmales Schwert, das gut verpackt ganz hinten unter ihrem Bett lag. Nein, das alles war jetzt vorbei, sie mußte sich davon lösen... es würde nie mehr so sein.
Sie schreckte aus ihren Gedanken. Hatte sich da nicht eben ein Schatten auf der Mauer bewegt? Sie sah genauer hin, konnte jedoch nichts mehr erkennen. Dann hörte sie einen Kater schreien und ließ sich dadurch beruhigen. Wenig später sah sie plötzlich einen Lichtschein die Straße der Schmiede entlang huschen. Sie fragte sich, wer so spät in der Nacht noch auf sein mochte. Vielleicht ein paar verspätete Zecher aus dem `Sonnenrad´, oder die Wache auf ihrem Rundgang.
Wieder ließ sie ihre Gedanken schweifen, und das Bild ihrer Schwester drängte sich vor ihre Augen. Sie mußte mit jemandem darüber sprechen. Und da er indirekt betroffen war, war es nur recht und billig, wenn sie es Terion sagte. Keli würde das bestimmt verstehen. Schließlich war er ihr Verlobter, und vor ihrem Mann sollte eine Frau keine Geheimnisse haben.
Sie schloß die Fensterläden, warf sich ihr Hauskleid über und verließ leise das Zimmer. Lautlos, um niemanden zu wecken, schlich sie sich über die Galerie zu Terions Räumen, wo sie vorsichtig klopfte. Sie erhielt keine Anwort. Noch einmal klopfte sie, etwas stärker diesmal. Noch immer keine Reaktion. Sie legte ihr Ohr an die Tür und lauschte. Kein Laut war zu hören. Sie legte die Hand auf die Klinke, zögerte jedoch. War das schicklich? Was würde man sagen, wenn man sah, wie sie nachts zum Zimmer ihres Verlobten schlich? Würde man nicht glauben, sie hätte... aber schließlich war er doch ihr Verlobter, und da ging das schließlich niemanden etwas an.
Entschlossen drückte sie die Klinke hinunter. Die Tür war nicht verschlossen. Rani schlüpfte in den dunklen Vorraum und bewegte sich weiter in Richtung Schlafzimmer. Die Tür stand halb offen, doch kein Licht fiel heraus, und es war kein Laut zu hören.. Rani drückte die Tür vorsichtig auf.
"Terion?" Keine Antwort. Das Bett war leer, unberührt, und nirgends eine Spur von Terion. Rani stutze. Konnte er noch so lange im Garten geblieben sein? Vielleicht war er ja auf einer der Steinbänke eingeschlafen?
Sie ging zurück zu ihrem Zimmer, warf sich gegen die Nachtkühle einen schweren Umhang über, schlüpfte in ihre Pantoffeln und eilte dann mit einer Laterne in den Garten hinunter. Die Kieswege leuchteten hell im Mondlicht. Sie folgte ihnen bis zum anderen Ende des Gartens, ohne eine Spur von Terion zu finden. Beunruhigt suchte sie weiter. Schließlich fiel ihr ein dunkler Fleck auf einem Rasenstück nahe der Außenmauer des Gartens auf. Vorsichtig näherte sie sich ihm. Es war ein Stück Stoff, und als Rani es aufhob, erkannte sie es zu ihrem Schrecken als Terions Umhang. Hektisch untersuchte sie ihn. Er war zerrissen und verdreckt, und als sie weiter suchte, fand sie in der Nähe Spuren eines kurzen, aber heftigen Kampfes. Terion war offensichtlich überrascht worden, und alles war so schnell gegangen, daß er noch nicht einmal hatte schreien können:
Terion war vor nicht ganz einer Stunde entführt worden.
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Verschlafen setzte sich der alte Fechtmeister Riva auf, wurde jedoch sofort hellwach, als er erkannte, wer ihn geweckt hatte.
"Prinzessin Rani! Was treibt Euch so spät - oder so früh - aus dem Bett und zu mir?"
"Prinz Terion ist entführt worden. Wir müssen ihn finden, bevor die Verräter ihn aus der Stadt schaffen können."
"Prinz Terion? Entführt? Bei Turkas Urin - wollt Ihr mich auch nicht auf den Arm nehmen?"
"Das ist wohl kaum etwas, womit ich meinen Scherz treiben würde. Macht Euch fertig, Riva, wir müssen in die Stadt und nach ihm forschen. Ich hole solange meine Sachen."
Wenig später kam Ranwara zurück, in ihren dunklen Jagdanzug gekleidet, Schwert und Dolch am Gürtel, das Gesicht hinter einem dunklen Tuch verborgen. Riva schüttelte den Kopf.
"Warum alarmiert Ihr nicht lieber die Wache?"
"Bis die soweit sind, kann es bereits zu spät sein. Außerdem würde ein Alarm die Verräter nur warnen. Solange sie nicht wissen, daß ihr Verbrechen bereits entdeckt worden ist, sind sie vielleicht unvorsichtiger und lassen sich mehr Zeit."
"Da mögt Ihr recht haben, aber dennoch bin ich mir nicht sicher, ob Ihr dabei mitgehen solltet. Ich könnte auch alleine versuchen, ihn zu finden."
"Ihr habt selber gesagt, daß ich ein besserer Schüler war als jeder Mann, also sollte für mich wohl keine echte Gefahr bestehen, solange ich nicht unvorsichtig werde, und das habe ich nicht vor. Aber zuerst sollten wir einmal überlegen, wo wir die Suche beginnen wollen."
Riva wollte erneut widersprechen, doch in Ranwaras Augen sah er eine Wut und Wildheit, die ihn sein Vorhaben vergessen ließ. Statt dessen ging er auf ihren Plan ein.
"Wir sollten zuerst zur Torwache gehen und erfragen, welche Fremden in letzter Zeit in die Stadt gekommen sind und wo sie Quartier bezogen haben."
Ranwara nickte. "Ein Hinweis ist vielleicht, daß ich vorhin in der Straße der Schmiede ein Licht gesehen habe. Sollte eine Gruppe Fremder in diesem Viertel wohnen, werden wir dort mit unseren Nachforschungen beginnen."
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Langsam zog sich die Dunkelheit aus Terions Schädel zurück und hinterließ nur ein stetiges Brummen. Er spürte kalten Stein in seinem Rücken und stellte fest, daß er an einen Eisenring gebunden war. Er hob die Augenlieder, doch die Dunkelheit vor seinen Augen blieb bestehen. Einen Moment befürchtete Terion, durch den harten Schlag auf den Hinterkopf blind geworden zu sein, doch dann sah er einen dünnen Lichtschimmer irgendwo über sich. Er legte den Kopf in den Nacken und erkannte ein Viereck, das wohl von einer Falltür herrührte. Er zerrte an seinen Fesseln, bewirkte jedoch nur, daß sie um so tiefer ins Fleisch schnitten. Er fluchte leise.
Dann hörte er Schritte, und die Luke öffnete sich. Der Umriß eines Kopfes wurde erkennbar.
