Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König


Kapitel 7





Kapitel 7: Sound off



"Ermordet?"

Ungläubig kam das Echo von Aaron. Er drehte sich zu mir und sah mich fragend an. Ich konnte nur hilflos den Kopf schütteln, denn ich war genauso verblüfft wie er. Wir hatten zwar über Geheimnisse und Betrügereien nachgedacht, aber das Ganze war mir immer ein bißchen so vorgekommen, als ob wir uns nur in einer Phantasiewelt bewegten und kriminelle Zusammenhänge sahen, die vielleicht gar nicht existierten. Doch nun war die Wirklichkeit noch weit dramatischer als unsere Vorstellung. Ein Kapitalverbrechen! - Konnte es nicht sogar sein, daß es da einen Zusammenhang zu unseren Überlegungen gab? Dieser Gedanke erschreckte mich. Ich blickte zu Aaron, aber der war im Moment wohl unfähig zu denken, denn er fragte schon wieder:

"Ermordet?"

Theo Schneiders Gesichtsausdruck wurde noch ein wenig smarter.

"So sieht's aus!"

Lässig hatte er die Worte herausgequetscht. Er genoß es sichtlich, im Mittelpunkt unseres Interesses zu stehen. Aaron öffnete erneut den Mund, doch bevor er zum dritten Mal "Ermordet?" sagen konnte, kam ich ihm zuvor:

"Wann ist denn das passiert? Und wie? Weiß man schon, wer es war?"

Bereitwillig erzählte Inspektor Schneider, wie man das Opfer gefunden hatte. Er wies uns zwar darauf hin, daß wir das eigentlich gar nicht wissen dürften, zählte dann aber auch noch die Hausbewohner auf, die er "Hauptverdächtige" nannte.
Ich hörte ihm konzentriert zu, wurde dabei jedoch von Aaron abgelenkt, der sich seltsam benahm. Erst gestikulierte er wild in meine Richtung, und dann schob er sich immer weiter hinter dem Inspektor in Deckung. Ich wollte gerade nachfragen, als mir der Grund dafür klar wurde: Eine feuchte Zunge berührte meine linke Hand. Der Hund hatte, unbemerkt von uns, zusammen mit Theo Schneider das Haus verlassen und war nun an meiner Seite. Theo bemerkte ihn auch und unterbrach seine Aufzählung. Er zeigte auf Rollo und sagte:

"Der einzige Hausbewohner, der nicht verdächtig ist."

Als ich ihn überrascht ansah, fügte er hinzu:

"Ein Hund kann kein Messer führen."

Ich überlegte angestrengt, ob das wohl ein Witz sein sollte. Auch Rollo hatte anscheinend kein Verständnis für diese Art Humor. Er knurrte Theo drohend an. Das hatte zur Folge, daß Aaron jetzt ganz hinter dem Kriminalbeamten verschwand. Im ersten Stock des Hauses öffnete sich ein Fenster, und eine resolut wirkende ältere Frau beugte sich heraus und rief: "Rollo, komm her!"
Er gehorchte und rannte wieder aufs Grundstück. Aaron hatte sich inzwischen bis an die Straße zurückgezogen, und Theo sagte:

"Ich muß zu Nicolai fahren. Der interessiert euch doch so. Wollt ihr vielleicht mitkommen?"

Ich nickte und folgte ihm zum Auto, wo Aaron schon wartete. Als wir dann im Streifenwagen unterwegs nach Wolfenbüttel waren, redete er weiter:

"Kommissar Widemann will mit Nicolai sprechen, weil der wohl gestern noch bei Burckhardt war. Wir würden gerne wissen, worüber sie da geredet haben, denn hinterher hat Burckhardt was von Reichtum gefaselt, der sich jetzt bald einstellen müßte."

Aaron hatte mich angesehen, jetzt drehte er sich zu Theo:

"Wir wissen vielleicht, woher Burckhardt diesen neuen Reichtum erwartet hat."

"Und zwar?"

"Es könnte sein, daß er und Nicolai nach einem wertvollen Manuskript gesucht haben. Das muß vor 200 Jahren hier im Weghaus oder in der Umgebung verschwunden sein."

"Und dadurch kann man reich werden?"

Ich hörte gar nicht auf seinen Einwurf, weil mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoß. Aufgeregt stieß ich Aaron an und sagte:

"Sie müssen es gefunden haben!"

"Genau! Und deshalb hat Nicolai ihn jetzt umgebracht! Und -"

"Nu aber mal langsam", fuhr Theo Schneider dazwischen. "Nicolai kann ja nun auch nicht für alles verantwortlich sein!"

Verdutzt sahen wir ihn an. Aber er ließ sich nicht irritieren:

"Einerseits ist er angeblich einem geheimen Manuskript auf der Spur, andererseits soll er euch dann durch diese ominösen Zettel genau darauf hingewiesen haben.
Erst findet er für Burckhardt etwas heraus, und danach bringt er ihn um, weil der das jetzt weiß!
Man merkt, daß ihr nicht kriminalistisch denken könnt! Das gibt doch alles keinen Sinn!"

Widerwillig mußte ich ihm zustimmen:

"Ja, da paßt einiges nicht. Auch bei mir: Er hindert mich durch den Unfall am Weiterfahren. Mit dem Zettel in meinem Auto macht er mich aber erst richtig neugierig. Beides geht wohl nicht."

