Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König
Kapitel 14
Kapitel 14: Sound off
Mein lieber Eschenburg,
Ich ergreife den Augenblick, da meine Frau ganz ohne Besonnenheit liegt, um Ihnen für Ihren gütigen Anteil zu danken. Meine Freude war nur kurz: Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! denn er hatte so viel Verstand! so viel Verstand! - Glauben Sie nicht, daß die wenigen Stunden meiner Vaterschaft mich schon zu so einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. - War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisern Zangen auf die Welt ziehen mußte? daß er so bald Unrat merkte? - War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davonzumachen? - Freilich zerrt mir der kleine Ruschelkopf auch die Mutter mit fort! - Denn noch ist wenig Hoffnung, daß ich sie behalten werde. - Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen.
Lessing
Ich stand vor der Vitrine und las die vertrauten Zeilen. Das heißt, eigentlich las ich gar nicht wirklich, denn ich kannte diesen Brief längst auswendig.
Genauso wie ich auch die anderen Ausstellungsstücke und die Einrichtung des Lessinghauses gut kannte. So oft ich hergekommen war, hatte ich immer alles unverändert gefunden.
Nicht gerade ein Kompliment für die Verantwortlichen, aber mir war es recht. So fühlte ich mich hier zuhause, begrüßte die spärlichen Möbelstücke als alte Bekannte und überflog die meisten Vitrinen nur im Vorübergehen. Ich kam auch gar nicht her, um etwas Neues zu sehen. Die Nähe zu Lessing war hier zu spüren, und das war es, was mich immer wieder anzog.
Aber bei dem Brief mußte ich jedesmal verweilen. In ihm konzentrierte sich auf eindrucksvolle Weise die widersprüchliche Stimmung, die für mich von diesem Ort ausging.
Die hellgestrichenen Räume wirkten in ihrer Aufgeräumtheit freundlich und heiter. Das ganze Haus war ein Schmuckstück, und es lag auch reizvoll zwischen Schloß, Zeughaus und Bibliothek. Passend dazu war es der Ort von Lessings spätem persönlichen Glück. Endlich - so schien es - war er zur Ruhe gekommen. Hatte eine feste Anstellung mit leidlichem Auskommen, und ein eigenes Haus für sich und seine Frau.
Gleichzeitig jedoch - und davon zeugte der Brief - war es auch der Ort des größten persönlichen Unglücks, das ihm je widerfahren war. Nur kurze Zeit nach dem glücklichen Einzug waren sein Sohn und wenig später dann auch seine Frau gestorben. Der Freund in Braunschweig konnte da aus der Ferne nur wenig trösten.
"Geboren oder gestorben?"
Ohne daß ich es bemerkt hatte, war ein anderer Besucher in den Raum getreten und hatte mich angesprochen. Als ich nicht sofort antwortete, wiederholte er seine Frage:
"Ist er nun hier geboren oder gestorben?"
"Wie bitte?"
"Na, Lessing. Das ist doch hier das Lessinghaus, oder? Ist er also hier geboren oder gestorben?"
"Weder noch. Er hat in den letzten Jahren hier gelebt, aber gestorben ist er in Braun-schweig."
"Ach was."
Bevor er mir noch ein längeres Gespräch aufzwingen konnte, flüchtete ich aus seiner Nähe. Vorsichtshalber ging ich gleich zwei Zimmer weiter und stand dann im Gartensaal. Dieser Raum war besonders schön. Er war halb rund gebaut, und alle Fenster gingen zum Garten hinaus. Man konnte sich so recht vorstellen, wie hier Gäste bewirtet worden waren. Durch die Fenster mochten sie wohl die neu angelegten Beete im Garten bewundert haben. Jetzt gab es dort nur noch Rasen und ein paar Büsche zu sehen, und etwas weiter entfernt die Bank, auf der ich so gerne saß.
Heute hatten sich dort einige Wermutbrüder niedergelassen und ließen die Flasche kreisen.
Das zeigte mir, daß ich mich hier in einer entlegenen Ecke der Stadt befinden mußte, in die sich die 'anständigen' Bürger nur selten verirrten. Und von auswärtigen Besuchern wimmelte es auch nicht gerade.
Wieder am Eingang betrachtete ich die wenigen Publikationen, die dort zum Verkauf ausgelegt waren. Kannte ich alles noch vom letzten Mal. Genau wie die alte Dame, die hier die Eintrittskarten verkaufte. Sie mußte sich auch an mich erinnern, denn sie sagte:
"Da haben Sie aber Glück, daß Sie gerade heute hier sind. Wir hatten zwei Wochen geschlossen, und was nach Ostern wird, weiß auch noch keiner."