"Sieh an, der Herr Prinz ist aus dem Reich der Toten zurück. Wir hatten schon Angst, wir hätten Euch ein wenig zu hart gestreichelt."
Im Hintergund hörte Terion einen weiteren Mann auflachen. Den harten Akzent des Sprechers kannte Terion nur zu gut: Diese Männer waren Rowenji, und die Götter allein wußten, was diese Dämonenanbeter mit ihm vorhatten.
Plötzlich gab es einen lauten Schlag. Ruckartig verschwand der Kopf, und die Luke fiel zu. Er glaubte, einen gedämpften Fluch zu hören, dann einen kurzen Kampf. Dann Ruhe.
Schließlich näherten sich leise Schritte. Die Luke öffnete sich, und eine dunkel gekleidete Person sprang zu ihm hinunter. Eine andere leuchtete mit einer Laterne in den Kellerraum. Die dunkle Gestalt zog ein Messer aus ihrem Gürtel, kniete neben ihm nieder und befreite ihn mit wenigen Schnitten von seinen engen Fesseln. Seine Hände und Füße begannen zu prickeln, als das Blut wieder frei zirkulieren konnte.
"Wer seid Ihr?" fragte er.
"Ruhig, Prinz Terion", flüsterte die Gestalt. "Wir müssen schnell hier heraus, bevor die anderen zurückkommen. Steht auf, ich helfe Euch hinauf."
Gehorsam erhob sich Terion. Seine Beine fühlten sich noch etwas schwach an, doch er nahm keine Rücksicht darauf. Der dunkle Kämpfer bot ihm seine Hände als Steigbügel, und der ebenfalls verhüllte Mann oben faßte nach seinen Armen und zog ihn hinauf. In einer Ecke sah Terion seine Bewacher liegen; aus ihren aufgeschnittenen Kehlen sprudelte noch immer Blut. Der im Keller gebliebene Kämpfer sprang hoch, faßte den Lukenrand und zog sich hinauf. Innerlich bewunderte Terion seine Geschmeidigkeit.
Eilig führten sie ihn durch eine Hintertür aus dem Haus. Ein Stück weiter unten in der Gasse stand ein Junge mit einem Pferd. Die Gestalten hießen ihn, aufzusteigen und zum Palast zurück zu reiten. Doch Terion zögerte.
"Wie soll ich Euch danken, wenn ich nicht weiß, wer ihr seid? Sagt mir bitte eure Namen, damit ich euch gebührend belohnen kann!"
"Uns ist es Belohnung genug, den Rowenji einen Strich durch die Rechnung gemacht zu haben", flüsterte der erste.
Und der zweite setzte hinzu: "Wenn Ihr uns wirklich belohnen wollt, dann macht die Prinzessin Rani glücklich."
"Das habe ich sowieso vor, doch wenn das Euer Wunsch ist, will ich es Euch hiermit nochmals versprechen."
Die Gestalten nickten ihm noch einmal zu und wandten sich dann ab. Doch bevor sie in einer der Gassen verschwinden konnten, faßte Terion den ersten noch einmal bei der Hand.
"Laßt mich Euch wenigstens dies als ein Zeichen meines Dankes überlassen."
Er zog sich einen Ring mit einem herrlich reinen Saphir vom Finger und streifte ihn der Gestalt über die behandschuhte Hand. Zum ersten Mal bemerkte Terion, wie schmal diese Finger waren; der Ring saß trotz des Handschuhs locker.
Die Gestalt entriß ihm ihre Hand und eilte davon. Kopfschüttelnd schwang sich Terion auf das Pferd und ritt zum Palast zurück, wo ihn ein verwunderter Wachmann einließ.
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Wenige Stunden später saß Terion beim Frühstück. Enttäuscht stellte er fest, daß Rani fehlte; sie hatte sich mit Unwohlsein entschuldigen lassen. Er fragte sich, ob sie immer noch über die Liebschaft ihrer Schwester grübelte. Er beschloß, sie gleich nach dem Essen aufzusuchen.
"Du siehst übernächtigt aus, mein Sohn", bemerkte Ranis Vater.
Terion lachte auf. "Ich bin heute nacht auch nur sehr kurz und unsanft zum Schlafen gekommen", bemerkte er und berichtete daraufhin seine Erlebnisse. Alle reagierten erschreckt und erstaunt.
"Ich hätte nie gedacht, daß die Rowenji eine solche Frechheit an den Tag legen würden", stellte der König erschüttert fest. "Wir werden wohl unsere Vorsichtsmaßnahmen verstärken müssen."
Terion entschuldigte sich, sobald das Essen beendet war, und ging hinauf zu Ranwaras Räumen. Leise klopfte er an die Tür. Eine Zofe öffnete ihm.
"Die Prinzessin schläft", sagte sie leise.
"Ich möchte nur kurz hineinsehen. Ich werde gleich wieder gehen."
Zögernd ließ die Zofe ihn ein. Er ging zum Schlafzimmer, öffnete ganz vorsichtig die Tür und schlich auf Zehenspitzen zu ihrem Bett. Doch kaum hatte er sich auf wenige Schritte genähert, da fuhr die Prinzessin hoch.
"Wer da?" rief sie. Dann sah sie ihn und entspannte sich. "Terion! Was machst du denn hier?"
"Ich wollte nur sehen, wie es dir geht. Du siehst erschöpft aus."
Ranwara lächelte. "Du auch, mein Prinz. Aber warte einen Moment im Vorzimmer, dann werde ich mich schnell anziehen und zu dir kommen."
"Du mußt nicht meinetwegen aufstehen, wenn du dich nicht wohl fühlst. Schlafe nur weiter, ich werde später wieder kommen."
"Es ist schon gut, ich bin nicht mehr müde. Schicke mir bitte meine Zofe herein."
Terion verließ das Schlafzimmer und sagte der Zofe, daß ihre Herrin nach ihr verlangte. Dann wartete er. Das Zimmer war geschmackvoll eingerichtet, es strahlte Wärme und Weiblichkeit aus. Die Wände waren mit Seidentüchern bespannt, einige Sitzkissen waren verstreut um einen niedrigen Tisch, bedeckt von bunten Seidentüchern, in einer Ecke stand ein Stickrahmen, und in allen Ecken standen kleine Tischchen mit Schälchen, Töpfchen und Schmuckdosen. Eine Dose erregte besonders sein Interesse, da sie anders wirkte als die anderen. Sie war schlichter, nur verziert mit einem Paar gekreuzter Schwerter. Wer mochte einer Frau wohl einen so ungewöhnlichen Schmuck schenken?
Er nahm die Dose in die Hand. Sie war schwer, und er hörte etwas darin klappern. Er griff nach dem Deckel. In diesem Moment betrat Ranwara das Zimmer.
"Terion!"
Terion wandte sich ihr zu, die Dose in der Hand. Ranwaras Anblick bezauberte Terion wie immer, doch in ihren schönen Augen lag etwas Unbekanntes, etwas wie Unruhe oder Angst.