Aaron ließ sich durch unsere Einwände nicht von seiner Meinung abbringen:

"Es gibt aber doch alles ein Bild, wenn man mal annimmt, daß Nicolai nicht die Zettel geschrieben hat.
Er hat dann erst versucht, durch mich etwas über das Weghaus herauszufinden. Das war ja auch ganz ungefährlich, weil ich überhaupt keinen Plan hatte, wonach er eigentlich sucht.
Aber als er dann mitbekommt, daß ich dich holen will, ..."

"... wird es für ihn schon bedrohlicher."

"Genau, er muß ja nunmehr damit rechnen, daß du den Zusammenhang zu Lessing siehst. Deshalb hat er dann auch versucht zu verhindern, daß du herkommst."

Jetzt hatte mich Aarons Aufregung angesteckt:

"Und nachdem wir schließlich gemerkt hatten, daß es eine Verbindung zu Burckhardt geben muß, wird der umgebracht, bevor wir mit ihm reden können."

"Oder aber Burckhardt war gieriger, als Nicolai gedacht hat."

"Ja, vielleicht wollte er nicht teilen. - Aber deine Idee bringt uns ein neues Problem: Wer hat denn die Zettel geschrieben, wenn Nicolai es nicht war?"

"Ja, stimmt: Wer? Und vor allem: Warum?"

"Irgend jemand wollte uns ja wohl auf das Weghaus aufmerksam machen", überlegte ich. "Vielleicht auch auf das Manuskript, das hier irgendwo sein muß? Ist in dem Gedicht nicht von 'großen Namen' der Vergangenheit die Rede? Könnte das nicht auf Lessing anspielen?"

"Schon möglich, aber das paßt gar nicht zu dem übrigen Text. Da ist doch einiges ganz schön aus den Fugen: Die Ratten laufen durchs Haus, die Bauern beten, anstatt zu arbeiten. Ein richtiges Tohuwabohu!"

"Das Gedicht selber ist ja auch durcheinander, auf den beiden Zetteln."

"Vielleicht sollten wir darauf kommen, daß im Weghaus ein ähnliches Durcheinander herrscht wie in dem Gedicht, daß vielleicht sogar ein Mord passieren kann?"

"Meinst du, wir hätten den Mord verhindern können, wenn wir schon vorher auf diese Idee gekommen wären?"

"Kann schon sein. Wenn wir das Manuskript gefunden hätten, hätte es vielleicht keinen Grund für den Mord gegeben."

Hier mischte Theo Schneider sich wieder ein, um uns zu bremsen:

"Ihr hangelt euch da von einer Spekulation in die andere. Sehr unprofessionell! Warum denn nach komplizierten Theorien suchen, wenn es doch einfache Lösungen gibt?
Ein Mord in einem Haus. Frage: Gibt es Familienmitglieder, die in Betracht kommen? Antwort: ja, reichlich!"

"Moment mal", wollte Aaron dazwischen. Aber Theo ließ ihn nicht zu Wort kommen.

"Keinen Moment! Weiter: Ein Mord mit einem Messer. Frage: Sind Frauen in der Nähe? Antwort: ja, reichlich!
Alles deutet doch darauf hin, daß es eine emotionale und spontane Tat war. Der Täter ist also im direkten persönlichen Umfeld zu suchen. Im Haus eben.
Und was für eine Rolle Herr N. dabei spielt, werden wir auch bald wissen. Wir sind nämlich gleich bei seinem Hotel."

Wir waren tatsächlich inzwischen in die Stadt gekommen und fuhren auf der Breiten Herzogstraße. Nach kurzer Zeit sahen wir das Lessing-Theater an der linken Straßenseite. Direkt daneben prunkte das Parkhotel "Altes Kaffeehaus".
Theo bog in die Einfahrt ein und fuhr direkt bis vor die Tür. Wir stiegen aus und gingen ins Foyer. Das Hotel hatte außer dem Namen nichts mehr von dem türkischen Gartenlokal, das einmal hier gestanden hatte. Es war überaus modern und komfortabel eingerichtet. Georg Nicolai war also ausgesprochen standesgemäß abgestiegen.
Theo ging zum Empfang und kam kurz danach wieder.

"Pech gehabt. Herr N. ist ausgegangen. Wir haben uns also umsonst bemüht."

"Und was jetzt? Warten wir?"

"Macht das, wenn ihr wollt. Ich muß zurück zum Haus. Ich hab an der Rezeption meine Handy-Nummer dagelassen. Nicolai soll mich sofort anrufen, wenn er auftaucht."

Etwas unschlüssig folgten wir ihm zum Auto. Ich war jetzt doch sehr gespannt gewesen auf unseren "Hauptverdächtigen". Theo hatte seinen Wagen aufgeschlossen, dann stutzte er, sagte "Augenblick mal", und lief plötzlich zurück zum Hotel. Einen Moment später kam er wieder heraus und rannte an uns vorbei zum Straßenrand, wo ein Mann gerade in einen weißen Lieferwagen einsteigen wollte. Mit einiger Mühe konnte ich die Aufschrift an seiner Tür lesen: "Waisenhaus Buchhandlung Braunschweig".
Theo sprach mit dem Mann, und ich überlegte, wo mir dieser Name schon mal begegnet war, aber es wollte mir nicht einfallen. Als er schließlich zurück kam, hielt er ein Blatt Papier in der Hand.