"Nein, nein, ich bin schon eine ganze Woche in Wolfenbüttel und hab hier schon ein paar Mal vor der verschlossenen Tür gestanden."
"Oh. Das tut mir aber leid. Sie kommen doch auch von weit her, nicht wahr? Was ist das bloß für ein Skandal! Da kommen Besucher aus aller Welt, um das Haus zu sehen, und dann ist hier geschlossen, weil kein Geld für eine Aufsichtsperson da ist!"
"Sie machen das also ehrenamtlich?"
"So ziemlich, ja. Ich hab ja meine Pension. Aber außer mir gibt es nur noch einen Herrn, der auch schon in Rente ist. Wenn wir beide mal nicht können, findet sich für das Taschengeld, das die HAB zahlt, niemand, der hier sitzen will."
"Gehört das Haus denn nicht der Stadt?"
"Die zahlt nur einen kleinen Zuschuß. Nein, das Lessinghaus gehört der Bibliothek."
"Und die haben nicht das Geld für den Unterhalt?"
"Um teure Bücher zu kaufen, bekommen sie jedenfalls immer genug zusammen. Ist wohl wichtiger als Lessing."
"Vielleicht sollte ich mich ja mal beschweren. Ich könnte auch noch ein paar Freunde bitten, da mitzumachen."
"Ach ja, bitte! Tun Sie das! Wenn nicht ein bißchen öffentlicher Druck entsteht, kann es sein, daß hier bald ganz Schluß ist."
Ich sah sie entsetzt an. Sie wollte erst nicht weiterreden, aber dann sagte sie doch:
"Eigentlich darf ich ja nicht darüber sprechen, aber kommen Sie mal mit. Ich zeig Ihnen was."
Sie führte mich in eine Ecke des Zimmers, wo hinter einer Vitrine der Putz von der Wand gebröckelt war. Darunter sah man, daß das Fachwerk und der Verputz kurz davor waren, vollständig zu zerbröseln.
Sie erklärte mir, daß die gesamte Bausubstanz des Gebäudes zerstört war. Anscheinend hatte man bei der Konservierung gespart und einfach nur übertüncht, anstatt Schäden auszubessern. Ich erfuhr, daß das ganze Haus dringend renoviert werden mußte, aber bisher war weder klar, wie das gemacht werden sollte, noch wie lange es dauern könnte. Und schon gar nicht, wer das bezahlen würde. Es gab vor Ort zwar viele Firmen, die sich auf die Erhaltung und Wiederherstellung alter Gebäude spezialisiert hatten, doch die waren den Verantwortlichen zu teuer. Jetzt sollte eine Firma aus dem Osten gefragt werden, aber noch liefen die Verhandlungen über die Bezahlung des Kostenvoranschlags. Abgründe des Wolfenbütteler Kulturbetriebs taten sich da auf.
Empört verließ ich das Haus. Es könnte also tatsächlich sein, daß ich heute zum letzten Mal hier gewesen war. Unglaublich!
Wenigstens die Bank im Garten würden sie stehen lassen. Das war doch wohl kostenneutral. Ich ging dorthin. Die Freunde des Rotweins waren inzwischen weitergezogen, und so hatte ich meinen Lieblingsplatz für mich.
Ich dachte daran, daß hier draußen einige Jahre nach Lessings Tod ein Denkmal für ihn errichtet worden war. Das mußte dann von der Schildwache des Zeughauses bewacht werden, weil es Zielscheibe von Zerstörungswut und Gehässigkeit der Bevölkerung gewesen war. Schließlich hatte es sogar in die Bibliothek in Sicherheit gebracht werden müssen.
Wolfenbüttel und Lessing - die beiden waren nie gut miteinander ausgekommen. Mein Eindruck war, daß sich daran bis heute nicht viel geändert hatte.
Es dauerte noch eine Weile, bis sich meine Entrüstung legte, und ich gedanklich wieder in der Gegenwart ankam. Und die hatte für mich ja auch mit der Vergangenheit zu tun. Wir waren dem Faust-Manuskript auf der Spur, genau wie Herr Nicolai. Und der war plötzlich verschwunden und bis heute nicht wieder aufgetaucht, obwohl Theo Schneider ja nach ihm suchen ließ. Was mochte das bedeuten?
