Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König
Kapitel 3
Kapitel 3: Kleine Helden
"Was machen Sie denn da?"
Ich zuckte zusammen wie ein ertappter Ladendieb und drehte mich um. In
der Tür, die ich offengelassen hatte, stand ein älterer Mann von
bulliger Statur und blickte mich mißtrauisch an. Als Mitarbeiter der
Akademie glaubte er wohl an die Macht des gedruckten Wortes, denn er
hielt einen Aktenordner so mit beiden Händen, als ob er notfalls bereit
wäre, ihn als Waffe gegen mich einzusetzen.
"Ich suche Herrn Schmitt, ist der gar nicht hier?"
"Was wollen Sie denn von ihm?"
"Das geht Sie ja wohl nichts an!"
Schon ein bißchen ungehalten, machte ich einen Schritt auf ihn zu. Er
wich zurück und streckte mir gleichzeitig den Aktenordner entgegen, wie
um mich auf meinem Platz zu bannen. Dann drehte er seinen Kopf über die
Schulter und rief in den Flur hinaus:
"Herr Schneider! Kommen Sie doch mal her!"
Diesen Moment benutzte ich, um das Lesezeichen aus dem Buch zu nehmen
und es in meine Tasche zu stecken. Das Buch legte ich wieder auf den
Tisch. Weil ich jetzt leere Hände hatte, fühlte sich mein Gegenüber
anscheinend erneut bedroht. Denn sofort reckte er mir wieder seine Akten
ins Gesicht, wie es ein Vampirjäger der alten Schule mit seinem Kreuz
nicht besser gekonnt hätte.
Bevor ich noch eine Bemerkung dazu machen konnte, kündigten eilige
Schritte auf dem Flur das Herannahen von Herrn Schneider an, wer immer
das sein mochte. Erleichtert machte mein Akademiker Platz in der Tür und
ließ ihn hinein. Ein weiterer Angestellter der Akademie folgte ihm auf
dem Fuße und schloß sich zwanglos unserer kleinen Gruppe an.
Herr Schneider übernahm sofort die Initiative und kam auf mich
zugetänzelt. Er sah aus wie eine mißlungene Kopie von Don Johnson und
bewegte sich auch so. Die Hände lässig in die Taschen seines Jacketts
gestemmt, sah er mir herausfordernd ins Gesicht und sagte:
"Wer sind Sie und was machen Sie hier?"
Ich fand den ganzen Aufruhr jetzt doch etwas übertrieben und erwiderte
säuerlich:
"Und wer will das wissen?"
Seine rechte Hand kam aus der Tasche geschossen und hielt mir eine
Plastikkarte ins Gesicht. Dazu knurrte er:
"OK, Sunny, das ist meiner, jetzt zeig mir deinen!"
Den Satz mußte er in einem B-Film aufgeschnappt haben. Das paßte zu
seiner Don-Johnson-Imitation, der Ausweis allerdings schien echt zu
sein. "Kripo Wolfenbüttel" stand da und "Inspektor Schneider". Also
holte ich auch meinen Ausweis aus der Tasche und reichte ihn rüber. Er
begutachtete ihn von allen Seiten, notierte sich dann meinen Namen und
Adresse und gab ihn mir wieder.
"Also, noch mal, was wollen Sie von Herrn Schmitt?"
Ich erzählte ihm, daß ich ganz einfach einen alten Freund besuchen
wollte und gar nicht verstand, was eigentlich los war. Um ihn zu
überzeugen, zeigte ich sogar den Brief von Aaron vor. Er überflog ihn
kurz, bat mich um den dazugehörenden Umschlag und verglich die Anschrift
mit meiner eben notierten Adresse. Erst dann verschwand das Mißtrauen
aus seinem Gesicht. Er schickte die beiden Akademiker aus dem Zimmer und
bat mich, Platz zu nehmen.
"Entschuldigen Sie die Behandlung, aber wir sind im Moment ein wenig
empfindlich, was Herrn Schmitt angeht. Vor vier Tagen ist in dieses Büro
eingebrochen worden, und alle seine Papiere wurden durchwühlt. Auch in
seiner Wohnung hat man versucht einzubrechen, und in den Tagen davor hat
sich hier jemand nach ihm erkundigt. Damals hat sich niemand etwas dabei
gedacht, aber jetzt sind wir natürlich vorsichtiger geworden. Wenn Sie
sein Freund sind, verstehen Sie das sicher."