"Euer Gerede über alte Bücher ist mir gerade noch rechtzeitig wieder eingefallen."

Wir sahen ihn fragend an.

"Habt ihr denn gar nicht gesehen, daß der Mann eben einen ganzen Stapel beim Portier abgegeben hat?"

Hatten wir nicht.
Aber unser Kriminalist hatte. Und er war noch einmal zurückgelaufen, um zu sehen, für wen diese Bücher waren. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen: Es war tatsächlich eine Lieferung für Nicolai gewesen.

"Der Portier wollte mir die Bücher nicht geben, aber der Buchhändler hat sich nicht so angestellt. Hier ist der Lieferschein."

Wir sahen zusammen auf das Blatt.
Es enthielt fünf Literaturangaben, die uns alle sehr merkwürdig vorkamen. Eine Biographie von Theophrastus Paracelsus und ein Buch über Nostradamus waren dabei. Die drei anderen Titel sagten uns überhaupt nichts. Sie lauteten:

-Die betrüglichen Goldmacher am Hofe des Herzogs Julius von Braunschweig,
-Schielheinze und Schlüterlieschen,
-Höchst denkwürdige Nachricht vom wundersamen Leben und erschröcklichen
Ende des Therocyklus Wulfensis.



* * *



Der Wecker explodierte in seinem Kopf, und seine Träume zerplatzten an der Wirklichkeit, die für ihn aus schmerzenden Gliedern bestand. Er quälte sich langsam und widerwillig aus dem Bett. Jede Bewegung fiel ihm schwer. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich mittags noch einmal hinzulegen. Jedenfalls war er jetzt auch nicht erholter als am Morgen.
Auch sein Geist hatte im Schlaf keine Ruhe gefunden. Genau wie in der letzten Nacht war er verfolgt worden von wirren Träumen, die ihn von einer abstrusen Phantasie in die nächste gehetzt hatten. Noch ganz unter dem Eindruck seiner angespannten Nerven, hatte er Probleme, sich zurechtzufinden und Unterscheidungen zu treffen: Was war echte Erinnerung, was bloße Einbildung? Wo wirkten bewußte Gedanken, wo aufgezwungene Traumbilder?
Eine Vorstellung hielt sich beharrlich vor seinem geistigen Auge: das Bild eines weißen Hundes. Es veränderte sich ständig, ließ das Tier immer größer und unförmiger erscheinen und verwandelte es schließlich in einen Menschen, oder doch zumindest in ein menschenähnliches Wesen. Als er auf den Vorhang blickte, glaubte er, die Züge dieses Menschen tatsächlich vor sich zu sehen. Die unregelmäßigen Formen des Stoffmusters fügten sich zu einem diabolischen Gesicht zusammen. Er sah ein Lächeln, das ihn erschauern ließ. Die Falten des Vorhangs bewegten sich leicht im Zugwind des Fensters. Mit ihnen bewegten sich die Lippen in dem Gesicht, aber die Worte, die sie sprachen, konnte er nicht verstehen. Dafür hörte er, was die Augen des Wesens sagten. Sie riefen ihm zu:

"Alles Eis der Hölle für deine Gedanken!"

"Eis im Höllenfeuer! Wie absurd!" dachte er noch, ehe er sich dazu zwang, in eine andere Richtung zu sehen. Er schüttelte sich, versuchte, den Spuk loszuwerden. Er durfte jetzt nicht auch noch anfangen, mit seinen Einbildungen zu reden. Die Wirklichkeit erforderte schon seine ganze Energie!

"Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!"

Er zog die Vorhänge auf, und im einfallenden Licht beruhigte sich sein Geist. Die Gedanken konzentrierten sich wieder auf das Wesentliche.
Burckhardt war tot. Lange Zeit hatte sich sein ganzes Denken um diesen alten habgierigen Mann gedreht. Das war jetzt nicht mehr nötig. Aber seine Mission hatte sich damit noch nicht erfüllt. In gewisser Weise war Burckhardts Tod sogar nutzlos gewesen, und er hatte neue Ereignisse ausgelöst, die es zu handhaben galt. Er mußte aufpassen, daß diese Ereignisse ihn nicht überrollten, daß sie nicht seiner Kontrolle entrissen wurden.
Er sah auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zu dem Treffen mit dem Antiquitätenhändler. Es wurde Zeit zu gehen. Er machte sich auf den Weg und war gerade rechtzeitig im Schloßpark.
Kurze Zeit später hatten die zwei bemerkenswert gut erhaltenen Duellpistolen ihren Besitzer gewechselt. Der Händler hatte es danach auffallend eilig, wieder zu verschwinden. Vermutlich waren die Besitzverhältnisse an dem Handelsgut doch nicht so eindeutig, wie er behauptet hatte.
Er betrachtete die Waffen noch einmal in Ruhe, untersuchte sie in allen Einzelheiten, um sicherzugehen, daß sie wirklich aus dem 18. Jahrhundert stammten. Es war wichtig, daß dieses Detail stimmte. Er verstaute die Pistolen und setzte sich auf eine Bank.
Über 200 Jahre alt waren sie also, und trotzdem noch voll funktionsfähig. Ihn überkam so etwas wie Ehrfurcht vor dem Schöpfer dieser Stücke.
Konnten Worte auch so lange überleben?
Konnten sie so viele Jahre versteckt schlummern und trotzdem lebendig bleiben?
Nur ein paar Worte auf einem Stück Papier.
Aber sie konnten Schönheit erschaffen unter der Feder des Dichters, Tod bringen in der Hand des Rächers.
Ein paar Worte auf einem Stück Papier.
Richtig eingesetzt konnten sie den Lauf der Weltgeschichte ändern. Wer von ihrem Zauber wußte, konnte zu Wohlstand und Einfluß gelangen.
Die Eingeweihten längst vergangener Zeiten hatten davon gewußt. Auch die Dichter hatten es lange geahnt, und alle wirklich Mächtigen dieser Welt.
Burckhardt hatte es nicht gewußt. Für ihn waren sie immer nur dies gewesen:
Ein paar Worte auf einem Stück Papier.
Ohne Bedeutung, ohne Macht.
Genau wie die Worte auf dem Stück Papier in seiner Tasche.


