Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König
Kapitel 1
Prolog
Faust und sieben Geister
FAUST. Ihr? Ihr seid die schnellsten Geister der Hölle?
DIE GEISTER ALLE. Wir.
FAUST. Seid ihr alle sieben gleich schnell?
DIE GEISTER ALLE. Nein.
FAUST. Und welcher von euch ist der Schnellste?
DIE GEISTER ALLE. Der bin ich!
FAUST. Ein Wunder! daß unter sieben Teufel nur sechs Lügner sind. - Ich
muß euch näher kennen lernen.
DER ERSTE GEIST. Das wirst du! Einst!
FAUST. Einst! Wie meinst du das? Predigen die Teufel auch Buße?
DER ERSTE GEIST. Ja wohl, den Verstockten. - Aber halte uns nicht auf.
FAUST. Wie heißest du? Und wie schnell bist du?
DER ERSTE GEIST. Du könntest eher eine Probe, als eine Antwort haben.
FAUST. Nun wohl. Sieh her; was mache ich?
DER ERSTE GEIST. Du fährst mit deinem Finger schnell durch die Flamme
des Lichts -
FAUST. Und verbrenne mich nicht. So geh auch du, und fahre siebenmal
eben so schnell durch die Flammen der Hölle, und verbrenne dich nicht.
- Du verstummst? Du bleibst? - So prahlen auch die Teufel? Ja, ja;
keine Sünde ist so klein, daß ihr sie euch nehmen ließet. - Zweiter,
wie heißest du?
DER ZWEITE GEIST. Chil; das ist in eurer langweiligen Sprache: Pfeil der
Pest.
FAUST. Und wie schnell bist du?
DER ZWEITE GEIST. Denkest du, daß ich meinen Namen vergebens führe? -
Wie die Pfeile der Pest.
FAUST. Nun so geh, und diene einem Arzte! Für mich bist du viel zu
langsam. - Du Dritter, wie heißest du?
DER DRITTE GEIST. Ich heiße Dilla; denn mich tragen die Flügel der
Winde.
FAUST. Und du Vierter? -
DER VIERTE GEIST. Mein Name ist Jutta, denn ich fahre auf den Strahlen
des Lichts.
FAUST. O ihr, deren Schnelligkeit in endlichen Zahlen auszudrücken, ihr
Elenden -
DER FÜNFTE GEIST. Würdige sie deines Unwillens nicht. Sie sind nur
Satans Boten in der Körperwelt. Wir sind es in der Welt der Geister;
uns wirst du schneller finden.
FAUST. Und wie schnell bist du?
DER FÜNFTE GEIST. So schnell als die Gedanken des Menschen.
FAUST. Das ist etwas! - Aber nicht immer sind die Gedanken des Menschen
schnell. Nicht da, wenn Wahrheit und Tugend sie auffordern. Wie träge
sind sie alsdenn! - Du
kannst schnell sein, wenn du schnell sein willst: aber wer steht mir
dafür, daß du es allezeit willst? Nein, dir werde ich so wenig trauen,
als ich mir selbst hätte trauen sollen. Ach! - (Zum sechsten Geiste)
Sage du, wie schnell bist du? -
DER SECHSTE GEIST. So schnell als die Rache des Rächers.
FAUST. Des Rächers? Welches Rächers?
DER SECHSTE GEIST. Des Gewaltigen, des Schrecklichen, der sich allein
die Rache vor- behielt, weil ihn die Rache vergnügte. -
FAUST. Teufel! du lästerst, denn ich sehe, du zitterst. - Schnell, sagst
du, wie die Rache des - Bald hätte ich ihn genennt! Nein, er werde
nicht unter uns genennt! - Schnell wäre seine Rache? Schnell? - Und ich
lebe noch? Und ich sündige noch? -
DER SECHSTE GEIST. Daß er dich noch sündigen läßt, ist schon Rache!
FAUST. Und daß ein Teufel mich dieses lehren muß! - Aber doch erst
heute! Nein, seine Rache ist nicht schnell, und wenn du nicht schneller
bist als seine Rache, so geh nur. (Zum siebenden Geiste) - Wie schnell
bist du?
DER SIEBENDE GEIST. Unzuvergnügender Sterbliche, wo auch ich dir nicht
schnell genug bin - -
FAUST. So sage; wie schnell?