Auf dem Zettel im Supermarkt hatte er sich mit dem geheimnisvollen Ephraim für Sonntag verabredet. Warum eigentlich so spät?
Es könnte heißen, daß er die Zeit noch brauchte, um das Manuskript endgültig in seinen Besitz zu bekommen. Aber müßte er sich dann nicht im Weghaus blicken lassen?
Oder? - Mir kam ein ganz neuer Gedanke. Vielleicht hatte er es schon gefunden und wollte Ephraim, der ja wohl sein Auftraggeber oder Komplize war, nur hinhalten. Während Ephraim auf das Treffen am Sonntag wartete, war Nicolai schon längst über alle Berge!
Dann würde der Faust womöglich für immer verloren sein. Ich mochte nicht glauben, daß unsere ganze Mühe umsonst gewesen sein sollte. Aber vielleicht könnten wir ja doch noch Anhaltspunkte im Weghaus finden. Da führte meine Spur schließlich hin. Dumm, daß es gestern nicht mit unserem Besuch dort geklappt hatte. Möglicherweise ging es ja heute. Aaron sollte gleich kommen, dann wollten wir das gemeinsam überlegen.
Ungeduldig wartete ich auf meinen Freund.
Ich sah ihn dann schon von weitem. Aaron kam vom Zeughaus her.
Ich wollte unbedingt meine Empörung über die Vernachlässigung des Lessinghauses mit ihm teilen, aber als er nahe genug heran war, konnte ich schon sehen, daß er selber darauf brannte, mir etwas zu erzählen. Er gab mir auch gar keine Chance, ihm zuvorzukommen, und rief schon aus der Entfernung:
"Ich hab's ja gewußt! Hab ich's nicht gewußt?"
Darauf wußte ich nun nichts zu erwidern, also wartete ich einfach auf eine weitere Erklärung. Die kam auch prompt:
"Herr Nicolai ist tot!"
"Was?"
"Ja, gestern schon. Er ist auch ermordet worden."
"Ermordet?"
"Moment mal, das ist doch eher mein Thema. Na, egal. Ja! Ermordet! Wahrscheinlich."
"Wieso wahrscheinlich? Ist er nun tot oder nicht?"
"Tot schon. Aber auf den ersten Blick sieht es wie Selbstmord aus."
Er berichtete mir von den näheren Umständen, soweit er davon wußte. Theo Schneider hatte ihn angerufen und ihm den Tatort beschrieben. Auf diesem Weg mochte wohl einiges verfälscht worden sein, aber trotzdem bekam ich einen Heidenschrecken. Denn alles muß fast so ausgesehen haben wie in meinem Traum.
Das gab's nicht! Ich hatte ein Gefühl, als ob sich da jemand einen üblen Scherz mit mir erlaubte. Gleichzeitig fühlte ich mich so schuldig, als ob ich selbst das Gartenhaus hergerichtet hätte. Aaron sah meine Bestürzung und begriff erst gar nicht, warum ich so geschockt war. Dann versuchte er, mich zu beruhigen:
"Mal ganz langsam, Alter! Du hast dir den Traum doch nicht ausgedacht! Das kam von der Beschäftigung mit diesem Werther-Quatsch. Der Mörder hatte ganz einfach dieselbe Idee wie dein Unterbewußtsein."
Ich guckte gequält.
"Außerdem war es ja gar kein Selbstmord. Die Kriminaltechnik ist zwar noch nicht abgeschlossen, aber die Experten sind sich jetzt schon fast sicher, daß es in Wirklichkeit Mord war."
"Das ist schon gestern passiert?"
"Ja, wahrscheinlich während der Beerdigung. Da war das Haus ganz leer, und in der Gegend gab's natürlich auch sonst keine Zeugen. Der Mörder hatte also alle Zeit der Welt für sein dunkles Treiben. Ziemlich makaber eigentlich."
"Das kannst du laut sagen! Während Burckhardt unter die Erde gebracht wird, muß sein Mörder selbst dran glauben."
"Augenblick! Nun bring mal nichts durcheinander. Nicolai war hier das Opfer. Genau wie ich's gesagt hab. Und du wolltest mir nicht glauben!"
"Ja, ja."
"Ich hab's gewußt. Ich hab's gewußt!"
"Ist ja gut! Man könnte fast meinen, du bist froh, daß du recht gehabt hast."
"Wie? - Nein, nein, natürlich nicht. Allerdings hätten wir das tunlichst ernster nehmen sollen, daß er aus dem Hotel verschwunden ist."