* * *



"Saturday Night Fever in Wolfenbüttel!"

Aaron saß neben mir am Steuer seines alten Käfers und blickte munter in die dunkle Nacht. Ich sah ihn entgeistert an. Samstagabend war es ja immerhin geworden, aber von Fieber war weit und breit nichts zu spüren. Wir durchquerten ausgestorbene Straßen, und die Stadt war still. Sollten einzelne Wolfenbütteler wirklich an Wochenendfieber leiden, so mußten sie diese Störung wohl hinter verschlossenen Türen verstecken. Aaron sah meine Skepsis, und er sagte lachend:

"Warte nur ab, bis wir da sind. Du wirst staunen!"

Er war mit Theo für den Abend verabredet. "In der Kneipe", hatte er nur gesagt, und Theo hatte freudig zugestimmt. Wahrscheinlich waren die beiden schon öfter zusammen ausgegangen. Aber heute ging es nicht ums Vergnügen. Wir waren neugierig, was die Ermittlungen in dem Mordfall machten. Theo hatte ja scheinbar keine Skrupel, mit uns darüber zu reden.
Aaron fuhr mitten in die Stadt und parkte am Schloß. Auch hier war es menschenleer. Wir gingen über den Schulwall in Richtung Harztorplatz. Auf der linken Straßenseite plätscherte einer der vielen Okerarme. Von seinem anderen Ufer blitzten uns schon von weitem bunte Lichter entgegen. Als wir die Straße überquert hatten, sahen wir, daß sie aus dem Großen Zimmerhof kamen. Jetzt war auch noch Stimmengewirr zu hören, das ja wohl von mehreren Menschen stammen mußte.
Ich staunte jetzt schon, denn ich hatte nicht mehr damit gerechnet, überhaupt noch eine lebende Seele in dieser verschlafenen Residenz zu entdecken. Noch größer wurde mein Erstaunen, als wir in den Zimmerhof einbogen. In Nummer 13 tobte tatsächlich der Bär. Die "Kneipe" erstreckte sich über alle drei Etagen des Hauses, und aus den offenen Fenstern drang fröhlicher Lärm. Der Eingangsbereich war regelrecht umlagert, und einige besonders Hartgesottene hatten sich sogar draußen an einzelnen Tischen niedergelassen.
Es war gar nicht so leicht, überhaupt durch die Tür zu kommen, und auch drinnen herrschte ein ungeheurer Trubel. Alles, was in Wolfenbüttel lebendig war, schien sich hier versammelt zu haben. Es war ein sehr gemischtes Publikum. Alle Altersgruppen waren vertreten, Schüler und Studenten drängten sich zwischen Hausfrauen und biederen Bürgern in den Gängen. Bunte Alternative standen neben einheitlich grau gekleideten Yuppies an der Theke. Sie erzeugten eine Geräuschkulisse, die uns schon an der Tür entgegenschlug und die noch verstärkt wurde durch laute Musik. Die war allerdings nicht gemischt, sondern durchgängig modern und mir unbekannt. Trotzdem war ich hier sofort zuhause. Das erste Mal hatte ich das Gefühl, mich in einer richtigen Stadt zu befinden.
Mittendrin in dem größten Durcheinander entdeckten wir schließlich Theo Schneider. Er war umringt von einer ganzen Traube meist jüngerer Männer, die alle wild aufeinander einredeten. Theo selbst stach unter ihnen hervor, denn er hatte ein schreiend rosa Jackett an, das weithin leuchtete. Dazu trug er ein stahlblaues Hemd, über dem ein goldenes Kettchen mit einem großen Anhänger baumelte. Die verwaschene Jeans wurde von einem breiten Ledergürtel mit übergroßer Schnalle gehalten.
Er war ganz offenbar der Mittelpunkt dieser Gruppe und anscheinend mit allen gleichzeitig im Gespräch. So dauerte es einige Zeit, bis wir ihn auf uns aufmerksam gemacht hatten. Endlich sah er uns doch und winkte. Sofort blickten mehrere der jungen Männer zu uns herüber und winkten ebenfalls. Theo erklärte ihnen etwas und begann dann, sich in unsere Richtung zu bewegen. Ich hatte den Eindruck, daß einige seiner Freunde jetzt besonders genau auf Aaron schauten, und ich glaubte zu hören, daß einer Theo noch etwas hinterher rief. Es klang so ähnlich wie "Tu nichts, was ich nicht auch tun würde!"
Als er sich bis in Hörweite zu uns durchgeschlagen hatte, rief er: "Nach oben, da ist es leiser!" Wir kämpften uns zu der Holztreppe und stiegen in den ersten und dann, als Theo weiter winkte, in den zweiten Stock hinauf. Das Getöse von unten drang nur noch gedämpft bis hier hin. Die Gäste waren auch durchweg etwas älter, und wir fanden sogar noch einen freien Tisch in einer Ecke.
Theo hatte sichtlich Mühe mit dem Tempowechsel, doch Aaron gab ihm keine Chance, zur Ruhe zu kommen, und fragte gleich nach Neuigkeiten.
Theo Schneider lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte seine Hände vor sich auf den Tisch, als ob er sich auf eine wichtige Aufgabe konzentrieren müßte. Erst dann begann er zu reden:

"Nun, bis jetzt sind wir noch nicht sehr weit gekommen. Fest steht nur, daß alle im Haus die Möglichkeit hatten, den Mord zu begehen. Ein vernünftiges Alibi hat jedenfalls keiner."

"Kann's denn gar kein Fremder gewesen sein?" wollte Aaron wissen.

"Theoretisch schon, das Haus war wohl nicht überall verschlossen. Die Frauen haben auch irgendwas von einer toten Gans erzählt. Aber du hast ja selber mit Rollo Bekanntschaft gemacht. Der soll ein ziemlich guter Wachhund sein, und er war die ganze Nacht still."

"Vielleicht kannte er ja den Eindringling."

"Wenn du schon wieder auf Nicolai hinauswillst, dann schmink dir das ab. Den kann Rollo nämlich überhaupt nicht leiden. Da hätte er bestimmt gebellt."

Wie um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, entledigte er sich jetzt seiner schreienden Jacke, ließ auch das Kettchen in seinem Hemd verschwinden und fuhr dann fort:

"Nein, nein, es wird schon so sein, wie ich gleich gedacht habe: Einer der Hausbewohner ist es gewesen.
Meine Favoriten sind die Tochter Diana und Amalia Jacobi. Die beiden leben seit Jahren mit Burckhardt zusammen. Da gibt es bestimmt reichlich Motive: Eifersucht, Haß, Neid. Vielleicht auch Habgier, Burckhardt hatte bestimmt einiges zu vererben."

"Wenn es um Geld geht, ist auch Horst Wagner wieder im Rennen. Er könnte ja darauf spekulieren, mit Lisa eine reiche Erbin zu heiraten."

Ich hatte mich bisher nicht am Gespräch beteiligt, weil ich mir Gedanken über Theo gemacht hatte. Sein Auftritt hier als so eine Art Partylöwe hatte mich doch sehr überrascht. Aber jetzt wurde ich hellhörig. Ich legte die Zigarette zur Seite, die ich gerade gedreht hatte, und mischte mich ein:

"Dieser Horst scheint doch ziemlich verdächtig zu sein. Er hat wahrscheinlich schon in Hornburg hinter Aaron hergeschnüffelt."

"Ja", sagte Aaron, "und gestern im Café war er auch sehr neugierig. Und hast du ihn mal gefragt, wieso er einen Artikel über Nicolai in Braunschweig schreibt, in dem der unter dem Namen 'Eschenburg' auftritt?"

Ich sah Theos Miene an, daß er daran nicht mehr gedacht hatte, aber er gab es nicht zu, sondern versuchte, sein Versäumnis zu überspielen:

"Soweit sind wir noch nicht, wir haben die Verdächtigen erst mal alleine erzählen lassen. Die richtigen Verhöre kommen dann später. Vielleicht hat er sich bei dem Artikel ja auch nur vertan. Seine Verlobte heißt schließlich auch so. Kann doch sein, daß er beim Schreiben mehr an sie gedacht hat als an die langweilige Veranstaltung in Braunschweig."

Diese Namensübereinstimmung war mir auch schon aufgefallen. Konnte das wirklich bloßer Zufall sein? War Lisa vielleicht verwandt mit Johann Joachim Eschenburg, der mit Lessing befreundet gewesen war? Wußte Nicolai davon, und hatte er sich dieses Wissen irgendwie zunutze gemacht? Oder steckte Lisa vielleicht genau wie ihr Verlobter mit Nicolai unter einer Decke?
Aaron war inzwischen schon wieder auf einem ganz anderen Weg. Er fragte Theo:

"Was sagt denn Horst zu dem Projekt, mit dem Burckhardt reich werden wollte?"

"Gar nichts! Er behauptet, er weiß nicht, worum es da ging."

"Dieser neugierige Journalist wuselt die ganze Zeit um mich, um Nicolai und um Burckhardt herum, und ausgerechnet davon will er nichts gewußt haben? Wer soll denn das glauben?"

"Aaron hat recht", stimmte ich zu. "Ich meine auch, daß Herr Wagner mit Nicolai gemeinsame Sache macht. - A propos Nicolai, hat der sich inzwischen gemeldet?"

"Nee, hat er nicht. Vielleicht ist er ja über's Wochenende aus der Provinz entflohen. Würd ich auch manchmal gerne machen, aber ich hab meistens Bereitschaft, weil ich Junggeselle bin.
Habt ihr denn schon etwas über diese sonderbaren Bücher herausgefunden, die er sich bestellt hat?"