DER SIEBENDE GEIST. Nicht mehr und nicht weniger, als der Übergang vom
Guten zum Bösen. -
FAUST. Ha! du bist mein Teufel! So schnell als der Übergang vom Guten
zum Bösen! - Ja, der ist schnell; schneller ist nichts als der! - Weg
von hier, ihr Schnecken des Orcus! Weg! - Als der Übergang vom Guten
zum Bösen! Ich habe es erfahren, wie schnell er ist! Ich habe es
erfahren! etc. - -
(Gotthold Ephraim Lessing, Faustfragment)
Kapitel 1: Ragged Glory
I know the way you open up and let me in
So I go running back to you
Over and over again
Neil und ich sangen lauthals, als der Lkw uns zum ersten Mal berührte.
Es war eine sanfte Berührung, fast ein Streicheln, und von da an schien
die Zeit stillzustehen. Die Sekunden tröpfelten nur noch dahin,
schwerfällig und schläfrig, aber meine Sinne waren hellwach, und meine
Reaktionen kamen beinahe zwangsläufig, geschmeidig und mit einer
Leichtigkeit, als sei das Ganze einstudiert und unzählige Male geübt.
Ich zog den Wagen nur leicht nach links, um der Bewegung des Lasters zu
folgen. Trotzdem schleifte meine Fahrertür an der Leitplanke entlang und
erzeugte ein häßliches Knirschen, das sich mit dem Kreischen von Neils
Gitarre vermischte zu einem unwirklichen Aufschrei, den ich nicht hörte,
sondern mit meinem ganzen Körper fühlte.
Der Lkw schwenkte nach rechts in die Spur zurück, und ich folgte ihm
erneut, kam ihm bedrohlich nahe, bevor er sich wieder nach links neigte
und mich noch einmal an die Planke drückte. Auch diese Bewegung machte
ich mit und hielt den Wagen so im Gleichgewicht. Für einige Momente
schwankten beide Fahrzeuge wie synchronisiert hin und her, als
befolgten sie eine sorgfältig durchdachte Choreographie.
Es war mir nicht bewußt, daß ich außerdem gebremst hatte, doch als der
Lastwagen seinen letzten Schlenker nach links vollführte, der mich
unweigerlich endgültig auf den Mittelstreifen geschleudert hätte, war
ich nicht mehr neben ihm, sondern schon so weit nach hinten abgefallen,
daß ich diesem Schlußpunkt unseres Balletts entgehen konnte.
Gleichzeitig mit dem Blick nach vorne sah ich im Rückspiegel das Bild
eines anderen Wagens bedrohlich größer werden und gab wieder Gas, um
nicht von ihm getroffen zu werden. Kurze Zeit sah es so aus, als ob ich
den Lkw verfolgte, um unseren gemeinsamen Tanz fortzusetzen, doch ich
konnte ihn nicht erreichen, weil er schon in sicherem Abstand vor mir
her fuhr. Er mußte bei dem ganzen Manöver nicht gebremst haben, denn er
bewegte sich wieder gleichmäßig auf seinem Fahrstreifen, als wenn nichts
geschehen wäre.
Als ich wieder in die Spiegel blickte, sah ich, daß sich der gesamte
Verkehr hinter mir wie in einem großen Schluckauf gestaut hatte, um mir
Platz zu machen. So konnte ich nach rechts schwenken und dann noch
einmal nach rechts, um auf den Standstreifen zu kommen. Meine Bewegungen
waren jetzt bei weitem nicht mehr so geschmeidig und elegant wie noch
eben. Es war, als ob die Zeit zurückgekehrt wäre und mit ihr die
Schwerkraft und beide mich zwangen, meine Bewegungen gegen einen
ungeheuren Widerstand durchzusetzen. Als ich den Wagen endlich auf der
Standspur zum Stehen gezwungen hatte, waren meine Hände und Füße starr
gekrampft und schmerzten.
Langsam drang Neils Stimme wieder in mein Bewußtsein:
The spirit came to me and said
You gonna move to start
Als wären diese Zeilen ein geheimes Kommando gewesen, lösten sich die
Krämpfe in meinen Gliedmaßen fast gleichzeitig, der Motor jagte den
Wagen in einem letzten Satz nach vorn und starb dann. Neil meldete sich
wieder:
You'd better take a chance on love
"Mach mal leise!"
Immer noch wie in Trance drehte ich den Kopf nach links und erschrak.