"Das war doch schon Dienstag!"
"Je nun, aber seitdem ist er schließlich nicht wieder gesehen worden. Wenn wir ihn vorher erwischt hätten, könnte er jetzt noch leben."
"Eher nicht. Ich mein', heute ist natürlich klar, daß die zweite Botschaft eine Warnung war. Aber denkst du, am Dienstag hätte Nicolai dir geglaubt?"
"Vielleicht nicht. Andererseits wußte er doch sicher, worauf er sich eingelassen hatte, und daß es gefährlich werden könnte."
"Jedenfalls wissen wir jetzt Bescheid. Was es bedeutet, wenn noch eine Botschaft auftaucht. Hat Theo irgendwas von einem neuen Zettel gesagt?"
"Nein. Hat er nicht. Aber du kannst ihn nachher selber fragen. Er trifft sich mit uns zum Mittagessen. Dann gibt's auch noch eine andere Neuigkeit."
"Was denn?"
"Na, heute ist doch der Termin bei Dr. Zacharias, wo herauskommt, was in Burckhardts Testament steht."
"Und Theo erzählt uns das weiter?"
"Geh ich mal von aus."
"Hat er denn schon eine Idee, wer für den Mord in Frage kommt?"
"Laß nur im Testament stehen, daß eine der Frauen viel erbt, dann ist der Fall für die Polizei klar, glaub ich."
"Die waren doch alle auf der Beerdigung, als der Mord passierte!"
"Ja, stimmt. Aber man kann die Fakten schon so lange verdrehen, bis sie zur Theorie passen."
"Und wer war es wirklich?"
"Na, das liegt ja wohl auf der Hand! Dieser Ephraim natürlich."
"Du meinst, nachdem Nicolai für ihn das Manuskript besorgt hatte, war er überflüssig?"
"Genau. Oder er hat auch den ersten Mord begangen und mußte einen Mitwisser loswerden."
"Dann bleibt noch die Frage: Wer ist Ephraim? Da haben wir ja gar keine Ahnung."
"Würd mich nicht wundern, wenn wir ihn schon kennen, nur unter anderem Namen."
"Viel wichtiger für uns: Hat der Mörder jetzt das Manuskript?"
"Davon muß man wohl ausgehen."
"Und weil der Mord ja im Weghaus passiert ist, hat es vorher sicher da gelegen. Und das hab ich gewußt! Wir hätten doch Dienstag schon hingehen sollen. Vielleicht hätten wir es dann gefunden."
"Meinst du nicht, es gibt eine Chance, daß es immer noch im Weghaus ist und dieser Ephraim es nicht bekommen hat?"
"Warum denn dann der Mord?"
"Möglich, daß Ephraim glaubte, er weiß, wo das Manuskript ist, aber Nicolai hat es doch besser versteckt, als er gedacht hat. Theo meint, das Gartenhaus ist ziemlich durchwühlt worden."
"Auf jeden Fall sollten wir noch mal auf die Suche gehen."
"Das wird heute eher wieder nichts werden. Schätze, die Polizei läßt uns da nicht rein."
Wir rätselten noch eine Weile herum, wer wohl Ephraim sein könnte, und beschlossen dann, schon mal loszugehen. Wir sollten Theo im Hotel 'Altes Kaffeehaus' treffen. Als Aaron mir das erzählte, war ich erstaunt darüber, daß sich Theo ein Mittagessen dort leisten wollte. Aber es war wohl so, daß er ausnahmsweise einmal sein Spesenkonto belasten konnte, denn er war durchaus dienstlich im Hotel. Er mußte die Sachen von Nicolai abholen und auch noch ein paar Leute befragen.
Da es bis zur Langen Straße ein relativ weiter Weg durch die ganze Innenstadt war, müßte Theo Schneider eigentlich seine Arbeit erledigt haben, bis wir da wären.
Wir überquerten also den Schloßplatz und gingen in die Fußgängerzone. Als wir am Stadtmarkt vorbeikamen, blieb Aaron plötzlich wie angewurzelt stehen. Ich folgte seinem Blick und sah, was ihn so beeindruckt hatte: Nur ein paar Meter von uns entfernt gingen Lisa Eschenburg und Horst Wagner. Sie waren in ein angeregtes Gespräch vertieft, und Wagner hatte den Arm um seine Verlobte gelegt. Aaron starrte ihnen entgeistert hinterher. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen:
"Na, mein Lieber, geht einem da nicht das Herz auf, wenn man so ein junges Glück sieht?"