Das war jetzt Aarons Stichwort. Er hatte den Nachmittag in der Bibliothek verbracht, während ich mich um das Geschehen in der Fußballbundesliga gekümmert hatte. Er holte ein Blatt Papier aus seiner Tasche und erzählte:

"Also, es handelt sich da um eine Geschichte aus dem 16. Jahrhundert. Damals trieb sich am Hof des Herzogs Julius eine Gruppe von Betrügern herum. Sie gaben vor, Alchimisten zu sein und Gold machen zu können. Schielheinze und Schlüterlieschen waren zwei davon. Die sind wohl auch später hingerichtet worden.
Therocyklus ist ein etwas anderes Kaliber. Er war auch in diese Machenschaften verwickelt. Aber es gibt Berichte aus der Zeit, die in ganz anderen Tönen von ihm sprechen. So wird er zum Beispiel als 'Kundiger' beschrieben, oder als ein 'Grenzüberschreiter'. Andere nennen ihn einen 'Suchenden nach neuen Quellen der Weisheit'. Er scheint so eine Art Universalgelehrter gewesen zu sein, der seiner Zeit voraus war. Außerdem ist er auch ziemlich weit gereist, um Neues zu entdecken. Viele Abschnitte seines Lebens liegen ganz im Dunkeln, und um seinen Tod ranken sich mystische Erzählungen. Angeblich hat er seine Seele dem Teufel verschrieben, um sein Wissen zu vergrößern, und der soll ihn dann auch geholt haben."

Ich hatte zunehmend gebannt zugehört.

"Weißt du, was du da beschrieben hast? Das klingt ja wie die Urfassung der Faust-Geschichte!
Ist das nicht erstaunlich, daß sich Nicolai gerade dafür interessiert? Irgendwie scheint hier alles miteinander zusammenzuhängen:
Lessing und Faust, Faust und Nicolai, Nicolai und Burckhardt, Burckhardt und Eschenburg, Eschenburg und Lessing ...."

Theo hatte schon Aarons Erzählung mit sichtbarem Befremden zugehört. Jetzt wollte er wohl wieder eine Bemerkung über unkriminalistisches Denken machen, doch er wurde durch das Klingeln seines Handys daran gehindert.
Eigentlich klingelte es gar nicht, sondern es spielte eine kleine Melodie. Sie erinnerte mich irgendwie an ein Lied von Marianne Rosenberg. Theo stand auf und ging in die ruhigste Ecke des Raumes, um zu telefonieren.
Aaron stand auch auf, um nach unten zur Toilette zu gehen, und so war ich eine Weile mit meinen Gedanken alleine. Nicolai interessierte sich für das Faust-Motiv. Nicolai interessierte sich auch für das Weghaus und Lessing. Unsere Vermutung, daß er einem verschollenen Buch auf der Spur war, in dem diese Bereiche verbunden waren, erschien mir immer wahrscheinlicher.
Lessings Faust. Darauf lief alles hinaus.
Theo kam zurück und knurrte:

"Nicolai! Er war tatsächlich unterwegs, aber morgen ist er den ganzen Tag zuhause, sagt er. Der denkt wohl, daß ich auch am Sonntag arbeite. Ich hab ihn für Montag auf die Inspektion bestellt. Ich seh ja gar nicht ein, daß wir immer den Leuten hinterherlaufen sollen."

Ich nickte und wollte gerade etwas fragen, als er schon weiter redete:

"Sag mal, du kennst doch Aaron schon sehr lange. Erzähl doch mal was aus seiner Jugend! Wie war er denn früher so?"

Zum Glück kam Aaron da schon wieder, und ich brauchte nicht mehr zu antworten. Theo versuchte sofort, Aaron wieder ins Gespräch zu verwickeln, aber der war plötzlich überaus einsilbig geworden. Ich hatte das Gefühl, daß auf einmal eine unerklärliche Spannung in der Luft lag. Theo mußte es auch merken, denn er wurde ebenfalls sehr ruhig und blickte immer öfter über die Brüstung nach unten zum wilden Treiben.
Schließlich behauptete Aaron, müde zu sein, eine Klage, die ich vorher noch nie von ihm gehört hatte. Jedenfalls drängte er darauf aufzubrechen, was wir dann auch taten. Theo natürlich nicht. Der ging zurück zu seinen Freunden.
Draußen erzählte mir Aaron ziemlich erschüttert, daß er einen Mann aus der Gruppe um Theo auf der Toilette getroffen hätte. Er hatte den Eindruck, daß der ihm hinterher gekommen wäre, und was er dann zu ihm gesagt hatte, mußte man wohl ein "unsittliches Angebot" nennen. Aaron war ganz durcheinander und sagte:

"Meinst du, Theo ist vielleicht auch schwul?"

Ich lachte: "Es sieht aus, als ob du eine Eroberung gemacht hast!"