Ich nickte meine Zustimmung.
"Ist denn was gestohlen worden, oder weiß man, was der Einbrecher
gesucht hat?"
"Nein! Das ist es ja gerade! Wir stehen vor einem Rätsel. Anscheinend
traut Aaron gerade Ihnen zu, etwas Licht in dieses Dunkel zu
bringen."
Ich sagte ihm, daß ich keinen blassen Schimmer hätte, aber gerne endlich
mit Aaron selber reden würde.
"Wenn ich wüßte, wo er ist, würd ich's Ihnen sagen, aber ich such ihn ja
selber gerade. Das Problem ist, daß er für seine Arbeit oft in der
ganzen Stadt unterwegs ist, jetzt wahrscheinlich auch. Vielleicht geht
er über Mittag nach Hause, versuchen Sie's doch da mal. Sonst müßte er
eigentlich heut nachmittag wieder hier sein."
Er schrieb mir Aarons Adresse auf einen Zettel und gab ihn mir.
"Wenn Sie ihn noch vor 18 Uhr treffen, sagen Sie ihm doch bitte, er
möchte Theo anrufen. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muß zur
Inspektion."
Ich ging auch. Beim Verlassen des Gebäudes begegnete ich noch einmal dem
bulligen Akademiker von vorhin. Er stand, diesmal ganz unbewaffnet, in
der Tür eines anderen Büros und sah mich kommen. Sein Mißtrauen gegen
mich schien noch wach zu sein, denn er beeilte sich, in sein Zimmer zu
kommen und die Tür zu schließen, bevor ich bei ihm vorbeikam. Ich konnte
mir ein Lächeln nicht verkneifen.
Draußen mußte ich gleich noch einmal lächeln, denn ich sah den smarten
Herrn Schneider mit eiligen Schritten der Fußgängerzone zustreben.
Unwillkürlich ging ich hinter ihm her, aber als mir bewußt wurde, was
ich tat, änderte ich meine Richtung und ging stattdessen auf das Schloß
zu.
Ich wunderte mich darüber, daß ich das Ganze lustig finden konnte, denn
das war es sicher nicht. In Aarons Büro war eingebrochen worden! War das
das "Vorgefallene", von dem er in seinem Brief gesprochen hatte?
Jemand war hinter Aaron her, nein, eigentlich eher hinter seiner Arbeit.
Aber was arbeitete er eigentlich? Das hatte Herr Schneider nicht gesagt.
Und warum interessierte sich überhaupt die Kripo noch nach Tagen dafür,
obwohl doch gar nichts gestohlen worden war?
Das alles mußte etwas mit Lessing zu tun haben! Aaron arbeitete in der
Lessing-Akademie, und auch Andeutungen in seinem Brief gingen in diese
Richtung.
Meine Schritte hatten mich, wie immer wenn ich hier war, am Schloß
vorbeigeführt, und jetzt blickte ich auf das Haus, in dem Lessing die
letzten Jahre seines Lebens gewohnt hatte. Ich überquerte die Straße und
sah auf das Gebäude, als ob hier die Antworten auf meine Fragen liegen
könnten. Am Tor hing ein unscheinbarer kleiner Zettel, und ich ging
näher heran, um ihn lesen zu können.
"Bis auf weiteres geschlossen" stand da, lapidar, keine genaue
Zeitangabe, keine Gründe, nicht einmal eine Unterschrift. Unglaublich!
Aber ich hätte jetzt sowieso nicht die Ruhe dafür gehabt hineinzugehen.
Ich ging rechts um das Haus herum auf dem Weg zur Bibliothek. Ein paar
Schritte weiter stand eine Bank. Das war mein Lieblingsplatz in
Wolfenbüttel. Da hatte ich noch jedesmal gesessen, wenn ich hier gewesen
war. Der Ort war nicht gerade von Touristen überlaufen, und man hatte
einen schönen Blick, auf das Lessinghaus zu seiner Rechten und die
Herzog-August-Bibliothek zur Linken. Genau gegenüber sah man auf das
Zeughaus mit seinen vielgeschossigen Ziergiebeln, das auch damals schon
hier gestanden hatte.