"Ach was! Ist doch peinlich, wie er sich aufdrängt. Sie will es gar nicht. Siehst du das denn nicht?"
"Eigentlich nicht."
"Ist ja auch egal. Komm, wir müssen weiter, zu Theo!"
Das machten wir denn auch, aber obwohl er nicht mehr darüber redete, war doch deutlich zu sehen, daß Aarons Stimmung verhagelt war. Bis zum Hotel sagte er überhaupt nicht mehr viel, so daß ich mit meinen Gedanken alleine war. Irgendwie war mir nicht recht wohl dabei, daß Aaron sich so für Frau Eschenburg interessierte. Andererseits wußte ich gar nicht, was ich dagegen haben sollte. Um Horst Wagner tat es mir nicht leid, der konnte sicher etwas Konkurrenz gebrauchen.
Im Café des Hotels wartete Theo Schneider tatsächlich schon. Wir setzten uns zu ihm. Da Aaron noch ganz abwesend war, fing ich das Gespräch an. Ich fragte Theo, ob am Tatort wieder ein Zettel aufgetaucht war. Er sagte:
"Was für ein Zettel? Ach so, du meinst noch so eine Botschaft, die ihr dann wieder entschlüsseln könnt. Nee, zum Glück nicht."
"Wieso 'zum Glück'?"
"Na, es zeigt, daß eure Theorie falsch ist. Und das ist ein Glück, weil sonst müßten wir uns unter Umständen mit einem Serientäter rumschlagen. Das hätte gerade noch gefehlt. Uns reichen nämlich die zwei Morde schon hinlänglich."
"Die ersten beiden Botschaften kannst du aber doch nicht wegreden. Und es macht ja auch einen Sinn, was wir uns dazu gedacht haben."
Ich wartete darauf, daß jetzt Aaron mit einem herzhaften "Ich hab's gewußt" ins Gespräch einsteigen würde, aber er war gedanklich noch immer nicht unter uns. So kam Theo wieder zu Wort:
"Ein seltsamer Zufall, mehr nicht. Kein großes Geheimnis, wie ihr das konstruieren wolltet. Die Wirklichkeit ist eben nicht geheimnisvoll, sondern meistens ganz einfach banal, you know?"
"Nämlich?"
"Na, 'cui bono', wie der Kommissar immer sagt. Die beiden Morde gehören natürlich zusammen. Das zeigt ja schon der Tatort. Und für den ersten können wir jetzt ganz eindeutig sagen, wem er genützt hat. Beim zweiten Mord muß man dann eben sehen, wie er ins Bild paßt."
"Und paßt er?"
"Hundert Pro! Der Mörder wollte einen Mitwisser loswerden. That's all."
Jetzt erwachte Aaron wieder zum Leben.
"Das haben wir uns auch schon gedacht. Oder Nicolai hat nur die Schmutzarbeit gemacht und wurde jetzt von seinem Auftraggeber beseitigt. Das ist dieser Ephraim, und ich weiß auch schon, -"
"Moment mal! Nicht schon wieder geheimnisvolle Unbekannte! Bleiben wir doch beim Einfachen. Handfeste Motive für den Burckhardt-Mord haben seine Erben. Und die kennen wir ja jetzt."
"Na, dann pack schon aus!"
Theo Schneider ließ sich von dieser Aufforderung keineswegs drängen. Er legte die Gabel beiseite, mit der er bisher uninteressiert in seinem Nachtisch gestochert hatte, und begann, in aller Ruhe zu erzählen:
"Also. Die Frauen wollten den Termin zuerst doch tatsächlich platzen lassen. Angeblich waren sie zu aufgeregt, um das jetzt auch noch zu ertragen. Aber Widemann hat natürlich darauf bestanden. Jetzt gerade! Immerhin haben wir inzwischen zwei Morde am Hals, da kann man keine Rücksichten mehr nehmen. Außerdem ist es uns ganz recht, wenn die Verdächtigen ein bißchen aus der Ruhe geraten."
Wir gerieten auch langsam aus der Ruhe und bedrängten Theo, doch endlich zum Punkt zu kommen. Aber er blieb vollkommen unbeeindruckt und genoß es sichtlich, uns auf die Folter zu spannen. Er beschrieb ganz ausführlich, wie sich alle beim Notar Dr. Zacharias eingefunden hatten.
"Die Frauen taten so, als ob sie gewaltsam vorgeführt würden. Aber dann konnte man deutlich merken, daß sie neugierig wurden."
