Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König
Kapitel 23
Kapitel 23: Sound off
Der Stock wirbelte zwar vielversprechend durch die Luft, stürzte dann aber schon sehr bald steil nach unten. Ich war noch nie ein guter Werfer vor dem Herrn. Rollo zeigte sich jedoch von seiner großzügigen Seite. Er lief in einem weiten Bogen auf den Absturzort zu und gab mir so das Gefühl, mein Wurf wäre doch ganz angemessen gewesen.
Dieses Spiel hatte sich zu einem Ritual zwischen uns entwickelt. Immer, wenn ich das Grundstück betrat, kam Rollo mir schwanzwedelnd entgegen, das Stöckchen schon in seinem Maul. Wahrscheinlich hatte er einen Vorrat davon in seiner Hütte liegen, um stets gerüstet zu sein. Jedenfalls gab es für mich dann kein Entrinnen. Er ließ mich nie in Ruhe, bevor ich nicht wenigstens einmal geworfen hatte. Daß ich solch ein miserabler Werfer war, schien ihn nicht weiter zu stören. Und auch ich gewöhnte mir meinen anfänglichen Ehrgeiz bald ab und warf halt, so gut ich eben konnte, genau wie mein vierbeiniger Freund noch von dem reinen olympischen Gedanken beseelt.
Ich wunderte mich ein wenig, daß Aaron gar nicht herauskam. Schließlich waren wir verabredet, und ich hatte mich sogar schon etwas verspätet. Bestimmt saß er noch bei seinem Frühstück oder wurde von Lisa abgelenkt. Ich spielte also weiter mit Rollo, ohne mir etwas dabei zu denken. Als er dann aber nach einer Weile immer noch nicht erschien, klingelte ich doch einmal an der Tür, jedoch vergebens.
Seltsam. Offensichtlich war er nicht da, und auch sonst keiner von den Hausbewohnern. Rollo konnte es nur recht sein. Er spürte wohl Nachholbedarf, denn gestern war keine Zeit für ihn gewesen. Aaron und ich hatten noch einmal das ganze Haus durchsucht, weil wir nach Amalia Jacobis Aussage glaubten, daß wir beim letzten Mal etwas übersehen haben mußten. Darum war ich mit neuer Hoffnung und Energie an die Aufgabe gegangen. Leider blieb unsere Suche vollkommen ohne Erfolg. Und nach vier Stunden Arbeit waren wir ziemlich erschöpft und entmutigt. Ich konnte Aaron dann nicht mehr zum Weitermachen bewegen, obwohl noch zwei Räume im Keller übrig waren. Ich hatte allerdings darauf bestanden, heute dort weiterzusuchen.
Meine Erwartung schwankte dabei zwischen einem letzten Rest Hoffnung und der immer stärker wachsenden Verzweiflung. Auf jeden Fall würde ich Gewißheit bekommen, so oder so. Aaron war schon gestern nicht wirklich von unserem Erfolg überzeugt gewesen und ziemlich halbherzig an die Suche herangegangen. Möglicherweise hatte er ja deswegen unsere Verabredung heute verschludert.
Ich sah noch einmal zum Haus hinüber, ob dort vielleicht doch ein Lebenszeichen zu sehen war. Rollo knurrte mißmutig, denn er merkte, daß ich nicht mehr richtig bei der Sache war. Dann ging sein Knurren plötzlich in ein böses Bellen über, und ich blickte erschrocken auf. Aber ich war gar nicht gemeint. Jemand mußte kommen. Rollo ließ den Stock fallen und lief aufgeregt zum Zaun. Ich folgte ihm.
Als ich um die Ecke ging, sah ich, wie Aaron gerade aus seinem alten VW stieg. Rollo erwartete ihn am Tor. Sein Bellen klang nach wie vor ziemlich unfreundlich. Anscheinend hatten die beiden noch immer nicht so richtig Freundschaft geschlossen.