Ich setzte mich auf die Bank und nahm meinen Tabak aus der Tasche, um
mir eine Zigarette zu drehen. Mitten auf dem Platz standen einige große
Lindenbäume. Ich sah zu ihren Wipfeln hinauf und fragte mich, ob diese
Bäume vielleicht auch schon vor 200 Jahren hier gestanden haben
mochten.
Sicherer war ich mir da bei dem steinernen Torbogen, der hinter meiner
Bank stand. Er mußte wohl einmal der Eingang zu Lessings Garten gewesen
sein. Der Garten war verschwunden, auch der Zaun um ihn herum, auch das
Tor selber. Nur der Torbogen war alleine übrig geblieben und stand dort
wie der Eingang in eine andere Welt, wie ein Zaubertor zur
Vergangenheit. Ich hatte schon mal gedacht, man müßte nur hindurchgehen,
und würde dann auf der anderen Seite in Lessings Zeit herauskommen und
könnte ihn in seinem Garten treffen, vielleicht beim Spiel mit seinen
Stiefkindern.
Ich wußte einiges über diese Zeit, gerade auch aus dem Buch, das auf
Aarons Schreibtisch gelegen hatte, dem Daunicht. Von dem Buch wanderten
meine Gedanken wieder zu dem Lesezeichen, und ich suchte danach. In
meiner Tasche hatte es sich schon mit meinem eigenen Blatt
zusammengetan, und als ich jetzt beide herauszog, sah ich sofort, daß
ich recht gehabt hatte: Es war dasselbe Papier und auch dieselbe
Handschrift.
Wie war Aaron zu dem Zettel gekommen? Oder hatte er ihn geschrieben?
Dann mußte auch meiner von ihm stammen! Aber was sollte das? Wollte er
vielleicht dadurch meine Neugier anstacheln? Passen würde das zu ihm,
aber wie sollte er es angestellt haben, den Zettel nach Dortmund und in
mein Auto zu bekommen?
Ich fand keine Antwort auf diese Fragen.
Die Papiere lagen vor mir, eines hatte ich auf mein linkes Bein gelegt,
das andere auf das rechte. Meine Augen wanderten zwischen den Blättern
hin und her und blieben dann plötzlich stehen, weil sich eine schwarze
Schnauze genau dazwischen geschoben hatte. Sie gehörte einem großen
schwarzen Hund, der mich freundlich und auffordernd ansah. Er hatte ein
Stöckchen in seinem Maul und ließ es jetzt zu meinen Füßen fallen. Ganz
offensichtlich wollte er mit mir spielen. Ich nahm den Stock und warf
ihn weg, aber ich schaffte es nur so weit, daß er im nächsten Augenblick
schon wieder da war. Ich suchte nach einem größeren Wurfobjekt und fand
nichts, der Hund wurde ungeduldig und stupste mich ans Bein.
"Hasso! Läßt du wohl den Herrn in Ruhe! Keine Angst, der tut
nichts!"
Ein alter Mann mit Krückstock kam, so schnell er konnte, auf mich zu und
setzte sich schwer atmend zu mir auf die Bank. Ich sagte ihm, daß er
sich keine Sorgen zu machen brauchte, ich hätte keine Angst vor
Hunden.
"Er geht sonst nicht zu jedem, daß er das bei Ihnen macht, müssen Sie
schon als Kompliment verstehen. Er mag Sie."
Ich hielt Hasso meinen Handrücken hin, und er schnüffelte erst und
leckte dann, was ihm wieder einen Verweis von seinem Herrchen
einbrachte. Dann sah er zwischen uns beiden hin und her, und als er
merkte, daß keiner von uns etwas werfen wollte, ließ er sich zu meinen
Füßen nieder.
Der Mann war jetzt wieder zu Atem gekommen und fing an, auf mich
einzuplaudern. Offensichtlich traute er dem Urteil seines Hundes und
hatte mich als vertrauenswürdig eingestuft.
"Ist es nicht schön, daß alles wieder so grün wird? Da hat man doch
gleich wieder Lust zu leben."
Ich mußte lachen, denn mir fiel ein, daß in dem Buch, an das ich eben
noch gedacht hatte, auch eine Anekdote wiedergegeben wird, derzufolge
Lessing auf eine ähnliche Bemerkung, wie sie der Hundebesitzer gerade
gemacht hatte, einmal gesagt haben soll:
"Ach, es ist schon so oft grün geworden, ich wollte es würde einmal
roth."