Wurden wir auch, aber Theo kannte kein Erbarmen.
"Ihr müßt natürlich noch wissen, daß wir schon früher bei Dr. Z. waren, und er uns bereits gesagt hatte, was im Testament steht. So konnten wir uns darauf konzentrieren, die Verdächtigen zu beobachten. Wie die auf die Neuigkeit reagierten. Ich hab auf Lisa Eschenburg und Horst Wagner geachtet, Widemann auf die Damen Burckhardt und Jacobi. Ich muß schon zugeben, das war eine gute Idee vom Kommissar. Der Notar wollte erst nicht mitspielen, aber Widemann hat ihn ganz schön unter Druck gesetzt."
Aarons Geduld war am Ende:
"Wenn du jetzt nicht mit dem Testament rausrückst, mein Lieber, dann schmeiß ich deine Sahnetorte durch die Gegend!"
"Keine Panik! Kommt ja schon: Also.
Erstens: Wie es aussieht, ist das Erbe durchaus beachtlich. Herr B. hat wohl im Laufe der Jahre mit Kleist zusammen recht einträgliche Geschäfte gemacht. Die Gewinne hat er in günstigen Immobilien angelegt, die dann im Wert enorm gestiegen sind. Wieviel da genau zusammenkommt, hängt natürlich von dem Verkaufserlös ab, aber es geht auf jeden Fall in die Millionen."
Mir entfuhr ein erstaunter Pfiff, und auch Aaron bekam große Augen. Theo Schneider hatte eine Pause gemacht, um unsere Reaktion zu beobachten. Befriedigt fuhr er dann fort:
"Zweitens: Das Erbe geht im wesentlichen in drei gleiche Teile:
Einer an seine Tochter, das war ja klar.
Einer an Amalia Jacobi. Die ist nämlich - erste Überraschung - auch seine Tochter. Unehelich. Sein ganzes Leben lang hat er sich nicht zu ihr bekannt, aber wenigstens nach seinem Tod sollte sie entschädigt werden.
Und der dritte Teil - zweite Überraschung - geht an Lisa Eschenburg."
Aaron atmete laut aus. Theo sah kurz irritiert auf, bevor er weiterredete.
"B. schreibt, daß er nach dem Tod von Lisas Eltern versucht hätte, ihr den Vater zu ersetzen. Und sie hätte sich auch immer wie seine Tochter benommen. Deshalb sollte sie auch nach seinem Tod so behandelt werden.
Voila´! Und was haben wir nun? - Drei Hauptverdächtige mit einem Mordmotiv!"
"Aber doch nur, wenn sie gewußt haben, wie groß das Erbe ist und daß sie überhaupt in Frage kommen!"
"Ja klar. Aber daß sie in den ganzen Jahren irgendwann bemerkt haben, welchen Besitz B. da angehäuft hat, ist ja wohl wahrscheinlich. Und eine Chance auf das Erbe haben sie sich bestimmt auch alle ausgerechnet. Frau Jacobi, zum Beispiel, hätte doch eigentlich aus allen Wolken fallen müssen. Aber Widemann sagt, sie hätte nicht einmal mit den Wimpern gezuckt. Frau Burckhardt war allerdings wohl wirklich verblüfft, und es schien ihr nicht zu gefallen, plötzlich eine Schwester zu haben."
"Und wie hat Lisa reagiert?" fragte Aaron.
"Ja, die wirkte überrascht. Aber ich hab genau hingesehen, und ich bin mir sicher, sie tat nur so. Und ihr Verlobter machte sich gar nicht erst die Mühe. Er sah aus, als ob er gerade die lang erwartete Steuerrückzahlung bekommen hätte."
Wir hatten eine Weile damit zu tun, das Gehörte zu verdauen. Währenddessen vertilgte Theo Schneider - zufrieden mit seiner erzählerischen Leistung und unserer Reaktion darauf - genüßlich seine Sahnetorte.
Solch ein großes Erbe war natürlich eine gewisse Versuchung. So gesehen hatte die Theorie der Polizei tatsächlich etwas für sich. Aber ein Motiv alleine macht noch keinen Mörder. Ich sagte das Theo. Er antwortete:
"Ganz richtig. Jetzt müssen wir uns um die Alibis kümmern. Allerdings wissen wir, wo wir genauer hinsehen müssen. Und das werden wir auch tun. Da könnt ihr Gift drauf nehmen."