Ein riesiges Gesicht füllte mein Seitenfenster. Die Lippen bewegten sich
grotesk. Ein Geräusch entstand und mischte sich mit dem tosenden Lärm
des wiederbelebten Verkehrs. Im Innern des Wagens kämpfte Neil dagegen
an:
...on love
Ich schloß für einen Moment die Augen. Dann öffnete sich die
Beifahrertür, jemand setzte sich neben mich und drehte den
Lautstärkeregler auf Null.
"Da hast du aber noch mal Schwein gehabt!"
Der Mann neben mir war jetzt weder riesig noch seltsam, er sah
freundlich und besorgt zu mir herüber.
"Alles in Ordnung?"
Ich nickte nur. Ich wollte ihm für seine Hilfsbereitschaft danken, bekam
aber den Mund nicht weit genug auf, nur so weit, daß meine Lippen leise
zitterten.
"Der Schock ist dir in die Glieder gefahren, was? - Das glaub ich. -
Fehlt dir denn sonst noch was? Hast du Schmerzen?"
Ich schüttelte den Kopf, wollte wieder etwas sagen, aber es ging noch
immer nicht. Ein leichter Schwindel drehte meinen Kopf, umkreiste das
Rauschen in meinen Ohren. Der Mann redete weiter auf mich ein, ein
gleichmäßiges beruhigendes Gemurmel gegen den an- und abschwellenden
Lärm der vorbeifahrenden Autos und das Tosen in meinem Kopf, das sich
nun allmählich beruhigte, so daß seine Worte zu mir durchdringen
konnten.
"Hast du die Nummer von dem Kerl? Ich konnte sie nicht erkennen, war
noch zu weit weg."
Endlich konnte ich antworten.
"Die linke Seite des Wagens kann ich dir genau beschreiben, die seh ich
immer noch vor mir, aber das Nummernschild - keine Ahnung."
"Junge, der hat vielleicht Nerven, bringt dich fast um, sich vielleicht
auch, und dann fährt er einfach weiter, als wär nichts passiert! Na
Hauptsache, du bist nicht verletzt. Soll ich irgendwen anrufen?
Polizei, Krankenwagen, ADAC?"
"Nee, laß mal, ich muß mich nur 'n bißchen ausruhen, dann geht's schon
wieder, glaub ich."
"Aber dein Auto muß dringend in die Werkstatt! Soll ich nicht doch einen
Abschleppwagen rufen?"
"Nein, nein, der Wagen ist schon in Ordnung. Nur ich bin etwas
mitgenommen. Ich brauch wohl eine kleine Pause."
"Aber hier kannst du nicht bleiben! Ein paar Hundert Meter weiter ist
ein Parkplatz. Kannst du vielleicht bis dahin fahren?"
Ich nickte: "Wird schon gehen. Danke für deine Hilfe jedenfalls."
"Da nicht für", knurrte er nur und war wieder draußen.
Ich ließ den Motor an und fuhr langsam auf dem Standstreifen bis zum
Parkplatz. Er folgte mit seinem Wagen, noch immer besorgt. Erst als ich
ihm zum Abschied gezwungen fröhlich zuwinkte, hupte er erst grüßend und
fuhr dann weiter.
Ich setzte auf dem Parkplatz vorschriftsmäßig in eine Parkbucht, stellte
den Motor wieder ab, öffnete das Fenster ganz und ließ die kalte
Aprilluft herein.
Ganz langsam, vielleicht bei der dritten Zigarette, beruhigten sich
meine Sinne wieder soweit, daß ich klar denken konnte.
Was war eigentlich geschehen? Ich wußte nur noch, daß es unerwartet
hereingebrochen war, ich hatte es nicht kommen sehen. Der Lkw war ganz
plötzlich da gewesen. Ich mußte einen Moment lang nicht mit meinem
ganzen Bewußtsein bei der Autofahrt gewesen sein.
Dann fiel es mir wieder ein. Meine Gedanken hatten sich um den Brief
gedreht. Den Brief von Aaron. Das war ja auch der Grund, weshalb ich
eigentlich hier war.
Heute morgen hatte er im Briefkasten gelegen.
Ein neutraler Umschlag ohne Marke, mit Stempelaufdruck und
maschinengeschriebener Anschrift.
Ich hatte ihn für Werbung gehalten und erst beim zweiten Hinsehen das
aufgedruckte Logo in der linken oberen Ecke gesehen, ein großes
stilisiertes "L", das mir bekannt vorgekommen war.