"Woher hast du diese Dose?" fragte Terion neugierig. "Sie ist ein ungewöhnlicher Schmuck für das Zimmer einer Frau."
"Ich habe sie von unserem Fechtmeister Riva geschenkt bekommen."
"Von einem Fechtmeister?"
Ranwara wirkte gereizt. "Er hat mich immer sehr gemocht und schenkte sie mir zum sechzehnten Geburtstag. Es war ein altes Erbstück seiner Familie."
Terion schüttelte die Dose leicht. "Es ist etwas darin. Hat er dir das auch geschenkt?"
"Ich weiß nicht mehr, was darin ist! Ich bitte dich, Terion, laß die dumme Dose und setz dich hier zu mir. Erzähle mir, warum du so übermüdet bist."
Terion ließ sich auf einem der Kissen nieder, behielt die Dose jedoch in der Hand. "Heute nacht ist mir etwas Ungewöhnliches passiert. Stell dir vor, ich bin entführt worden."
Die ganze Zeit, während Terion seiner Verlobten nun die Ereignisse der letzten Nacht schilderte, spielte er mit der Dose. Sie faszinierte ihn ungewöhnlich stark, vielleicht gerade deshalb, weil sie hier so wenig hinpaßte. Hätte er nicht Respekt vor Ranis Wünschen gehabt, hätte er sie längst geöffnet, um zu sehen, ob etwas ähnlich Ungewöhnliches darin verborgen war. Er glaubte Rani nicht, daß sie nicht wußte, was sie enthielt.
Als er seine Erzählung beendet hatte, sah er Rani erwartungsvoll an. Sie lächelte.
"Den Göttern sei Dank, daß die Sache so glimpflich ausgegangen ist", sagte sie leise.
"Und meinen beiden Befreiern", setzte Terion hinzu.
Rani nickte. "Und deinen unbekannten Befreiern. Wer sie wohl waren?" Ihr Blick wanderte einen Moment in die Ferne, doch dann sah sie ihm wieder in die Augen. "Auf jeden Fall würde ich sie auf nahezu jede erdenkliche Art belohnen, wenn ich jemals herausbekäme, wer sie waren. Vielleicht zwei junge Kämpfer aus der Garde, oder Söhne reicher Kaufleute."
"Der eine hatte ganz schmale Hände, fast wie eine Frau. Er war bestimmt nicht von niederer Abstammung." Wieder starrte Terion auf die Dose in seiner Hand. Dann stellte er sie auf den Tisch. Wie nebenbei griff Rani danach und erhob sich, um sie zurück an ihren Platz zu stellen. Terion faßte nach ihr, um sie zurückzuhalten. In diesem Moment entglitt die Dose ihren schlanken Fingern und fiel zu Boden, und für einen Moment wurde ihr Inhalt sichtbar. Sofort bückte sie sich, um alles einzusammeln, doch Terion hielt sie hart zurück. Er traute seinen Augen nicht.
"Woher hast du diesen Ring?" stieß er hervor. Rani zögerte, doch dann warf sie stolz ihren Kopf zurück und richtete sich auf.
"Von dir habe ich ihn erhalten, Prinz Terion, in der letzten Nacht."
Terion ließ sie los, erhob sich und wich vor ihr zurück. "Du warst der Kämpfer mit den schlanken Händen?"
Rani schluckte und nickte.
"Du kannst ein Schwert führen?"
"Nach dem Tod meiner Mutter hatte mein Vater Angst, ohne männlichen Erben zu sterben. Er ließ mich in allem ausbilden, was ein Prinz können mußte, einschließlich der Waffenkunst."
Terion wirkte zutiefst betroffen. Zum ersten Mal sah er die wahre Rani, die selbstbewußte, kämpferischen Frau, zu der sie ihre ungewöhnliche Erziehung gemacht hatte, und sie sah Abscheu in seinen Augen hochsteigen.
"Nein, das ist nicht die Rani, die ich kenne und liebe", sagte er leise. "Die zwei Männer gestern - sie waren tot! Das kannst du nicht getan haben. Das kann nicht sein! Sag, das das nicht wahr ist!" Er schrie jetzt fast.
Doch Ranwara blieb ruhig. "Es ist wahr, und es ist nicht zu ändern. Ich will versuchen, eine so gute Frau zu sein, wie es nur geht, Terion, aber da du dies nun weißt, wäre es sinnlos, es weiter verbergen oder leugnen zu wollen."
Einen Moment stand Terion wie erstarrt, dann stürzte er aus dem Raum.
Rani ließ sich zurück auf die Kissen sinken und vergrub ihr Gesicht in den Armen.
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Gegen Mittag wurde Rani in den Thronsaal gerufen. Als sie kam, trug sie ihre dunkle Jagdkleidung. Terion war auch da; er wandte sich ab, als er sie sah. Rani kniete sich vor ihren Vater.
"Ihr wünschtet mich zu sprechen, mein König und Vater?"
Der alte Mann wirkte bedrückt, und er tat Rani leid. Dabei wußte er noch nicht, daß er bald mehr verlieren würde als nur einen Schwiegersohn.
"Rani, Terion ist zu mir gekommen und hat mich gebeten, eure Verlobung zu lösen. Er hat mir seine Gründe für diesen Wunsch dargelegt, und ich muß sagen, ich kann ihn verstehen. Du hast voreilig gehandelt, Tochter, voreilig und unüberlegt. Du hättest die Sache der Wache überlassen sollen. Du weißt, daß sich all das für eine Frau nicht ziemt. Natürlich trifft auch mich einen Teil der Schuld, denn ich habe dir diese Ausbildung angedeihen lassen, aber ich hatte auf dein Urteilsvermögen vertraut, daß du solches Vorgehen unterlassen würdest, insbesondere jetzt."
Rani erhob sich. "Ich hatte schon damit gerechnet, daß Prinz Terion sich außerstande sehen würde, mit einer Frau zu leben, die ihm einmal überlegen war und ihm vielleicht sogar das Leben gerettet hat", stellte sie mit ausdrucksloser Miene fest. "Kein Mann könnte das, glaube ich. Und da sich die Sache über kurz oder lang herumgesprochen haben wird, wird sich wohl auch kein Mann mehr für die Thronerbin finden. Da ich damit für Dahenja nur noch Schlechtes bringen kann, habe ich beschlossen, Stadt und Land zu verlassen. Lebe wohl, Vater. Und lebt wohl, Prinz Terion - Geliebter."
Sie spuckte es förmlich aus, und mit Befriedigung bemerkte sie, wie er zusammenzuckte. Dann wandte sie sich um und verließ eilig den Saal. Sie hörte, daß ihr jemand folgte, und als sie sich im Hof auf ihr Pferd schwang, sah sie noch einmal zurück. Terion stand im Tor zum Hof und blickte sie an. Sie wußte nicht, was seine Augen ausdrückten - Schmerz, Angst, Abwehr - doch es schien, als versuche er verzweifelt, etwas zu sagen.