"Habt ihr denn bis jetzt noch gar nichts herausgefunden?"
"Doch, doch. Das läuft alles."
"Und?"
Er gab zunächst seinem Nachtisch den Rest, setzte sich dann in Positur und begann zum zweiten Mal zu erzählen:
"Also. Der Todeszeitpunkt läßt sich nicht ganz exakt bestimmen. Kann während der Beerdigung gewesen sein, oder als alle beim Leichenschmaus in Kleists Kneipe waren."
"Wo sie ein prima Alibi hatten!"
"Auf den ersten Blick, nur auf den ersten Blick! Kriminalistische Laien meinen immer, die Anwesenheit in einer Menschenansammlung wäre ein sicheres Alibi. Aber in Wirklichkeit kann man sich aus einer größeren Menge schon mal leicht für eine Zeit entfernen, ohne daß es gleich auffällt. Wir müssen da schon sehr genau hinsehen. Ob die Zeugenaussagen auch den gesamten Zeitraum abdecken. Das ist gar nicht so einfach, wie man vielleicht denkt."
"Ist es nicht?"
"Ist es nicht! Zuerst haben wir mal die Außenstehenden ausgeschlossen."
"Wen?"
"Na, daß wir die Frauen verdächtigen, heißt doch nicht, daß wir nicht auch in andere Richtungen ermitteln. Noch so ein Vorurteil."
"Wen meinst du denn damit?"
"Herr Kleist hat uns eine Liste von Leuten gemacht, mit denen B. in all den Jahren mal Streit hatte. Meistens ging es da um die Geschäfte der beiden. Eine ganz schön lange Liste, kann ich euch sagen."
Er machte eine Pause, um die Bedeutung seiner Worte zu erhöhen. Ich nickte, damit es weitergehen konnte.
"Erstaunlicherweise waren diese Leute sämtlich auf der Beerdigung und fast alle auch beim Kaffeetrinken. Gemeinsame schlechte Erfahrung mit B. haben die wohl zusammengeschweißt. Jedenfalls waren sie die ganze Zeit in Gruppen beisammen. Bombensichere Alibis. Die wenigen, die gleich nach der Beerdigung nach Hause sind, haben wir auch schon überprüft. Kann man alle ausschließen. So bleiben dann nur noch die Personen im Umfeld des Hauses übrig. Und da gibt es gleich auf den ersten Blick zwei, die kein Alibi haben."
Wieder so eine bedeutungsschwangere Pause. Theo Schneider vergewisserte sich, daß wir auch aufmerksam genug waren. Dann fuhr er fort:
"Herr Kleist war gar nicht auf der Beerdigung. Angeblich mußte er das Kaffeetrinken vorbereiten. War aber ein Vorwand, die Angestellten haben ihn jedenfalls die ganze Zeit nicht gesehen. Er kann also gut zum Haus Burckhardt gegangen sein. Der Weg ist nicht weit."
"Sieh mal an. Das ist ja interessant."
"Nicht wahr? Aber es kommt noch besser. Der andere ist nämlich Horst Wagner. Der ist gar nicht mit den Frauen zur Beerdigung gefahren, sondern erst später nachgekommen. War noch ziemlich lange allein im Haus. Vielleicht hatte er sich ja mit Nicolai verabredet."
"Aha!" platzte Aaron heraus.
"Wagner selbst hat ja kein Motiv, aber er kann durchaus ein Komplize einer der Frauen sein."
"Wie sieht's mit deren Alibis aus?"
"Sind auch nicht sicher. Für die Anwesenheit von Frau E. haben wir noch keine lückenlosen Belege gefunden. Und Jacobi und Burckhardt geben sich gegenseitig ein Alibi. Nach dem Testament sind die sich ja nicht mehr ganz so grün. Deshalb würde ich nicht unbedingt darauf wetten, daß es hält. Aber für mich ist der Fall sowieso klar."
"Tatsächlich?"
"Ja: Frau E. Sie kann als einzige einigermaßen glaubhaft behaupten, sie hätte nichts von ihrem Erbe gewußt, also kein Motiv gehabt. Gleichzeitig hat ihr Verlobter kein Alibi, sie vielleicht auch nicht. Das klingt doch ziemlich eindeutig."
Aaron protestierte:
"Lisa nicht! Das ist unmöglich!"
Theo runzelte die Stirn.
"Und warum, bitte schön, ist das unmöglich?"
"Die könnte sowas nicht. Außerdem ist sie richtig traurig, daß ihr Onkel tot ist."