Am nächsten Morgen war der Zimmerhof leer und verlassen. Fenster und Türen blieben verschlossen, auch im Haus Nummer 13. Kein Licht strahlte mehr über dem Wasser, und die Straße lag in sonntäglicher Ruhe.
Wir waren zu einem Spaziergang in die Stadt gekommen, um unsere Gedanken zu ordnen und zu überlegen, was wir in der nächsten Woche unternehmen sollten. Aarons Gedanken waren jedoch einstweilen noch mit anderen Dingen beschäftigt. Er hatte mich bestimmt schon fünfmal gefragt, ob er wohl Theo ungewollt ermuntert haben konnte, in ihm mehr zu sehen als einen Freund. Nach allem, was ich über ihre Beziehung wußte, konnte ich ihn da durchaus beruhigen. Aber er ließ sich nicht beruhigen. Auch jetzt grübelte er immer noch.
Wir gingen den Großen Zimmerhof entlang und kamen dann zu den Krambuden. Bevor wir in die Lange Herzogstraße einbogen, sah ich links den Pavillon der Braunschweiger Zeitung. Die Zeitung, für die Horst Wagner arbeitete! Dieser zwielichtige Journalist war schon gestern immer mehr in den Mittelpunkt meiner Überlegungen gerückt. Seine Verbindung mit Nicolai stand für mich fest. Ob er mit ihm gemeinsame Ziele verfolgte oder sein eigenes Süppchen kochte, galt es noch herauszufinden. Dann hatte er auch Burckhardt ganz gut gekannt. Anders als Nicolai konnte er sich sogar im Haus frei bewegen und so vielleicht heimliche Nachforschungen anstellen. Schließlich trug seine Verlobte den Namen des Mannes, der sicher einer der engsten Freunde Lessings gewesen war.
Sollte Wagner vielleicht die eigentlich zentrale Figur in diesem Geschehen sein, und nicht Nicolai, wie wir bis jetzt immer angenommen hatten?
Ich wollte Aarons Meinung zu dieser Frage wissen und drehte mich zu ihm um. Er trottete vollkommen geistesabwesend hinter mir her und war gerade kurz davor, mitten in eine komplette Kleinfamilie zu laufen. Ich konnte ihn noch eben rechtzeitig zur Seite ziehen und schüttelte ihn dann heftig, um ihn in die Gegenwart zurückzuholen.

"Du hast jetzt genug über Theo nachgedacht! Komm zu dir! Du wirst hier ja zum richtigen Verkehrshindernis."

"Wo kommen denn plötzlich all diese Leute her?"

"Es ist Sonntag! Da geht man als braver Bürger in die Kirche! Schon mal gehört?"

"Oder man tut nur so."

Ich mußte ihm recht geben. Einige der nicht ganz so braven Bürger kamen offensichtlich eher aus dem Wirtshaus als aus der Kirche.

"Wie auch immer. Was meinst du denn jetzt?"

"Ja weißt du, ich hab eigentlich Theo immer -"

"Zum Henker mit Theo! Ich mein natürlich zu dem Geheimnis im Weghaus!"

"Ach so, ja. - Denkst du da jetzt an den Mord oder an das verschwundene Buch?"

"Das Buch interessiert mich natürlich mehr als der Mord. Aber meinst du nicht, daß beides irgendwie zusammenhängt?"

"Ich weiß nicht. Die Polizei verdächtigt ja wohl in erster Linie die Hausbewohner, und zumindest die Frauen scheinen doch über Nicolais geheimnisvollen Auftrag nichts zu wissen."

"Das stimmt. Aber Wagner vielleicht. Der weiß sowieso mehr, als er bis jetzt erzählt hat."

"Sollten wir uns nicht mit dem mal unterhalten?"

"Lieber nicht. Er weiß ja noch gar nicht, daß wir ihn verdächtigen. Kann man nicht auch noch anders etwas über ihn erfahren?"

"Über seine Zeitung womöglich. Zumindest würde man da sehen, was er sonst so schreibt."

"Ja, und ich möchte gerne wissen, ob Frau Eschenburg mit Johann Joachim verwandt ist. Das müßte man doch auch rausfinden können."

Ohne daß wir uns bewußt dazu entschieden hätten, waren wir inzwischen durch die Kanzleistraße in die Brauergildenstraße gekommen. Aus einem der Häuser klang uns laute Musik entgegen. Schon wieder eine Kapelle, die ich nicht kannte! Um den Besuchern der Hauptkirche aus dem Weg zu gehen, wandten wir uns nach links zum Holzmarkt. Jetzt lag die Trinitatis-Kirche vor uns, die einzige Kirche, die ich kenne, durch die eine Straße führt. Wir gingen auf dieser Straße durch das Gebäude hindurch und waren dann an der Parkanlage "Stadtgraben". Ich sah in Wolfenbüttel immer die Zusammenhänge zum Leben Lessings, und so sagte ich:

"In dieser Kirche ist Lessings Frau beerdigt worden. Damals hieß sie noch Garnisonskirche. Und hier irgendwo war der Bürgerfriedhof, auf dem Eva wohl begraben worden ist."

"Wohl?"

"Ja. Wo genau das Grab mal gewesen ist, weiß heute keiner mehr."

Ich hatte Aaron in den Park und gezielt zu dem Gedenkstein für Eva König geführt. Als er den Namen auf dem Stein erkannte, sagte er:

"Aber hier ist doch ein Grabstein!"

"Das ist nur ein Gedenkstein. Als den Angehörige hier aufgestellt haben, war das echte Grab schon lange verschollen."

"Was für eine Schande! Wie konnte das denn passieren?"

"Frag mal den Leiter des Kulturamts, für den ist das hier eine 'repräsentative Begräbnisstätte'. Muß wohl ein ziemlicher Holzkopf sein."

"Brauchst du mir nicht zu sagen. Mit dem hab ich doch oft genug zu tun. Aber seine Be­schränktheit hat auch einen Vorteil: So kann ich hier ziemlich machen, was ich will. Die Zusammenhänge meiner Arbeit versteht der eh nicht."