Rani wandte sich ab und gab ihrem Pferd die Sporen.
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"Damals lagerten Eskarions Söldner in der Gegend", schloß Sinje ihre Erzählung. "Ich ritt zu ihnen und bat um Aufnahme. Sie lachten mich aus. Ich tötete einen seiner Männer im Zweikampf - der erste Mensch, den ich je getötet habe; die beiden Verräter gingen auf Rivas Konto. Eskarion machte mich zur Unterführerin. Den Rest kennst du."
Eine Weile herrschte Schweigen. Dann bemerkte Jondar: "Das ganze muß über zehn Jahre her sein."
"Ziemlich genau zwölf Jahre. Ich war damals siebzehn."
"Und die ganze Zeit über hast du stets die Geschicke von Dahenja im Auge behalten."
Sinje nickte. "Als ich hörte,daß mein Vater im Sterben lag, eilte ich hierher, um ihn noch einmal zu sehen. Er war zwar ein alter Narr, aber ich habe ihn trotzdem stets geliebt. Und als wir hier ankamen - nun, wir sind zu spät gekommen und doch gerade zur rechten Zeit."
"Und nun?"
"Das werden wir sehen. Wie gesagt, ich möchte ein paar alte Freunde besuchen."
"Prinz Terion? Ist er noch hier?"
Sinje nickte. "Er hat zwei Jahre nach meinem Verschwinden Keli geheiratet, meine Schwester. Er hatte endlich begriffen, was mich damals so beunruhigt hatte, und Keli entsprach genau dem Bild, das er sich von einer Frau machte."
"Und jetzt?"
"Ist er Herrscher von Stadt und Land Dahenja. Aber noch bin ich da - und ich bin die ältere Tochter."
"Sinje! Was hast du vor?"
Nachdenklich musterte Sinje die Zeltwand. "Wir werden sehen. Zunächst will ich den Prinzen besuchen. Er hat mich und meine Offiziere für heute abend zu einem Festmahl eingeladen."
Sinje lachte, und der Ton dieses Lachens gefiel Jondar ganz und gar nicht.
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Als man Terion das Eintreffen der Söldnerführerin Sinje ankündigte, machte er sich auf, um ihr entgegenzureiten. Er war erstaunt, als man ihm berichtete, daß sie alleine kam.
Jubelnde Menschen säumten den ganzen Weg vom Westtor, durch das die Söldnerin einritt, bis zum Palast. Erleichtert sah der Prinz in die glücklichen Gesichter der Bürger, während er durch die Straßen ritt. Noch immer wirkten sie ausgezehrt, aber die Freude über die unerwartete Rettung hatte alles Leid der vergangenen Tage aus ihren Mienen vertrieben. Dann konnte Terion die Söldnerin sehen und zügelte sein Pferd, um sie zu erwarten.
Sie ritt einen schönen Braunen, und das Braun ihrer Kleidung unterstrich den Eindruck, Pferd und Reiterin seien eine Einheit. Als sie näher kam, sah er, daß sie anscheinend Jagdkleidung trug. Das verwunderte ihn, doch gleichzeitig regte sich tief in ihm eine alte, lang vergessene - oder verdrängte - Erinnerung, ohne jedoch sein bewußtes Denken zu erlangen. Er hatte lediglich das vage Gefühl, die Frau bereits einmal gesehen zu haben. Sie trug ihr Haar unter einem Kopftuch, das auch einen Teil ihres Gesichtes bedeckte und dadurch ihre Augen noch mehr hervorhob. Es waren schöne Augen, braun und feurig, wild, kämpferisch. Ein wenig erschreckend, vielleicht. Terion spürte einen leichten Schauer sein Rückgrad hinauflaufen, verdrängte jedoch das seltsame Gefühl.
"Seid gegrüßt, Sinje", rief er, als sie ihn erreichte. "Ich möchte Euch noch einmal aufrichtig für die unerwartete Rettung unserer Stadt danken. Ich bin gekommen, um Euch zur Burg zu begleiten, wo wir ein Festmahl zu Euren Ehren vorbereitet haben. Leider können wir Euch nicht viel mehr Lohn bieten..."
Die Söldnerin streifte das Kopftuch zur Seite, so daß ihr ganzes sonnengebräuntes Gesicht sichtbar wurde. Eine Narbe lief vom linken Ohr über die Wange, aber ansonsten war es in all seiner wettergegerbten Wildheit ein schönes Gesicht.
"Erkennt Ihr mich nicht, Prinz Terion?" unterbrach ihn Sinje vernehmlich.
Verwirrt sah Terion sie an. Doch plötzlich brach die Erinnerung sich Bahn. "Rani?" flüsterte er ungläubig.
"Ranwara, Prinzessin von Dahenja, genannt Sinje, die Söldnerführerin. Ja, mein Prinz, ich bin es. Es scheint, als habe die Vergangenheit uns endlich eingeholt."
"Rani! Wir dachten, du seist tot!"
"Das sehe ich. Ich bin gekommen, um meinen Vater vor seinem Tod noch einmal zu sehen, und mußte die Stadt unter Belagerung finden. Während der Herrschaft meines Vaters hätten die Rowenji niemals diese Frechheit aufgebracht. Daraus schließe ich, daß ein anderer inzwischen die Herrschaft übernommen hat."
Terion nickte. "Kelana ist zur Herrscherin von Dahenja ausgerufen worden, und sie hat mich als ihren Regenten eingesetzt."
"Also hast du schließlich doch noch erlangt, was du durch deine Ablehnung der ersten Tochter beinahe verloren hättest. Wie praktisch, daß ich verschwunden war. Aber jetzt bin ich wieder da, Terion, und ich frage dich: wo ist mein Erbe?"
Unruhe machte sich im umstehenden Volk breit. Die meisten wunderten sich nur, warum es nicht weiter ging, doch die am nächsten Stehenden verbreiteten rasch die Nachricht, daß die Söldnerführerin Sinje in Wirklichkeit die zurückgekehrte Ranwara war, die älteste Tochter des alten Königs. Rufe wurden laut, verstärkten sich zu einem Chor: "Rani! Rani!"
Rani zeigte keine Reaktion, aber sie sah Terion unverwandt in die Augen, und sie merkte, wie er unruhig wurde. Eine Spur von Angst schien sich in seine Augen zu stehlen.
"Was hast du vor, Rani?" flüsterte er.
"Ich habe dir eine Frage gestellt, Terion, und ich warte auf deine Antwort. Ich werde dich jetzt nicht zu deinem Festmahl begleiten, damit ich euch den Appetit nicht verderbe. Aber du kannst mich jederzeit in meinem Lager vor der Stadt finden. Mein Zelt ist das mit den gekreuzten Schwertern auf dem Wimpel." Und sie wandte ihr Pferd um und ritt aus der Stadt.