Ich erzählte dem Mann davon, denn er hatte mein Lachen bemerkt und etwas
entgeistert geguckt.
"Lessing, Lessing, war das nicht so ein verrückter Professor, der hier
mal sein Unwesen getrieben hat?"
Jetzt war ich an der Reihe, entgeistert zu gucken. Ich stammelte etwas
vom größten Denker des 18. Jahrhunderts und wies auf das Haus hin, neben
dem wir saßen.
"Ach, hier hat der gelebt? Ich dachte immer, das Haus gehört noch zu der
Bücherei da drüben. Großer Denker, sagen Sie? Ich weiß nur, daß meine
Oma früher immer über ihn gesagt hat: 'He harre nist, he wuste nist un
he dochte nist!'"
Soweit also das gesunde Volksempfinden der Wolfenbütteler
Bevölkerung!
Na ja, vielleicht konnte mir diese unverbildete Art, die Dinge zu sehen,
ja bei meinem Problem helfen. Ich zeigte dem Mann meine beiden Zettel
und fragte ihn, was er davon hielt. Er las sich beide durch und sagte
dann:
"Ist das ein Rätsel oder was? Ich werd nicht recht schlau daraus.
Scheint um einen Bauernhof zu gehen und um die Vergangenheit. Alexander
war ein Feldherr, aber Cäsarn kenn ich nicht und Mäander auch nicht. Ich
glaub, ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen, vielleicht fragen Sie
besser mal die Studierten in der Bücherei, die kennen sich mit so was
aus."
Ganz so vertrauenswürdig fand er mich plötzlich doch nicht mehr, denn er
nahm seinen Hund an die Leine und verabschiedete sich etwas
überstürzt.
Ich drehte mir eine neue Zigarette, und Tabakkrümel fielen auf die
Gedichtzeilen, zu den "Hühnern und Enten", zu dem "Spitz" und den
"Ratten", und als ich die Zigarette angesteckt hatte, stieg der Rauch
"wie ein feurig Gedicht" empor.
Das Gedicht erschien mir irgendwie vertraut. Das mußte ich schon mal
gelesen haben. Ich strengte mein Gehirn an, aber es fiel mir nicht ein.
Vielleicht konnte etwas Abwechslung die Blockade lösen! Ich setzte die
Kopfhörer meines Walkman auf und schaltete ihn ein. Die Bilder des
Gedichts vermischten sich mit den Klängen der Musik.
Wenn wir an einer Küste stehn
Unter uns das Meer
Fühln wir uns glücklich
Und doch schwer
Wir sehn uns weit von dem entfernt
Was in uns liegt
Wie nutzloses Treibholz
An ein Ufer gespült
Komm, da ist mehr
Ist soviel mehr
Kannst du's sehn?
Kannst du's fühln?
Was wie Fernweh in uns glüht?
Komm, laß uns ziehn
Zur Ferne hin
Wo wir stolz sind und frei
Einfach Wunder dieser Zeit
Je länger ich so saß, mit der Musik in meinen Ohren und dem Gedicht vor
Augen, desto unklarer wurde mir alles. Die Zusammenhänge verschwammen
immer mehr, bis ich gar nichts mehr sicher wußte.
Aaron fiel mir wieder ein. Was könnte das für eine Arbeit sein, die
sogar für Einbrecher interessant war? Herr Schneider hatte gesagt, daß
die Polizei sich das auch nicht erklären konnte. Und Aaron glaubte
angeblich, daß ich es vielleicht aufklären könnte. Dazu müßte ich aber
endlich mal wissen, worum es überhaupt ging.
Da konnte mir nur Aaron weiterhelfen. Ich kramte nach dem Zettel, den
mir Herr Schneider gegeben hatte, und las die Adresse von Aarons
Wohnung. Sie lag gar nicht in Wolfenbüttel, sondern in Hornburg. Ich
wußte nicht genau, wo Hornburg war, nur, daß es irgendwo in der Nähe
sein mußte. Vielleicht gab es in der Tourist-Information ja einen
Übersichtsplan für die Umgebung, der mir weiterhelfen könnte. Bei der
Gelegenheit konnte ich dann auch gleich versuchen, selber eine
Unterkunft zu finden.
Also erstmal zum Stadtmarkt!