Ich griff in die Innentasche meiner Jacke, und da war der Brief noch
immer.
Ich nahm ihn aus dem Umschlag, faltete das Stück Papier auseinander und
las noch einmal:
Hallo, Gevatter,
wie geht's immer?
Hast du unseren letzten Zug durch die Gemeinde gut überstanden?
Ist jetzt auch schon wieder ziemlich lange her, und wir haben uns danach
nicht mehr gesehen. War auch nicht möglich, weil ich seitdem ziemlich
viel unterwegs gewesen bin.
Schließlich bin ich in Wolfenbüttel gestrandet, wie du an dem Brief
sicher schon gesehen hast.
Ich bin schon eine ganze Weile hier in der Gegend, aber erst in den
letzten Wochen hat mich meine Arbeit öfter in die Nähe des "verwünschten
Schlosses" geführt. Und da mußte ich immer an dich denken.
Du wirst dich sicher auch noch gut daran erinnern, wie wir damals hier
gemeinsam auf L-----s Spuren geforscht haben.
Ich hab auch schon ein paar mal versucht, dich anzurufen und einzuladen,
aber du bist einfach nicht zu erreichen.
How come?
Na egal, jetzt mußt du allerdings unbedingt kommen, und zwar stehenden
Fußes. Deshalb auch der Brief. Ich hoffe, deine Adresse stimmt
wenigstens noch, und du bekommst meine Nachricht.
Wenn nicht, weiß ich auch nicht -
Es ist hier etwas vorgefallen, was deine Anwesenheit dringend
erforderlich macht. Ich blicke da nicht mehr durch und brauch deine
Kenntnisse als Experte und dein sicheres Gespür.
Außerdem bin ich hier leider fast genauso einsam wie unser berühmter
Freund damals.
Aber ich brauche dich nicht nur zur Gesellschaft, sondern, wie gesagt,
auch deinen Rat als Fachmann. Einzelheiten folgen mündlich.
Ich kann dir nur soviel verraten, daß es dich mit Sicherheit auch
interessieren wird, und daß es um das "Weghaus" geht.
Mehr mag ich der Post nicht anvertrauen, übrigens meine Adresse auch
nicht, du wirst mich schon zu finden wissen.
Also, es ist abgemacht, du kommst!!!
Ausreden gelten nicht!!
Ich weiß, daß du Zeit hast ohne Ende, und für alles weitere will ich
schon sorgen.
Bitte beeil dich.
Ich brauche dich hier.
Bis die Tage
ATS
Der Brief war von Hand geschrieben auf einem Blatt mit dem Briefkopf der
Lessing-Akademie in Wolfenbüttel. Auch ohne das hätte ich sofort
gewußt, wer mit "L" gemeint war.
Und die Handschrift hatte ich auch gleich erkannt. Unverwechselbar
Aaron.
Ebenso unverkennbar war seine Ausdrucksweise, diese Mischung aus
Umgangssprache und altertümlichen Redewendungen, die mich während des
Lesens mehrfach zu einem Lächeln gebracht hatte.
Auch diese Geheimniskrämerei war typisch Aaron. Er liebte es schon
immer, unscheinbaren Trivialitäten einen geheimnisvollen Anstrich zu
geben.
Ein gutes Beispiel dafür war sein Namenskürzel. In all den Jahren, die
wir uns jetzt schon kannten, war es mir nicht gelungen herauszufinden,
was hinter dem "T." in seinem Namen steckte. Ich hatte den Verdacht, daß
dieser zweite Vorname in Wirklichkeit gar nicht existierte, und er
seinen Allerweltsnamen "Schmitt" durch das mysteriöse "T" nur irgendwie
interessanter erscheinen lassen wollte.
Die Andeutungen zu Lessing paßten auch in das Bild.
Selbst ohne das "verwünschte Schloß", das "Weghaus" und das "L---" wäre
schon einem anderen Leser leicht klar gewesen, daß sich das "Geheimnis"
um Lessing drehte. Es stand ja gewissermaßen schon als Überschrift im
Briefkopf seiner Nachricht.
Auch daß er mich als "Experten" ansprach, deutete auf Lessing hin.