Langsam wandte auch Terion sein Pferd und kehrte zum Palast zurück. Allmählich verlief sich die Menschenmenge und verbreitete die Nachricht in der ganzen Stadt, daß die Prinzessin Ranwara zurückgekehrt war. Terion indessen ließ sich beim Festmahl entschuldigen und saß den Rest des Tages an seinem Fenster und starrte auf die Zelte der Söldner. Auch er erinnerte sich. Erinnerte sich an die letzte Gelegenheit, bei der er Rani gesehen hatte.
Gegen Abend betrat von ihm unbemerkt Kelana den Raum und legte ihm sanft die Hände auf die Schulter. Dankbar überließ Terion sich ihrer sanften Massage.
"Weißt du, Kelana", sagte er leise, "es gibt etwas, das habe ich dir nie erzählt."
Er spürte, wie sie einen ganz kurzen Moment in ihren Bewegungen innehielt.
"Etwas, das Ranwara betrifft?"
Terion nickte. "Ich habe sie noch einmal gesehen, nachdem sie den Hof verlassen hatte. Sie war da, damals, bei unserer Hochzeit."
Er schwieg einen Moment, versuchte, sich unter Kelanas Händen zu entspannen. "Vielleicht erinnerst du dich noch, daß ich während des Festmahls einmal für eine Weile in den Garten ging. Sie war da, hat auf mich gewartet, auf einer der Steinbänke bei der Mauer. Sie ahnte wohl, daß ich früher oder später kommen würde." Als er die Augen schloß, sah er sie wieder vor sich, wie er sie damals gesehen hatte: eine wilde, freie junge Frau, die ein Selbstbewußtsein ausstrahlte, von dem er niemals geglaubt hatte, daß eine Frau es besitzen konnte. Sie hatte damals schon diese Narbe gehabt, doch er hatte es vergessen.
"Sie erinnerte mich damals an meine Schwüre ihr gegenüber - daß ich zweimal versprochen hatte, sie glücklich zu machen, und beide Versprechen gebrochen hatte. Sie schwor, Rache an mir zu nehmen, sollte ich auch meine Versprechen dir gegenüber brechen." Unbewußt faßte Terion nach Kelis Händen, zog sie an seine Lippen. Sie ließ es geschehen.
"Und ist das nun der einzige Grund, daß unsere Ehe seit zehn Jahren glücklich ist - deine Angst vor Ranis Rache?"
Terion öffnete die Augen und sah Keli an. "Nein, Keli. Selbst wenn Rani damals nicht da gewesen wäre, wäre unser Leben keinen Moment anders verlaufen. Aber ich wollte verhindern, daß du das denkst - und später habe ich einfach nicht mehr daran gedacht." Er wandte sich ihr voll zu und zog sie zu sich herunter. "Der einzige Grund, warum ich dich geheiratet habe und seit zehn Jahren glücklich bin, Kelana, ist der, daß ich dich liebe."
"So, wie du Rani geliebt hast?" Terion schüttelte den Kopf. "Nein, nicht so. Ruhiger. Tiefer. Meine Liebe zu Rani war heiß, wie eine auflodernde Flamme, die schließlich zu Asche herunterbrennt. Keiner weiß, was aus uns geworden wäre, hätten wir damals den Fehler begangen, zu heiraten. Ich weiß nicht, wann meine anfangs nur freundschaftliche Zuneigung zu dir zu Liebe wurde, aber auf einmal erkannte ich eben, daß da etwas war, das mir unendlich viel wertvoller war als alles, was ich vorher gekannt habe..."
"Ich weiß", sagte Keli ruhig. "Aber du hast es bisher noch nie gesagt."
Sie sahen sich an, und jeder sah ein Stück Ewigkeit in den Augen des anderen. Die Nacht hatte einen Teil ihres Schreckens verloren.
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Am nächsten Tag ritt Terion in das Lager der Söldner. Er kam alleine und fragte sich zu Sinjes Zelt durch. Als er es schließlich erreichte, saß er ab. Ein Wächter stand vor dem Zelt, winkte Terion jedoch nur wortlos hindurch. Der Prinz betrat das Zelt.
Rani saß auf einem Stuhl hinter einem großen, massiven Tisch, auf dem eine Karte des Landes ausgebreitet lag. Sie schien ihn zu erwarten.
"Setz dich, Terion", forderte sie ihn auf und wies auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
"Ich ziehe es vor, zu stehen", erwiderte Terion.
"Na, na, stolz geworden? Stolz kann ganz schön unbequem sein." Sie lehnte sich zurück und legte ihre Füße auf einen Hocker. "Was hast du mir zu sagen, Prinzregent von Dahenja?"
"Was willst du hören?"
Rani hob die Augenbrauen. "Rate."
Terion schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht. Ich glaubte einmal, dich zu kennen, aber ich bin mir nicht mehr sicher. Deine Taten sprechen andere Dinge als früher, und ich weiß nicht, ob ich meinem Gefühl glauben soll oder dem, was deine Worte und Taten nach außen hin anzudeuten scheinen."
Eine Weile herrschte Schweigen. Dann räusperte sich Rani. "Ist das alles, was du mir zu sagen hast?"
Terion schien mit sich zu ringen, nach Worten zu ringen. Dann brach es hervor: "Ich habe dich geliebt, Rani. Ich glaube sogar, ich liebe dich auf eine Weise noch immer. Aber ich hatte und habe auch Angst vor dir, und diese Angst machte mir den Gedanken an ein Leben mit dir unmöglich, sogar unerträglich. Vielleicht habe ich dich damals zu hart zurückgewiesen - ich wollte dir nicht wirklich weh tun, aber du hattest mich zutiefst erschreckt. Ich hätte es niemals ertragen können, mit einer Frau zusammenzuleben, die stärker ist als ich; dafür war mein Stolz zu groß. Ich fürchtete, daß ich mich nicht gegen dich würde durchsetzen können, solltest du jemals Grund haben, dich gegen mich zu stellen. Heute bin ich älter und selbstbewußter, aber jetzt ist es zu spät. Was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht mehr geändert werden. Jetzt bitte ich dich nur, Rani, daß du meine Ängste nicht im nachhinein noch wahr werden läßt: Ich flehe dich an, stelle dich nicht gegen mich!"
Sinje stand auf und wandte sich ab. "Und warum sollte ich dir mein Erbe einfach überlassen? Welches Recht glaubst du darauf zu haben, das über meinem Recht steht?"
"Welches Recht hast du denn noch? Du warst nicht da. All die Jahre seit meiner Hochzeit warst du nicht da. Du hattest dein Erbe in dem Moment weggeworfen, als das Leben dir zum ersten Mal Schmerz bereitet hat." Terion unterbrach sich und holte tief Luft. Dann fuhr er ruhiger fort: "Niemand glaubte noch, daß du jemals zurückkehren würdest. Die meisten zweifelten sogar daran, daß du überhaupt noch lebst. Aber ich war hier. Deine Schwester und ich haben an der Seite deines Vaters gestanden und ihm geholfen, sein Volk auch mit zunehmendem Alter noch gut und gerecht zu führen. Das wäre dein Platz gewesen, Rani, und hättest du ihn eingenommen, hätte niemand jemals deinen Anspruch auf Stadt und Land angezweifelt. Du hättest deinen Vater stützen sollen, als er alt wurde. Aber du warst nicht da, und damit hast du in meinen Augen, und nicht nur den meinen, dein Recht auf das Erbe deines Vaters verwirkt."