Ich ging wieder über die Straße zum Schloßplatz, überquerte ihn und kam
durch die Löwenstraße zu den Krambuden. Die Arkadengänge an den
schiefergedeckten Fachwerkhäusern gehörten sicher zum Schönsten, was die
insgesamt gut erhaltene Altstadt zu bieten hatte, und doch sah ich, wie
früher auch schon, mit etwas Mitleid zu ihnen hinüber. So malerisch das
Ganze nämlich war, so gebrechlich wirkte es auch auf mich. Der ganze
Straßenzug hatte eine gründliche Renovierung nötig, sollte nicht bald
alles zusammenstürzen. Aber diesen Eindruck machten viele Häuser hier,
einige, weil sie schon windschief und aufeinandergestützt gebaut worden
waren, andere, weil lange Zeit nichts zu ihrer Instandhaltung getan
worden war. Mindestens ebenso viele Häuser waren hingegen vorbildlich
restauriert worden, und an anderen wurde zur Zeit noch gearbeitet, wie
zum Beispiel auch am Stadtmarkt.
Aber ich hatte jetzt keine Zeit, genauer hinzusehen, denn wenn ich mich
nicht irrte, würde die Touristen-Information gleich über Mittag
schließen. Ich ignorierte also alle schönen Fassaden und auch das
malerische Treiben auf dem Markt in der freundlichen Frühlingssonne und
ging schnurstracks zur Rathauspassage. Und richtig! Eine Frau war gerade
dabei, die Tür abzuschließen, als ich ankam. Sie sah meine Enttäuschung
und sagte:
"Na, nu weinen Sie man nicht gleich! Fünf Minuten Zeit werd ich schon
noch haben. Die Uhr hat ja noch gar nicht geschlagen. Kommen Sie ruhig
rein!"
Sie schloß die Tür wieder auf und nahm mich mit in den Laden. Das
Telefon klingelte. Schon draußen hatte ich es gehört, aber sie schien es
nicht zu bemerken, oder es störte sie nicht.
"Was kann ich denn so Dringendes für Sie tun?"
Ich fragte nach Ferienwohnungen, weil ich mich in Hotels nicht so recht
wohlfühle, und lieber unbemerkt komme und gehe und für mich selbst
sorge.
Während sie nach dem betreffenden Prospekt kramte, sagte ich:
"Gibt es vielleicht etwas in Hornburg?"
Sie blätterte und schlug die entsprechende Seite auf.
"Gibt es! Sogar mit einer persönlichen Empfehlung von mir. Sehen Sie
hier: Frau Topp, das ist meine Schwägerin. Da sind Sie gut
aufgehoben."
Sie deutete auf einen Eintrag in dem Prospekt, und als ich die Anschrift
las, nickte ich sofort erfreut, denn das war dieselbe Straße, in der
auch Aaron wohnte. Das könnte sicher lustig werden!
Die Touristik-Expertin hob das klingelnde Telefon kurz ab und legte
wieder auf, um die Leitung freizubekommen. Dann wählte sie selbst, und
nach wenigen Minuten erfuhr ich, daß Frau Topp mich erwartete.
Sie händigte mir noch den Prospekt aus, und ich sah, daß er die erhoffte
Übersichtskarte enthielt, so daß ich mehr als zufrieden war und wieder
gehen wollte. Aber sie schien es jetzt nicht mehr so eilig zu haben,
ihre Mittagspause zu beginnen. Stattdessen wollte sie wissen:
"Sind Sie auch zu dem Kongreß der Forstverwaltung hier?"
"Nein, überhaupt nicht! Ich interessiere mich auch eher für Bücher als
für Bäume."
"Dann müssen Sie aber unbedingt die Herzog-August-Bibliothek besuchen.
Da gibt's reichlich Bücher. Sehr sehenswert!"
"Das stimmt, außerdem hat ja auch der berühmteste Wolfenbütteler da
gearbeitet, nicht wahr?"
"Wilhelm Busch? Ne, ich glaub nicht, der war doch eher immer im
Forsthaus unterwegs, oder?"
Ich dankte ihr noch einmal für ihre Freundlichkeit und verabschiedete
mich.
Draußen kämpften die rechtschaffenen Wolfenbütteler Bürger um die
letzten Kohlköpfe. Die hatten sicher auch alle noch nie etwas von
Lessing gehört.
* | * | * |
Er war der Stadtpirat!