Wir hatten tatsächlich vor vielen Jahren, noch als Studenten, einmal in
Wolfenbüttel "geforscht". Anders als Aaron habe ich mich seitdem immer
wieder mit Lessings letzten Lebensjahren beschäftigt und war deswegen
auch schon öfter in Wolfenbüttel und in Braunschweig gewesen. Über die
Jahre hatte ich ab und zu einen kleinen Artikel zum Thema
veröffentlicht. So kam ich in Aarons Augen zu diesem Ruf. Ich bezweifle
hingegen, daß professionelle Literaturwissenschaftler mich als Experten
bezeichnet hätten, aber das interessierte mich auch nicht.
Aaron wollte also etwas über Lessing von mir wissen.
Weshalb er das nicht einfach geschrieben hatte, verstand ich nicht. Aber
soviel war klar: Er wollte mich dringend in Wolfenbüttel haben.
Und prompt war ich auf dem Weg.
Ich mußte wieder lächeln. Irgendwie gelang es Aaron fast immer, das zu
erreichen, was er wollte. Das war bei mir ganz anders. Vielleicht war
ich auch deshalb so fasziniert von dem Mann. Bei mir hatte er jedenfalls
immer ein leichtes Spiel.
Also Wolfenbüttel!
Ich faltete den Brief wieder zusammen und machte mich auf den Weg.
Aaron wartete!
Die Sonne stand tief in meinem Rücken, als ich mich wieder in den
inzwischen deutlich dichteren Verkehr der Autobahn einfädelte. Sie
spiegelte sich in der Fahrbahn, die noch feucht war von den letzten
Schneeresten, und erzeugte so eine zweite Lichtquelle, die mich von
vorne traf.
In diesem Zwielicht begannen meine Augen zu blinzeln.
Die anderen Autos schleuderten mir dazu Matschspritzer an die Scheiben,
die das Licht noch zusätzlich brachen. Dazwischen pulsierten
unregelmäßig die Bremslichter der vor mir fahrenden Autos.
Das Stakkato dieser Lichteffekte hämmerte auf mich ein und ließ mich zu
meiner Sonnenbrille greifen. Doch damit konnte ich noch schlechter
sehen. Es war schon zu dunkel. Ich spürte, wie meine Nerven sich
zunehmend anspannten und meine Bewegungen wieder verkrampfen ließen.
Der Zwischenfall vorhin mußte mich doch mehr mitgenommen haben, als ich
gedacht hatte.
Es war wohl vernünftiger, die Autobahn zu verlassen. Zum Glück wurde
gerade eine Ausfahrt angekündigt, und ich ordnete mich rechts ein und
setzte den Blinker.
Abseits der Autobahn änderte sich dann schlagartig das Bild. Eine ruhige
Abendsonne schien jetzt von rechts auf eine ebenso ruhige Landstraße,
die sich durch weit ausgedehnte Felder und Wiesen gemächlich
dahinstreckte. Gleichzeitig war auch der Lärm der Autos verschwunden,
und die Stille trug zu der beschaulichen Abendstimmung bei.
Ich entspannte mich und fuhr langsamer als nötig, aber trotzdem
unbedrängt von anderen Verkehrsteilnehmern, in Richtung Süden.
Ein Griff an meinen CD-Spieler ließ Neil wieder zu Wort kommen:
Farmer John
I'm in love with your daughter
Yeah the one
With the champagne eyes
Na also, auch aus dieser Richtung landwirtschaftliche Töne!
In einiger Entfernung tauchte ein Wegweiser auf: links in Richtung
Braunschweig! Ich wechselte auf die Bundesstraße und überlegte, ob ich
vielleicht lieber in der Nähe übernachten sollte, um morgen ausgeruht
das letzte Stück der Strecke zurückzulegen.
Als wären meine Gedanken eine Regieanweisung des großen Regisseurs
gewesen, tauchte da, etwas abgelegen von der rechten Straßenseite, ein
größeres Gebäude auf, das wie ein Gasthof aussah.
Dieses Zusammentreffen ließ mich zunächst lächeln und dann sogar
lauthals lachen, als ich das Schild über der Eingangstür lesen konnte:
"Zum fröhlichen Johannes".
Was es doch für Zufälle gibt!
Ich parkte vor dem Haus und ging hinein. Wenn ich jetzt aber erwartet
hatte, daß die Tochter des Hauses champagnerfarbene Augen hätte, so
wurde ich enttäuscht. Es war zwar eine Frau, die mich in der sonst
leeren Gaststube begrüßte, aber ihre Augen waren blau. Sie zeigte mir
ein einfaches Zimmer, in das ich mich rasch einquartierte, um zur Ruhe
zu kommen.