Noch immer empfand Terion Sinjes Stimme gefährlich ruhig, als sie erwiderte: "Ich habe die Geschicke von Dahenja stets im Auge behalten, und als die Stadt mich am nötigsten brauchte, da war ich da! Ohne mich gäbe es gar keine Stadt mehr, über die wir uns streiten könnten. Gibt mir das nicht einen Teil meines Rechtes zurück?"
Terion schüttelte langsam den Kopf. "Jede beliebige Söldnertruppe hätte tun können, was du getan hast, und dennoch tragen wir nicht jedem beliebigen Söldnerführer den Thron an. Du hast nie gelernt, ein Volk zu führen, Rani. Du weißt nicht, welche Verantwortung und welche Pflichten damit verbunden sind. Ich aber habe all das gelernt, während dein Vater mir Stück für Stück seine Aufgaben überließ. Ich bin ein Herrscher; du aber wärst trotz deiner Abstammung nicht viel mehr als eine Usurpatorin."
"Unterschätze nicht die Pflichten und die Verantwortung, die ein Söldnerführer trägt, Terion. Ich trage diese seit sieben Jahren, und ich glaube, ich bin recht gut darin."
"Du glaubst doch nicht wirklich, daß sich ein gut strukturiertes und durchorganisiertes Heer mit einem Volk aus Männern, Frauen, Alten und Kindern, Armen und Reichen, Gebildeten und Ungebildeten, Gesunden und Kranken, Starken und Schwachen vergleichen läßt? Nein, Rani, deine Fähigkeiten als Söldnerführerin mögen herausragend sein; als Herrscherin müßtest du dennoch ganz von vorne anfangen."
"Ich glaube nicht, daß alle in der Stadt so denken wie du, Terion."
"Sicherlich würden einige Bürger dich unterstützen, sei es aus Tradition oder aus Dankbarkeit. Und sicherlich hast du mit deiner Truppe die stärkeren Arme auf deiner Seite. Aber wenn du nur gekommen bist, um dein Volk zu spalten und Bruder gegen Bruder zu hetzen, dann hättest du uns lieber den Rowenji überlassen."
Rani schwieg; ihre Miene blieb verschlossen.
"Rani", fuhr Terion beschwörend fort, "ich bitte dich, ich flehe dich an, wenn du willst auch auf Knien: Teile nicht unser Volk! Stürze uns nicht in einen weiteren Krieg, nachdem du uns aus diesem gerettet hast."
Rani ging zu ihrer Waffentruhe, öffnete sie und griff ein Schwert heraus. Einen Moment wog sie es in der Hand, dann warf sie es Griff voran Terion zu. Er fing es auf, ließ die Klinge jedoch sofort sinken. Rani zog indessen ihr eigenes Schwert.
"Ich sehe, daß du inzwischen gelernt hast, eine Waffe zu führen."
Terion betrachtete nachdenklich das Schwert in seiner Hand. "Nach den Ereignissen damals habe ich eingesehen, daß ich in der Lage sein muß, mich notfalls selbst zu verteidigen. Insbesondere nachdem dein Vater..." Er sah auf und verstummte.
"Dann nutze jetzt deine Fähigkeiten, Terion, und kämpfe für dein Volk", erwiderte Rani ruhig.
Verständnislos sah Terion sie an. Dann begriff er. "Rani, bitte! Ich will nicht gegen dich kämpfen!"
"Bist du so sicher, daß du verlierst?"
Terion schüttelte den Kopf. "Selbst wenn du schwächer wärst als ich, würde ich nicht gegen dich kämpfen wollen."
"Nicht einmal jetzt, wo ich in deinen Augen dein Volk bedrohe?" Terion zögerte, senkte schließlich den Kopf und schwieg.
"Ich gebe dir einen Tag Bedenkzeit, Terion. Morgen um diese Zeit werde ich vor der Stadt auf dich warten. Kommst du nicht, werde ich sehen, wer in der Stadt auf meiner Seite steht. Bist du aber da, soll unser Kampf entscheiden, wer wem Loyalität schwört."
Ohne ein weiteres Wort ließ Rani ihre Waffe in die Scheide gleiten und verließ das Zelt. Wie betäubt starrte Terion auf das Schwert in seiner Hand. Schließlich löste er sich aus seiner Erstarrung und ging langsam zu der Truhe, aus der Rani es genommen hatte. Er legte die Waffe auf den Truhendeckel, wandte sich um und zuckte zusammen als er einen Mann bemerkte, der offensichtlich die ganze Zeit im Schatten der hinteren Zelthälfte gesessen hatte. Der Fremde war jetzt aufgestanden und wollte ebenfalls das Zelt verlassen. Terion rief ihn an, und er blieb stehen.
"Wer seid Ihr?" fragte Terion scharf. Der Mann drehte sich um, und der Prinz sah in ein ausdrucksvolles Gesicht mit einem Paar unglaublich tiefer brauner Augen, Augen wie Ranis Augen.
"Mein Name ist Jondar. Ich bin die rechte Hand der Prinzessin."
"Ihr nennt sie ebenfalls Prinzessin?"
Jondar lächelte. "Die Frau, die ihr Ranwara nennt, kannte ich bis vor kurzem unter keinem anderen Namen als Sinje Söldnerprinzessin. Sie hat nie ein Wort über ihren wahren Namen oder ihre Abstammung verloren, aber ihre Sprache und ihr Verhalten verrieten uns, daß sie nicht von niedriger Abstammung war."
"Im Moment scheint sie aber keinen besonderen Wert auf edles Verhalten zu legen", erwiderte Terion bitter.
Jondars Miene wurde ausdruckslos. "Es ist nicht meine Sache, die Worte oder Taten meiner Anführerin zu beurteilen." Er wandte sich wieder ab und verließ das Zelt. Terion sah ihm nach und schüttelte langsam den Kopf.
"Oh Rani, Rani", sagte er leise, "was haben wir nur aus dir gemacht."
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Später am Abend saßen Jondar und Sinje nebeneinander auf einem Felsen und sahen auf die Stadt herunter.
"Er ist ein sympathischer Mann", sagte Jondar leise. Sinje nickte. "Ich glaube fast, du liebst ihn noch immer", setzte er nach einer Weile hinzu.
Sinje sah ihn an. "Es wäre nichts Echtes gewesen, wenn nicht noch immer ein Schatten davon zurückgeblieben wäre, oder?"
Jondar lächelte. "Würde er dich noch kennen, hätte er gesehen, daß du zweimal dein Spiel beinahe abgebrochen hättest. Allerdings weiß selbst ich noch immer nicht, warum du all das eigentlich tust."