Der Stadtpirat brachte Farben in die Stadt!
Er sprühte Bewegung in die verknöcherte Bürgerwelt!
Erweckte sie zum Leben.
Die Frau sah ihn an und lächelte. Sofort verkrampfte sich sein ganzer
Körper. Seine Hände fingen an zu zucken. Er steckte sie tief in die
Hosentaschen, um möglichst unbeteiligt auszusehen. Dann zwang er sich zu
einem kurzen Lächeln und ging weiter.
Der Stadtpirat!
Einsam zwar, aber auch geborgen in dieser Einsamkeit. Keiner konnte ihm
gefährlich werden. Er drängte sich durch die Menge und kam in eine
menschenleere Straße. Er sah sein Spiegelbild in einer
Schaufensterscheibe. Die Erscheinung gefiel ihm, sie sah bunt und
gefährlich aus: der Stadtpirat!
Dann sah er in sein Gesicht, und der Schwindel kam zurück. Die Welt um
ihn herum drehte sich und verschwand, tauchte ein in Nebelschwaden.
Wirbelnde Harmonien kräuselten sich in seinen Geist, verwoben sich mit
seinen Gedanken, waberten unaufhaltsam weiter. Er schwankte. Dann
klammerte er sich wie ein Ertrinkender an einen Laternenpfahl und
kämpfte sich mühsam zurück an die Oberfläche seines eigenen Bewußtseins.
Jetzt wußte er, daß er diese Bedrohung auch bekämpfen mußte, gegen alle,
die einverstanden waren - gegen alle - gegen sich selbst.
Und er konnte kämpfen!
Er konnte siegen!
Er war der Stadtpirat!
Der Stadtpirat!
* | * | * |
Auf der Straße nach Schladen dachte ich wieder an Aaron. Wenn Herr
Schneider recht hatte, würde ich ihn jetzt vielleicht bald treffen.
Langsam wurde es ja auch Zeit!
In Schladen wechselte ich auf die 82 nach Hornburg. Die Straßen waren
fast menschenleer. Anscheinend herrschte hier über Mittag ein strenges
Ausgehverbot, und die Bürgersteige wurden hochgeklappt. Immer wenn ich
durch solche Orte fahre, überkommt mich ein leichter Schauder, und ich
bin heilfroh, daß ich nicht da leben muß.
Willkommen in der Kleinstadtwüste
Im Gartenzaunrevier
Im Ödland zum ewigen Jägerzaun
Er steht vorm Spiegel und hat sich grad
'n Pfund Gel in die Haare geschmiert
Nimmt sein grelles Jacket
Ist enorm adrett
In Hornburg herrschten ganz ähnliche Verhältnisse, und ohne die Karte im
Prospekt hätte ich Schwierigkeiten gehabt, die Wasserstraße zu finden.
Es war einfach kein Mensch unterwegs, den man hätte fragen können, und
die wenigen Geschäfte waren geschlossen. Aber so war ich schnell am
Ziel. Ich parkte vor dem Haus von Frau Topp und suchte dann zuerst
Aarons Wohnung. Sie lag nur ein wenig weiter auf der anderen
Straßenseite. Ich klingelte, wartete, klingelte noch einmal: keine
Reaktion. Dieses Haus war sogar innen ausgestorben.
Also kein Aaron!
Hoffentlich war wenigstens Frau Topp zuhause! Ich überquerte die Straße
und klingelte bei ihr. Ein Mehrfach-Gong ertönte und war noch nicht ganz
verhallt, als die Tür auch schon aufgerissen wurde. Frau Topp hatte mich
offensichtlich erwartet und inzwischen noch einmal mit ihrer Schwägerin
telefoniert, denn sie begrüßte mich freundlich mit den Worten:
"Aha, der Wilhelm-Busch-Verehrer! Haben Sie sich die falsche Hausnummer
notiert?"
Ich ließ den Kollegen Busch im Raum stehen und erzählte ihr, daß
zufällig ein alter Freund von mir schräg gegenüber wohnte.
"Ach, Sie kennen diesen sonderbaren Vogel?"
Schlagartig war ich in ihrem Ansehen gesunken. Sie bat mich herein und
führte mich zu meiner Wohnung. Nachdem sie mir alles gezeigt hatte, nahm
sie mich noch einmal zur Seite und ließ mich "im Vertrauen" wissen:
"Sie sollten mit diesem Herrn ein wenig vorsichtig sein! Es waren schon
zwei Fremde hier, die versucht haben, Nachbarn über ihn auszufragen.