"Woher weißt du das denn?"
Jetzt drohte das Gespräch in gefährliche Bereiche der zwischenmenschlichen Dynamik abzudriften. Ich wollte eine weitere Zuspitzung verhindern und lenkte deshalb ab:
"Erst mal sieht ja wohl nur Herr Wagner wie ein guter Kandidat aus."
"Genau", fiel Aaron ein, "dem ist das zuzutrauen. Was wißt ihr eigentlich so über den?"
"Bis jetzt kennen wir hauptsächlich sein Berufsleben. Mit journalistischem Ethos hat er wohl nicht viel am Hut. Ist ständig neuen Skandalgeschichten auf der Spur. Außerdem hat er eine politische Vergangenheit."
"Er ist Nazi?"
"Nee, so schlimm auch wieder nicht. Er soll mal mit der RAF sympathisiert haben, in seiner Jugend. Aber richtig ernst war es ihm damit wohl auch nicht."
"Aha, ein Mode-Linker. Die haben wir gerne. Dreht sein Fähnchen nach dem Wind, der Herr. Was?"
"So ähnlich, ja, glaub ich auch."
"Jemand, der für eine gute Story über Leichen geht. Und für Geld bestimmt auch."
"Moment mal! An Geld kommt er doch höchstens über Frau E. Und verlobt ist schließlich noch nicht verheiratet."
"Aber das ist doch gerade sein Plan!"
Aaron war jetzt nicht mehr zu halten. Daß sich Horst Wagner als ein Hauptverdächtiger herausstellte, schien ihm sehr gut in den Kram zu passen.
"Ich denk schon die ganze Zeit, daß Wagner dieser Ephraim ist. Er kennt sich im Weghaus aus. Er kannte Burckhardt. Er kannte auch Nicolai. Dienstag hat er ja noch nach ihm gesucht! Wahrscheinlich wollte er nicht bis Sonntag warten. Er findet ihn - anders als unsere Polizei - und bestellt ihn für gestern ins Weghaus. Paßt doch alles!"
"Moment mal! Ich hab selber am Montag gesehen, wie Nicolai und Wagner sich getroffen haben. Warum sollte Herr N. ihm dann noch einen Zettel in den Supermarkt hängen. Ist doch Blödsinn!"
"Nein, nein. Nicolai sollte ja nicht wissen, daß Wagner sein Auftraggeber ist. Das war so eine Scharade von Wagner. Mit solchen Versteckspielchen kennt er sich doch aus als Journalist!"
Theo Schneider war nicht überzeugt.
"Wir bleiben natürlich am Ball. Aber waghalsige Theorien helfen uns da nicht weiter. Hier ist jetzt Polizeiarbeit gefragt. Heute wird erst mal die Vernehmung der Beerdigungsgäste abgeschlossen. Danach verhören wir die Frauen noch einmal. Haben wir uns für morgen vorgenommen. Und dann müssen wir auch noch ein bißchen im Umfeld von N. ermitteln. Nur für den Fall, daß alles doch ganz anders war."
Ich sah meine Felle in bezug auf das Manuskript wegschwimmen und sagte:
"Meinst du nicht, wir könnten mal ins Weghaus gehen, heute oder morgen, und nach dem Faust suchen?"
"Auf keinen Fall könnt ihr das!Was wir jetzt überhaupt nicht gebrauchen können, sind Amateure zwischen den Beinen! Das Gartenhaus ist sowieso versiegelt, da kommt erst mal keiner rein. Und die Bibliothek müssen wir auch noch mal durchsuchen."
"Aber ihr wißt doch gar nicht, wonach ihr suchen sollt. Wenn wir dabei wären -"
"Wenn ihr unbedingt helfen wollt, könnt ihr etwas anderes machen."
"Was denn?"
"Wir haben ein paar Verwandte von Nicolai aufgetrieben."
"In Wolfenbüttel?"
"Ja, Alteingesessene. Die reden nicht viel, und mit uns schon gar nicht. Vielleicht sagen sie euch ja mehr. Haben nur irgend etwas von Ahnenforschung geblubbert, die N. hier betrieben haben soll. Dann hatten sie noch eine ganz abstruse Geschichte mit einem 'Familiengeheimnis'auf Lager. Solche Sachen liegen euch doch!"
Das interessierte mich tatsächlich sofort. Und als Theo uns den Namen der Familie nannte, war ich vollkommen elektrisiert.
Nicolais Verwandte in Wolfenbüttel hießen Sömmering!
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