Ganz so schnell ging es dann doch nicht, weil Neil nicht damit zufrieden
war, daß ich ihn und seine Musik im Auto gelassen hatte. Er drängte sich
in meinen Kopf:
I'm thankful for my country home
It gives me peace of mind
Somewhere I can walk alone
And leave myself behind
Wieder und wieder gingen mir die Zeilen im Kopf herum. Auch noch, als
ich schon im Bett lag. Später wurden sie abgelöst von einer gnadenlosen
Stille draußen, die in meinen Ohren dröhnte.
Anders als Neil bin ich ein Stadtmensch und brauche einen gewissen
Geräuschpegel, um ruhig einschlafen zu können. Außerdem war es
stockdunkel, und auch das bin ich aus der Stadt nicht gewöhnt.
Ich dachte darüber nach, warum ich nicht in meiner gemütlichen Wohnung
direkt an der Hohen Straße geblieben war, und Herr Reiper rutschte in
mein Bewußtsein.
Als ich gerade dabei war, mir unsere letzte Begegnung, die nicht gerade
angenehm verlaufen war, ins Gedächtnis zurückzurufen, hörte ich Stimmen
von unten.
Anscheinend waren doch einige Dorfbewohner noch zu einem
Feierabendschluck ins Gasthaus gekommen. Ich konnte nun auch in
Umrissen mein Zimmer sehen. So dunkel war es also doch nicht, und so
still auch nicht.
Beruhigt drehte ich mich in mein Bett zurück.
"Reiper", dachte ich noch, "dieser aufgeblasene -
Die Morgensonne lachte ins Zimmer und kitzelte mich. "Spinner", dachte
ich im Aufwachen und fragte mich gleichzeitig, wie dieses Wort in meinen
Kopf gekommen war.
Dann wußte ich es wieder. Hatte ich etwa die ganze Nacht von Reiper
geträumt?
Was für eine schreckliche Vorstellung!
Geärgert hatte er mich ja genug. Mußte der sich auch wegen seiner paar
Mark so anstellen? Er hatte seine Miete doch bisher immer pünktlich
bekommen! Sogar mit seinem Anwalt hatte er gedroht! Da war es mir ganz
recht gekommen, für ein paar Tage verschwinden zu können.
Ich grinste vor mich hin. Dann war es also doch nicht nur Aarons
Geheimnis gewesen, das mich so schnell aus Dortmund weggelockt hatte.
Beim Frühstück unten in der Gaststube dachte ich über meine finanzielle
Situation nach. Das Zimmer müßte ich noch bezahlen können, aber dann
würde es eng werden. Andererseits hatte ich noch eine ganze Menge Geld
für das Seminar in Duisburg zu bekommen. Und ein Honorar für einen
Zeitungsartikel stand auch noch aus. Eigentlich müßte beides längst
gezahlt worden sein.
Ich fragte die Tochter des fröhlichen Johannes, ob es zwischen hier und
Braunschweig noch eine Stadt geben würde. "Na, Peine doch", sagte sie
mit einem empörten Unterton in der Stimme, der die Verwunderung darüber
ausdrückte, daß ich das nicht wußte.
Ich bedankte mich, bezahlte mein Zimmer (mein Geld reichte tatsächlich
nur noch knapp - das verkleinerte das Trinkgeld) und machte mich auf
nach Peine, um eine Filiale meiner Bank zu suchen.
Schon nach kurzer Fahrt sah ich die ersten Hinweisschilder auf die
Stadt, und in einer halben Stunde war ich da.
Das hätte ich auch ohne Fräulein Johannes gefunden!
Der Ort schlief noch, und nur einzelne Fußgänger strebten geschäftig
ihren Zielen zu. Ich parkte so ziemlich in der Stadtmitte und hatte bald
eine Bank gefunden. Wie gehofft war inzwischen genügend Geld auf meinem
Konto. Ich füllte eine Überweisung für Immobilienhai Reiper aus und hob
etwas Bargeld ab.
Am nächsten Telefon wählte ich die Nummer der Reiper AG und hinterließ
bei der Sekretärin die Nachricht, daß die Miete angewiesen sei und ihr
Chef seinen Rechtsanwalt zurückpfeifen könnte.