Wir gingen weiter in die Anlage hinein und blieben bei einigen besonders alten Grabsteinen stehen. Aaron sagte:

"Glaubst du, hier gibt es auch Steine aus dem 16. Jahrhundert?"

"Unwahrscheinlich. Warum?"

"Weil da dieser Therocyklus gelebt hat. - Sag mal, Paracelsus und Nostradamus, sind die nicht auch aus der Zeit?"

"Doch, ich glaub schon, auch der historische Doktor Faust soll damals gelebt haben.
Da gibt es noch Zusammenhänge, die wir bis jetzt nicht sehen. Nicolai muß sich ja irgendwas ..."

Ich stockte, denn in vielleicht 20 Metern Entfernung war eine Gestalt hinter einem hohen Grabstein aufgetaucht, die dem Mann sehr ähnlich sah, über den ich gerade redete. Ob es wirklich Nicolai war, konnte ich nicht genau erkennen, denn eine große, dunkle Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und die Szene verdunkelt. Aaron hatte ihn auch entdeckt, und er sagte:

"Du lieber Himmel! Der erscheint ja wie aufs Stichwort. Komm, wir sehen mal, was er da macht!"

Wir gingen langsam auf ihn zu. Jetzt erkannte ich ihn auch sicher wieder. Er schien mit der Inschrift des Grabsteins beschäftigt zu sein. Dann bemerkte er uns und sah uns entgegen. Aaron sprach als erster:

"Hallo, Herr Nicolai! Gott zum Gruße! Na, schon wieder auf der Suche nach Zeugnissen der Vergangenheit?"

"Herr Schmitt! Welch eine Überraschung, Sie hier zu sehen! Und das ist sicherlich ihr Freund aus Dortmund, nicht wahr?"

Aaron stellte mich vor, aber Nicolai fiel ihm ins Wort:

"Nicht nötig, Herr Schmitt. Ich weiß schon, wen ich vor mir habe. Ich hab Sie mal auf einem Kongreß gesehen. Sie sind Experte für Lessing, oder?"

"Nicht nur für Lessing. Günter Eich liegt mir auch sehr am Herzen."

Die Erwähnung dieses Namens schien ihn nicht besonders zu beeindrucken. Er plauderte weiter mit Aaron, über den Park, sein nahegelegenes Hotel und andere Belanglosigkeiten. Ich hörte nicht mehr richtig hin, sondern benutzte die Gelegenheit, den Grabstein zu betrachten. Er stammte aus dem 18. Jahrhundert und war für einen gewissen Ewald Sömmering, der ziemlich früh gestorben war. Den übrigen Text konnte ich nicht mehr entziffern, weil ich Aaron und Nicolai folgen mußte, die sich schon wieder von dem Grab entfernt hatten. Nicolai sprach mich jetzt auch an:

"Das wird Sie bestimmt interessieren: Herr Schmitt und ich reden gerade über diesen scheußlichen Mord. Er ist in einem Haus passiert, dessen früherer Name Ihnen geläufig sein dürfte."

"Sie meinen das Weghaus?"

Er warf mir einen erstaunten Blick zu.

"Ich sehe, Sie wissen schon mehr, als ich dachte."

"Was wir aber nicht wissen und gerne wissen würden: Was haben Sie eigentlich für eine Abmachung mit Herrn Burckhardt gehabt?"

"Bedaure, aber über Geschäftsgeheimnisse kann ich leider nicht reden."

"Über andere Geheimnisse denn?" fragte Aaron.

"Was meinen Sie?"

"Na, ist es denn nicht so, daß Sie eine Schwäche für Alchimisten und Geheimlehren aus dem 16. Jahrhundert haben?"

Das Erstaunen auf Nicolais Gesicht wuchs, und seine Augen, die sonst ständig in Bewegung waren, standen still und drückten sogar so etwas wie Besorgnis aus. Ich entschloß mich, noch nachzulegen, und sagte:

"Ich kann mir vorstellen, daß Sie in dem Zusammenhang auch auf einen Namen gestoßen sind, der sogar heute noch geheimnisvoll ist: Doktor Faust!"

Das zynische Lächeln, das ihm die ganze Zeit nicht aus dem Gesicht gewichen war, schien plötzlich noch eine Spur mehr zu gefrieren, und in seinen Mundwinkeln zuckte es merklich. Jetzt war er beeindruckt.
Kurz danach hatte er jedoch seine weltmännische Beiläufigkeit wiedererlangt und sagte:

"Es hat mich gefreut, mit Ihnen plaudern zu können, aber ich muß jetzt ins Hotel zurück. Geschäfte! Sie verstehen!"

Er deutete eine kurze Verbeugung an und ging dann schnell davon.
Seit wir mit Nicolai geredet hatten, war der Himmel ständig dunkler geworden, und jetzt fielen schon die ersten Tropfen. Deshalb machten wir uns auch auf den Weg zurück zu unserem Auto. Unterwegs sagte Aaron:

"Hast du gemerkt, wie er erschrocken ist, als du den Faust erwähnt hast?"

"War ja nicht zu übersehen. Ich glaub, jetzt können wir sicher sein, daß wir da auf der richtigen Fährte sind."

"Du hast doch den Grabstein genauer angesehen. Wer liegt denn da?"

"Ach, ein Ewald Sömmering. Sagt dir das etwa irgendwas?"

"Ich weiß nicht genau. Aber ich glaube, Sömmering war der bürgerliche Name des Alchimisten Therocyklus!"




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