Einer war sogar bei meiner Tochter, und neulich hat jemand versucht, in
seine Wohnung einzubrechen. Zum Glück sind da gerade die Müllers nach
Hause gekommen, das muß ihn verscheucht haben."
Ich wollte gerade genauer nachfragen, doch da war sie schon
verschwunden. Nachdenklich schloß ich die Tür. Noch ein Einbruch! Wenn
auch nur versucht. Und hier schienen gleich zwei Verdächtige unterwegs
gewesen zu sein.
Aaron war also auch in Hornburg kein unbeschriebenes Blatt mehr!
Komisch! Alle Welt schien ihn zu kennen, aber keiner wußte, wo er war.
Meine Wohnung bestand im wesentlichen aus einem Raum mit Kochecke und
einem kleinen Badezimmer. Mitten auf dem Tisch im Zimmer stand ein
Schild mit der handgeschriebenen Mahnung: "Bitte nicht Rauchen!"
Als Akt der Inbesitznahme verbannte ich es sofort in die hinterste Ecke
des Zimmers und plazierte auf dem Tisch stattdessen meinen Aschenbecher.
Ich würde mir von einer Frau Topp ganz bestimmt nicht meine Lebensweise
vorschreiben lassen!
Ich packte meine übrigen Sachen aus und legte mich mit ein paar Keksen
und einer Zeitung, die ich aus Wolfenbüttel mitgebracht hatte, auf das
Bett, um erst einmal ein bißchen auszuruhen.
Die Neuigkeiten aus der Stadt und ihrer Umgebung, wie das neue Programm
der Kreisvolkshochschule, Konzepte für einen Spielplatz in Schladen und
Berichte über ein Trainingslager der MTV-Basketballer, konnten mich
allerdings nicht besonders fesseln, und so machte ich mich bald wieder
auf den Weg.
Ich fuhr in einem großen östlichen Bogen in Richtung Wolfenbüttel. Die
Dörfer hatten alle merkwürdige Namen wie "Hedeper", "Biewende", "Dettum"
oder "Denkte" und paßten insgesamt zu dem bisher ja auch ziemlich
seltsamen Tag.
Wolf gab aus meinem CD-Spieler heraus seine Zustimmung:
Ich schreib's in meinen Kalender
So ein seltsamer Tag
Und mein Radiosender
Spielt ein Lied und in der Tat
Es geht:
Ein seltsamer Tag, seltsamer Tag, ...
Wie einen "Außenposten der Zivilisation" sah ich plötzlich einen großen
Supermarkt, mitten im Nichts. Ich hielt an, um mich mit Lebensmitteln
für die nächsten Tage einzudecken, und dann ging es wieder zurück zur
Akademie.
Ich brauchte endlich ein paar Antworten von Aaron!
Ohne jemandem zu begegnen, kam ich diesmal bis zu dem Büro. Ich klopfte
an, und - ein Geräusch von drinnen gab mir zu verstehen, daß der Raum
diesmal nicht leer sein würde.
Ich öffnete die Tür und ging hinein. In der Ecke an dem Schreibtisch,
der jetzt mit Büchern, Papieren und alten Karten überhäuft war, saß
Aaron T. Schmitt.
Ich erkannte ihn sofort, obwohl sich sein Aussehen in der letzten Zeit
wieder einmal verändert hatte. Er hatte jetzt ganz kurzgeschnittene
Haare und eine randlose Brille auf der Nase. Außerdem war er etwas
dicker geworden, und statt Jeans und T-Shirt wie früher trug er jetzt
einen modischen hellblauen Anzug aus Seersucker-Baumwolle und dazu ein
dunkelblaues Hemd mit einer Krawatte im selben Ton wie der Anzug.
Er hatte mich auch gleich erkannt und war von seinem Schreibtisch
aufgesprungen, um mir entgegenzulaufen. Seltsamerweise war seine Miene
dabei nicht nur erfreut, sondern auch deutlich besorgt.
"Mein Alter, da bist du ja endlich!
Gott sei Dank!
Bist du heil angekommen?
Oder ist unterwegs irgend etwas passiert?"
Weiter mit Kapitel 4