Dann war mir wohler, auch wegen der jetzt wieder etwas dickeren
Brieftasche.
Als ob das neue Geld in meiner Tasche brannte, sah ich mich nach einem
Café um, das schon geöffnet war.
Ich hatte gerade eines entdeckt und wollte deshalb die Straße
überqueren, als ich mit meinem Samariter der Straße zusammenstieß. Ich
war zunächst so überrascht, daß ich nur ein erstauntes "Hallo!"
hervorbekam.
Er sah mich verärgert und fragend zugleich an. Ich fand meine Sprache
wieder:
"Was machst du denn hier?"
"Ich wohne hier, aber ich wüßte nicht, was Sie das angeht. Außerdem
glaube ich nicht, daß wir schon zusammen im Sandkasten gesessen haben."
"Aber erinnerst du dich denn nicht? Wir haben uns doch gestern auf der
Autobahn getroffen!"
"Ich weiß nicht, was Sie wollen. Lassen Sie mich bitte in Ruhe!"
Er drängte sich an mir vorbei und ließ mich verblüfft zurück.
Das gab's doch gar nicht! Das war der Mann von gestern! Ich hatte ihn
genau erkannt. Da waren dieselben weichen Gesichtszüge, zu denen das
kantige Kinn nicht so ganz zu passen schien, und derselbe leicht
zynische Ausdruck um seinen Mund.
Allerdings war er jetzt ganz anders angezogen. Er trug einen tadellos
sitzenden Anzug, der aussah wie maßgeschneidert, und blank polierte
schwarze Schuhe. Der Mann gestern war weitaus weniger formell gekleidet
gewesen.
Aber es war trotzdem derselbe Mann. - Oder vielleicht doch nicht? - So
genau hatte ich ihn mir schließlich nicht angesehen.
In Gedanken ging ich weiter zu dem Café und setzte mich auf einen der
wenigen Stühle, die ein Angestellter gerade aufbaute. Er ließ sich dabei
nicht stören und kam erst zu mir, als er mit seiner Arbeit fertig war.
Ich bestellte einen Cappucino und grübelte weiter über den Zwischenfall
nach.
Schließlich war ich mir sicher, daß ich mich nicht getäuscht hatte: Es
war derselbe Mann!
Aber warum tat er so, als ob er mich nicht kannte?
Ich konnte mir keinen Grund vorstellen.
Während des angestrengten Überlegens hatte ich unbewußt in meinem
Cappucino gerührt, so daß er jetzt zu einem süßen Milchkaffee geworden
war und widerlich schmeckte. Also legte ich zu der vollen Tasse einen
Schein auf den Tisch und stand auf.
Weiter in Gedanken vertieft ging ich durch die immer noch leeren Straßen
zurück zu meinem Auto. Dort wurde meine Aufmerksamkeit auf meine
Windschutzscheibe umgelenkt. Da prangte doch tatsächlich ein Knöllchen.
Also gab es doch noch andere Frühaufsteher in Peine! Ärgerlich legte
ich den Zettel auf den Beifahrersitz und fuhr wieder los.
Ich mußte noch einmal die Bundesstraße wechseln und kam dann bei
Braunschweig auf die Autobahn nach Wolfenbüttel. Die ganze Zeit grinste
mich der Gruß des Ordnungsamts Peine an, so daß ich zu meinem
Handschuhfach langte, um ihn aus meinem Blickfeld zu bekommen. Ich
legte den Strafzettel auf den anderen Zettel, der da schon lag, und
klappte das Fach zu -
und gleich wieder auf. Was für ein anderer Zettel? Der war doch gestern
noch nicht dagewesen!
Es war ein postkartengroßes Stück steifen Papiers mit einigen
handschriftlichen Zeilen.
Die Schrift war während der Fahrt schwer zu erkennen, und um nicht
wieder in einen "Tanz mit dem Truck" verwickelt zu werden, gab ich es
vorläufig auf, ihn zu lesen.
Allerdings war ich jetzt noch verwirrter als schon vorher.
So verwirrt, daß ich beinahe die Ausfahrt Wolfenbüttel verpaßt hätte.
Vom Turm der Hauptkirche schlug es zehnmal, als ich schließlich in die
Stadt hineinfuhr. "I hit Wolfenbüttel-City", dachte ich.