Ich ging etwas schneller und sprach schon von weitem beruhigend auf Rollo ein. Der kam zurück an meine Seite, und Aaron konnte ungehindert aufs Grundstück kommen. Was wäre wohl passiert, wenn ich nicht da gewesen wäre? Aaron schien sich ähnliche Gedanken zu machen, denn er zuckte richtig zusammen, als ich ihn ansprach:
„Wo bist du gewesen? Waren wir vielleicht verabredet, oder was?
„Sorry. Ich dachte, ich schaff's schneller. Mußte dringend mal in die Akademie. Die Typen vom Kulturamt spielen langsam verrückt. Ich glaub, mein Job geht jetzt bald den Bach runter.“
Das Gerede über die Akademie interessierte mich im Moment nicht weiter. Wohl aber, wo er die Frauen gelassen hatte. Ich fragte ihn.
„Die sind in der Stadt. Lisa will was einkaufen. Und außerdem holen sie Malchen ab.“
„Malchen wird entlassen? Ehrlich?“
„Ja. Hat Dr. Zacharias hingekriegt.“
„Na, wenn das mal nicht die falsche Entscheidung war.“
„Ach, komm! Die Polizei ist ja auch nicht ganz blöde. Die wissen schon, was sie tun.“
„Tatsächlich? Ich darf dich daran erinnern, daß Theo Lisa verdächtigt!“
„Ja, das ist natürlich Unsinn.“
„Vielleicht ist Theo ja bloß eifersüchtig.“
Aaron blickte verdutzt. Der Gedanke war ihm vollkommen neu. Mein blauäugiger Freund! Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, daß sein Verhältnis zu Theo Schneider nicht mehr so entspannt war wie früher. Er wollte wohl gern mit Theo befreundet bleiben, aber war jetzt oft unsicher, wie er sich ihm gegenüber verhalten sollte.
„Meinst du wirklich?“
„Glaub schon. Wie kommt es eigentlich, daß Theo sich da immer noch Hoffnungen macht? Sendest du etwa irgendwelche Signale aus, die er mißverstehen kann?“
Aaron war empört. Aber bevor er mir an die Kehle springen konnte, lenkte ich ein:
„Kann auch sein, daß Theo einfach nur spürt, daß es dir mit Lisa gar nicht wirklich ernst ist. Ich bin mir da ja auch nicht so sicher.“
Diesmal ging Aaron nicht hoch, sondern sah mich grübelnd an. Hatte ich da vielleicht einen Nerv getroffen? Egal! Jetzt war anderes wichtiger. Also sagte ich:
„Wie auch immer, Junge. Wir haben zu tun. An die Arbeit!“
„Nicht im Ernst, oder? Du willst wirklich in diesen dunklen, dreckigen Keller?“
„Aber klar! Frisch ans Werk!“
Aaron hatte überhaupt keine Lust, die Suche fortzusetzen. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis ich ihn soweit hatte. Dann folgte er mir grummelnd in den Keller. Rollo blieb draussen.
Die Kellerräume wirkten tatsächlich nicht sehr einladend. Dicke, vollgestaubte Mauern sperrten Licht und Wärme des Frühlings aus und ließen uns frösteln. Die Wände waren größtenteils nicht verputzt, und die unbehauenen Steine boten durch ihre zahlreichen Ritzen und Spalten Platz für allerlei Getier, das dort ungestört hauste. Um wenigstens größere Tiere zu verscheuchen, machte ich reichlich Lärm und leuchtete mit der Taschenlampe, die ich mitgebracht hatte, in alle Ecken und Winkel.
Früher war das der Weinkeller des Weghauses gewesen. So manche Flasche, die hier einst lagerte, hat Lessing wohl mit seinen Freunden geleert. Komisch, im Haus selber und auf dem Grundstück kamen mir nie solche Gedanken. Wahrscheinlich lag es daran, daß das Haus in allen Teilen im Laufe der Zeit mehrfach umgebaut worden war. Hier unten jedoch wehte noch der unverfälschte, wenn auch stickige, Atem des 18. Jahrhunderts. Einige der alten Schränke, die hier standen, mochten auch noch aus der Zeit stammen, vielleicht sogar der eine oder andere Gegenstand darin. Das war durchaus interessant, und unter anderen Umständen hätte ich sicher neugierig und sorgfältig alles betrachtet. Aber heute hatte ich keine Nerven dafür.