"Ich habe meine Gründe, glaube mir; und sie basieren nicht auf Machthunger oder Habgier." Sie schwiegen eine Weile. Schließlich seufzte Jondar tief und richtete eine Frage an die Sterne.
"Werde ich eigentlich stets der bleiben, der zwei Schritte hinter dir geht, um die Scherben aufzusammeln?"
Sinje lachte auf. Dann wandte sie sich ihm voll zu. "Ich versichere dir, es wird diesmal keine Scherben geben. Und noch etwas versichere ich dir: Wenn all dies vorbei ist, wirst du mehr in der Hand halten als ein paar Bruchstücke."
"Mögen die Götter deine Worte bezeugen, Sinje", erwiderte Jondar leise. "Es wäre an der Zeit."
Sinje faßte seine Hand und führte sie sanft an ihren Bauch. "Oh ja", sagte sie leise, "es wäre an der Zeit."
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Als Terion am nächsten Morgen durch das Stadttor trat, erwartete Sinje ihn bereits. Einige ihrer Kämpfer hatten sich am Rande ihres Lagers versammelt, um das Duell zu beobachten, ebenso wie die Stadtbewohner, die sich in großer Menge auf der Stadtmauer eingefunden hatten. Der Oberbefehlshaber der Truppen versuchte, Terion zurückzuhalten.
"Ihr solltet nicht auf ihr Spiel eingehen, Prinz Terion", riet er ihm. "Das Heer steht voll auf Eurer Seite; niemand aus dem Volk wird es wagen, sich gegen Euch zu stellen."
"Aber es wird welche geben, die es versuchen, und sie werden Kämpfer auf ihrer Seite haben, von denen jeder mehrere von unseren aufwiegt. Nein, ich kann und will nicht riskieren, daß es in dieser Stadt zum Kampf kommt. Aber genauso wenig kann und will ich sie kampflos in die Hände eines Menschen legen, den ich nicht für fähig halte, sie gut zu führen. Ich muß mich diesem Zweikampf stellen, es ist der einzige Ausweg, und wenn die Götter auf meiner Seite sind, werde ich ihn trotz allem gewinnen."
"Ich habe nicht Euer Vertrauen in die Götter."
"Es ist die einzige Hoffnung, die ich habe, also halte ich sie fest. Die Götter haben uns vor den Rowenji gerettet, warum also nicht auch heute?" Er wandte sich ab und schritt auf die Ebene hinaus.
Ranwara trug wieder den Jagdanzug vom vorigen Tag. Er war aus festem Leder, das vor leichten Schlägen schützte und ihre Bewegungsfreiheit nicht einschränkte. Auch Terion hatte leichte Rüstung vorgezogen. Er war nicht besonders stark und vertraute daher ebenfalls lieber auf Schnelligkeit und Gewandheit. Seine Hauptsorge aber war seine Kondition - durch die magere Versorgung während der Belagerung fühlte er sich geschwächt. Wenn er siegen wollte, mußte das also schnell geschehen.
Sinje kam ihm entgegen. "Ich freue mich, dich zu sehen, Prinz Terion", begrüßte sie ihn laut. "Daß du kommst, zeigt, daß du zumindest mehr Mumm in den Knochen hast als ich befürchtet hatte. Es wäre schade gewesen, diese Gelegenheit zu verpassen, dir ein paar Schläge zurückzugeben."
Terion blieb stehen. "Ich bitte dich, Rani, überlege noch einmal, ob es nicht doch einen anderen Weg gibt, das hier zu regeln. Denke doch bitte auch an deinen verstorbenen Vater..."
"Vater war ein Dummkopf. Er wünschte sich einen Sohn, und da er keinen hatte, erzog er mich wie einen. Hätte er sich an die Regeln gehalten, hätte er nicht seine Tochter und ich nicht meinen Mann verloren, und wir stünden uns heute nicht mit blanken Klingen gegenüber. Also sprich mir nicht von meinem Vater, sondern kämpfe!" Und sie zog ihr Schwert und stürmte auf ihn zu.
Überrascht griff Terion nach seiner Klinge und konnte sie gerade noch rechtzeitig hochbringen, um den ersten wilden Schlag abzuwehren. Sinje zog sich einen Schritt zurück und ließ sich in Kampfstellung fallen. Schützend hielt Terion seine Klinge vor sich und versuchte, seinen Atem zu regulieren. Dann griff sie wieder an.
Sie drängte Terion vom Anfang an in die Defensive. Die Geschwindigkeit und Heftigkeit, mit der ihre Schläge ihn bedrohten, war zu viel für seine untrainierten Arme. Er spürte, wie die Muskeln begannen, sich zu verkrampfen. Ein bitterer Geschmack stieg in seinen Mund. Er wußte nicht, wie viele Schläge er abgewehrt, wie viele Angriffe er pariert hatte, ehe sie plötzlich von ihm abließ. Auch ihr Atem ging schnell, und ihre Augen brannten wild. Doch schien es bei ihr eher Erregung als Erschöpfung zu sein. Ob sie den Kampf genoß? Ob es ihr wohl Spaß bereitete, Menschen zu besiegen und zu töten?
Sie stand ihm wieder in Kapfstellung gegenüber und musterte ihn. "Du bist besser, als ich gedacht habe", bemerkte sie. "Ich hätte nicht geglaubt, daß du solange durchhalten würdest. Ich werde dir ein Zugeständnis machen, Terion, um meiner Schwester willen: Gewonnen soll bereits haben, wer als erster das Blut des Anderen zum Vorschein bringt. Was hältst du davon?"
Zur Antwort hob Terion sein Schwert und stürmte vor. Diesmal war Sinje die Überraschte. Sie ließ sich auf ein Knie fallen und blockte den Schlag über ihrem Kopf ab. Dann rammte sie ihren Ellbogen in sein Knie. Heißer Schmerz durchzog das Bein, und auch Terion sank zu Boden. Sinje sprang auf und holte aus. Wie ein Racheengel stand sie über ihm.
Mit seinem ganzen Gewicht warf sich nun Terion gegen ihre Beine, und beide stürzten zu Boden. Sie rollten sich nach verschiedenen Seiten weg und sprangen auf. Terion biß die Zähne zusammen, als er das verletzte Knie belastete.
Wieder sprang Sinje auf ihn zu. Terion riß seine Klinge hoch. Eine Handbreit von seiner Kehle entfernt zitterte das Sonnenlicht auf Sinjes Stahl. Und er spürte, daß er weiter näher kam, gegen seinen Widerstand. Er suchte nach der Kraft seiner Angst, der Kraft seiner Wut. Und dann blieb die Klinge stehen, wurde zurückgedrängt, glitt an seinem Stahl entlang außer Gefahr - und ohne eine bewußte Bewegung seinerseits fuhr sein Schwert in einem Bogen herum, und die Spitze der Klinge streifte Fleisch. Einen Moment lang stand Terion wie erstarrt. Sinje ließ ihr Schwert fallen. Ihre Hand fuhr an ihre Seite, und als sie sich wieder löste, war Blut daran. Terion starrte auf die Wunde. Erleichtert bemerkte er, daß es nur eine leichte Verletzung war. Er sah auf, in ihr Gesicht, und traute seinen Augen nicht, denn er glaubte, einen Moment Befriedigung darin gesehen zu haben. Dann nickte sie langsam, wandte sich der Menge zu.