"Respect Mother Earth", jammerte Neil dazwischen, diesmal ganz
unpassend.
Ich kannte mich so gut aus, daß ich ohne Schwierigkeiten sofort zum
Schloßplatz fand und dort parkte.
Diesmal kaufte ich einen Parkschein, um nicht noch mal abkassiert zu
werden. Mit der Erinnerung an mein Strafmandat fiel mir auch der andere
Zettel wieder ein. Ich setzte mich noch mal ins Auto und holte ihn aus
dem Handschuhfach. Jetzt konnte ich die Zeilen zwar lesen, aber viel
weiter brachte mich das auch nicht. Da stand:
Die Hühner und Enten treten
den Hof zu grünlichem Schmutz.
Die Bauern im Hause beten.
Von den Mauern bröckelt der Putz.
Auch wo die Spinnen weben,
der Spitz die Bettler verbellt,
im Rübenland blieben am Leben
die großen Namen der Welt.
So oft ich auch hin und her überlegte, ich wurde daraus nicht schlau.
Und ich wußte auch nicht, wie diese "Botschaft" in mein Auto gekommen
war. Ich hatte sie nie vorher gesehen.
Gedankenverloren steckte ich den Zettel in die Tasche und stieg wieder
aus.
Vor mir lag das "verwünschte Schloß". Hier hatte Lessing gelebt und
gearbeitet, zuerst hier, dann mit Eva im benachbarten Meißnerhaus, das
jetzt die Lessing-Akademie beherbergte, und später im Lessinghaus neben
der Bibliothek, auch nur wenige Schritte von hier entfernt.
Dieser Ort war immer meine erste Anlaufstelle, wenn ich nach
Wolfenbüttel kam. Heute hatte ich noch einen anderen Grund. Wenn mich
meine Vermutungen nicht täuschten, so mußte ich irgendwo hier innerhalb
dieses "literarischen Dreiecks" aus Herzog-August-Bibliothek,
Lessinghaus und Lessing-Akademie auf Aaron treffen.
Mein erster Versuch war die Akademie.
Ich ging also auf das Meißnerhaus zu, ein für das 18. Jahrhundert sehr
großer, kantiger, rechteckiger Bau mit zwei Geschossen und einem
ausgebauten Dachgeschoß, trat durch die Tür und fragte den ersten
Menschen, den ich dort traf, nach Herrn Schmitt.
"Aber klar, ist der hier! Gehen Sie nur die Treppe hoch, dann ist es die
zweite Tür auf der linken Seite."
Na also, das war einfach!
Ich klopfte an die Tür und betrat einen riesigen Raum.
Abgesehen von einem großen Schreibtisch mit zwei Stühlen in der genau
gegenüberliegenden Ecke und zwei Schränken an der rechten Wand war er
leer.
Keine Spur von Aaron.
Ich ging zu dem Schreibtisch, der -ganz untypisch für Aaron- auch so gut
wie leer war. Ein einzelnes Buch lag da nur. Ich hob es auf und sah auf
den Titel. Es war ein Standardwerk der Lessing-Forschung: Daunicht.
Lessing im Gespräch.
Meine Hand berührte ein Lesezeichen, und ohne zu überlegen, öffnete ich
das Buch an der gekennzeichneten Stelle. Eine Tagebucheintragung von
E.D. von Liebhaber war angestrichen: "Heute traf ich Lessingen auf dem
W."
Am Ende des Auszugs war die Erklärung für "W." ebenfalls angestrichen:
"Weghaus: Gasthaus auf dem halben Wege zwischen Braunschweig und
Wolfenbüttel".
Die Anstreichungen konnten gut von Aaron sein. In seinem Brief hatte er
ja auch schon von dem Weghaus geredet.
Ich wollte das Buch schon wieder zuschlagen, als mein Blick auf das
Lesezeichen fiel. Es war ungefähr postkartengroß, und mir stockte
beinahe der Atem, als ich sah, daß das Blatt nicht leer war, sondern
einige handschriftliche Zeilen enthielt:
Der Talgrund zeichnet Mäander
in seine Wiesen hinein.
Die Weide birgt Alexander,
Cäsarn der Brennesselstein.
Die Ratten pfeifen im Keller,
ein Vers schwebt im Schmetterlingslicht,
die Säfte der Welt treiben schneller,
Rauch steigt wie ein feurig Gedicht.
Weiter mit Kapitel 2