Ich suchte nur nach dem Buch. Es konnten natürlich auch lose Seiten sein, die gedreht oder gefaltet waren. Aber nichts, was Papier auch nur ähnelte, war zu sehen. Mit jedem Regal, das ich durchwühlt, mit jedem Schrank, den ich geöffnet hatte, wuchs meine Verdrossenheit. Aaron trug auch nicht gerade dazu bei, meine Laune zu heben. Er sinnierte immer noch über seine Situation nach. Er fragte mich:
„Meinst du, ich sollte meine Wohnung in Hornburg behalten? Lisa will, daß ich sie aufgebe, weil ich doch jetzt bei ihr wohne.“
„Und, tust du?“
„Wenn ich das mal wüßte! Mit den drei Frauen zusammen fühl ich mich eigentlich nicht so ganz wohl. Und der Hund will sich auch nicht an mich gewöhnen.“
„Geh doch mit Lisa woanders hin.“
„Wollte ich ja, aber sie mag nicht weg. Sagt, sie wird hier gebraucht.“
„Ja, dann ...“
Ich hatte eben in den letzten Schrank gesehen und dort auch nichts entdeckt, und mir war herzlich egal, wo Lisa wohnen wollte oder nicht. Gerade setzte ich dazu an, eine ungehaltene Bemerkung in dieser Richtung zu machen, da drang ein gedämpftes Geräusch aus der Ferne in unsere Gewölbe. Zuerst erkannte ich es nicht, weil die Mauern wirklich fast alles schluckten, aber schließlich wurde mir klar: Rollo bellte.
Dann hörten wir noch eine andere Stimme, ein Mann, wie es schien. Er mußte schreien, denn sonst wäre er hier unten gar nicht zu hören gewesen. Schnell liefen wir die Treppe hinauf, um nachzusehen, was da los war.
Der Lärm kam von Rollos Hütte. Er bellte aus Leibeskräften, weil jemand seinem Zuhause gefährlich nahe gekommen war. Dieser Jemand war Gustav Kleist, der aufdringliche Nachbar. Ich wollte Rollo sofort helfen, aber Aaron hielt mich fest.
„Laß mal, ich glaub, der Hund kommt ganz gut alleine klar.“
Und er hatte recht. Kleist blieb genau da stehen, wo Rollo ihn gestellt hatte, und traute sich nicht näher heran. Dann sah er den Stock, mit dem wir gespielt hatten. Er hob ihn auf und warf ihn möglichst weit weg. Rollo zauderte noch einen Moment, doch dann war sein Sportsgeist stärker, und er mußte hinterher.
Aber obwohl er in vollem Tempo weg lief, schien er sofort zu spüren, was in seinem Rücken geschah. Kleist hatte nämlich noch keinen weiteren Schritt gemacht, da schlug der Hund einen Haken und kam, ohne seine Geschwindigkeit auch nur im mindesten zu verringern, wieder zurück. Gerade noch rechtzeitig, um den Eindringling in Schach zu halten.
Kleist schreckte zusammen, wich aber nicht von der Stelle. Als Rollo merkte, daß er seinen Gegner mit bloßem Bellen nicht vertreiben konnte, faßte er nach dessen Bein. Kleist zog es aus der Gefahrenzone und holte gleichzeitig damit aus, um Rollo zu treten. Doch gerade in dem Moment, als es in der Luft war und bedrohlich auf Rollo zu sauste, warf sich der mit seiner ganzen Kraft auf das andere Bein seines Angreifers.
Kleist verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin. Rollo sprang auf seine Brust, bis dahin noch seinem Instinkt folgend, doch dann hielt er inne. Es machte den Eindruck, als ob er über den unverhofften Erfolg so verblüfft war, daß er nun nicht mehr weiter wußte.