"Ich habe den Prinzen Terion offensichtlich unterschätzt", sagte sie ruhig, doch vernehmlich. "Ich habe mein Wort gegeben und werde es auch halten." Und ehe Terion reagieren konnte, kniete Sinje sich vor ihn, und deutlich schwor sie: "Ich, Ranwara, erste Tochter des letzten Herrschers von Stadt und Land Dahenja, verzichte hiermit für jetzt und mein ganzes Leben vor meinem Volk freiwillig auf das mir nach den Gesetzen zustehende Erbe, und schwöre als Tochter Dahenjas der Königin Kelana und ihrem erwählten Regenten, dem Prinzgemahl Terion, meine Treue. Mögen die Götter meine Zeugen sein."
Sie erhob sich. Doch noch ehe sie sich abwandte, um in ihr Lager zurückzukehren, vor dem bereits ihr Leibarzt wartete, zischte sie Terion zu:
"Aber glaube nicht, daß du Sinje jemals etwas wirst befehlen können."
* |
Die Zeltklappe öffnete sich, und Terion trat ein. Sinje grüßte ihn mit einem Nicken.
Der Prinz stand einen Moment ruhig da. Dann fragte er leise: "Warum?"
Sinje sah ihn an. "Warum was?"
"Du hast mich bewußt siegen lassen. Ich war vielleicht besser, als du erwartet hast, oder einfach nur wilder, aber du hättest mich mehrmals besiegen können. Warum also das ganze Spiel? Nur um mich zu quälen? Das kann ich nicht glauben."
Sinje lächelte. "Oh Terion, denk doch einfach einmal nach. Auch ich liebe mein Volk und möchte es nicht in einen Zwist treiben. Allein meine Anwesenheit allein drohte bereits, einen solchen Zwist hervorzurufen. Während des Kampfes hatten mich bereits einige deiner Offiziere erkannt, und auch die Bürger hätten sich nicht lange über meine Identität hinweg täuschen lassen. Jetzt überlege: ich bin die ältere Tochter, habe also rein rechtlich mehr Anrecht auf den Thron als meine Schwester. Und du bist zwar die ganze Zeit dagewesen, wie du gesagt hast, aber das macht dich noch lange nicht zu einem Dahenjo. Ich hingegen bin eine Tochter der Stadt, und überdies habe ich sie auch noch vor dem Übergriff der Rowenji gerettet - zum zweiten Mal schon, wenn man deine Entführung mitrechnet. Es gibt genug Leute in der Stadt, die dich für zu schwach hielten, einen verweichlichten Gelertenprinzen in dir sahen. Diesen gab mein Auftauchen Auftrieb, und selbst mein sofortiges Bekenntnis zu deiner Herrschaft hätte sie nicht zum Verstummen gebracht. Also mußtest du mich besiegen, mußtest meine Loyalität verdienen. Und genau das hast du getan."
Terion sah aus, als müßte er das erst einmal verdauen. "Also wirklich kein alter Groll?"
Sinje schüttelte den Kopf. "Die ganze Sache ist zwölf Jahre her, selbst ich könnte einen Groll nicht so lange tragen. Außerdem hast erst du mir das Leben möglich gemacht, das ich jetzt führe, und ich versichere dir, ich genieße es. Manchmal erscheint es mir wie ein Eingriff der Götter, daß mir diese Schmuckdose damals entglitt. Ein Leben mit dir wäre ein Leben ständiger Täuschung und Selbsttäuschung gewesen. Hier, unter meinen Leuten, habe ich einen Mann gefunden, der weiß, was und wie ich bin, und mich dafür liebt."
"Der dunkle Mann - Jondar? Deine rechte Hand?"
Sinje nickte. "Er findet dich übrigens sehr sympathisch."
"Ich ihn auch." Terion lachte auf. "Er hat deine Augen."
Sinje lachte ebenfalls. "Das ist mir nie aufgefallen."
Plötzlich, aus einer Regung heraus, nahm Terion sie in den Arm und küßte sie. Etwas bäumte sich in der harten Kämpferin auf. Doch sie unterdrückte die Regung, trat einen Schritt zurück und lächelte. "Lebe wohl, Terion. Und grüße mir Keli. Ich wünsche euch alles Gute."
"Willst du sie denn nicht mehr selber sehen?" Terion wirkte gleichzeitig verlegen und verwundert.
"Ich habe sie schon gesehen."
"Keli? Wann? Wie?"
"Sie war in der Nacht vor dem Kampf bei mir und versuchte, mich von diesem Zweikampf abzubringen", erklärte Sinje. "Ich mußte ihr versprechen, dich auf keinen Fall zu töten."
"Dann hast du selbst ihr nicht die Wahrheit gesagt?"
"Sie hätte es vor dir nicht geheimhalten können. Es ist mir sehr schwer gefallen, ihr die rachsüchtige Verlassene vorzuspielen, aber es war notwendig. Wenn du es gewußt hättest, hättest du nicht halb so gut gekämpft. Du hast mich ehrlich überrascht."
Terion zuckte die Schultern "Es ging eben um alles, was mir etwas bedeutete. Ich habe dich in dem Moment wirklich gehaßt, weil du mich zu etwas zwangst, was ich nicht wollte."
"Doch nun haben alle Dahenji, die sich nach einem starken Herrscher sehnten, den Beweis, daß sie bereits einen haben. Aber trotzdem werde ich ab und zu vorbeikommen, um zu sehen, ob nicht noch ein paar starke Arme gebraucht werden."
"Das hoffe ich, Rani." Er hob noch einmal die Hand zum Gruß und verließ dann das Zelt.
Mit einem seltsamen Gefühl im Magen zog sich Sinje in den hinteren Teil ihres Zeltes zurück, wo Jondar sie erwartete. Dieser lachte leise in sich hinein.
"Eines muß man sagen: Du kannst hervorragend nicht nur mit deinem eigenen Schwert, sondern auch mit dem deines Gegners umgehen."
"Hat man das so deutlich gesehen?"
"Ich beobachte deinen Kampfstil nun seit über zehn Jahren - es wäre ein Armutszeugnis, wenn ich es nicht gemerkt hätte."
Sinje ließ sich auf ihren Hocker fallen und lehnte sich an Jondars Seite. "Was für ein Auftrag ist jetzt dran?"
"Ich habe etwas weit, weit im Osten ausgesucht. Ein paar aufständische Barbaren, die raubend und mordend durch das Land ziehen."
"Genau das Richtige, um sich zu erholen und auf andere Gedanken zu kommen. Laß uns endlich aufbrechen."
[Verena]