Kleist schrie lauthals, aber auch er war unsicher, was er tun sollte. Rollo anzufassen, wagte er dann doch nicht. Statt dessen hatte er beide Arme vor seinem Kopf verschränkt. Jetzt mußte ich doch einschreiten. Ich ging zu den beiden und zerrte Rollo von seinem Opfer weg.
Ich hatte das Gefühl, der Hund war froh, endlich gesagt zu bekommen, wie es weiter ging. Andererseits wollte er seinen strategischen Vorteil auch nicht so leicht wieder aufgeben, und deshalb knurrte er wenigstens noch in Richtung Kleist. Der Widerstand gegen meinen Griff war aber nur darauf ausgerichtet, sein Gesicht zu wahren, als wollte er sagen: „Halt mich fest, sonst zerfleische ich den Kerl!“ Nachdem ich ihn dann doch losgelassen hatte, blieb er nämlich schön brav an meiner Seite.
Dafür warf sich ganz überraschend Aaron in den Kampf. Er fauchte Kleist an:
„Lassen Sie gefälligst den Hund in Ruhe! Was schleichen Sie überhaupt hier herum?“
Kleist reagierte nicht auf die Frage. Während er sich mühsam wieder auf die Beine rappelte, erging er sich in Verwünschungen über Rollo und schilderte die Gefahr für die Allgemeinheit, die von dieser „Bestie“ ausging, in den schrillsten Farben.
Ich sah auf den lammfromm vor meinen Füßen liegenden Hund. Ihn interessierte das Gezeter des Alten schon nicht mehr. Er schien sich jetzt sogar zu langweilen. Kleist gab keine Ruhe:
„Rechtliche Schritte, jawohl, werde ich einleiten. Körperverletzung ist das. Unglaublich!“
Aaron konterte: „Seien Sie froh, wenn Sie nicht noch wirklich verletzt werden. Viel fehlt nicht mehr, und ich vergesse mich! Also, was wollen Sie?“
„Ich hab Diana gesucht!“
„In der Hundehütte?!“
„Und wenn schon. Sie haben mir gar nichts zu sagen. Sie sind hier vollkommen unbefugt. Die Polizei werd ich rufen, jawohl!“
Bei den letzten Worten hatte er sich auf uns zu bewegt. Das erweckte wieder Rollos Aufmerksamkeit. Er hob den Kopf und sah zu Kleist hinüber, was völlig ausreichte, um dessen Redeschwall zu stoppen. Rollo erhob sich, und Kleist wich sofort zwei Schritte zurück. Dann drehte er sich um und lief, so schnell er konnte, davon.
Aaron klatschte Rollo Beifall, und der bellte triumphierend. Schließlich hüpften die beiden siegreichen Alliierten in einem spontanen Freudentanz über die Wiese.
Ich sah Rollo an. Wie gestern schon einmal, kroch ein undeutlicher Gedanke durch mein Gehirn. Ich versuchte, ihn zu fassen, aber mir schwante nur, daß er irgendwie mit dem Hund zu tun hatte. Der Gedanke wurde nicht klarer, aber dafür setzte sich ein ganz nachdrückliches Gefühl in meinem Bauch fest und steigerte sich dann sogar zu einer aufgeregten Gewißheit: Ich hatte den Schlüssel zur Lösung meines Faust-Problems in der Hand. Ich wußte es nur nicht.
Rollo? War Rollo dieser Schlüssel? Oder seine Hütte? Was hatte Kleist eigentlich wirklich dort gesucht? War nicht noch kurz vor ihrer Verhaftung auch Malchen mit Rollo aneinander geraten? Weil sie auch seiner Hütte zu nahe gekommen war?
Ich ging zur Hundehütte, um sie genauer zu untersuchen. Bei mir hatte Rollo nichts dagegen. Er sah nur interessiert zu, genau wie Aaron. Ich kniete mich hin, damit ich auch wirklich in jeden Winkel schauen konnte. Aber da war nichts. Nur Rollos Katze.
Sie lag in der hintersten Ecke. Ich nahm sie heraus und hielt sie in der Hand, sah auf Rollo, der mich immer noch aufmerksam beobachtete, und wieder zurück zur Katze.
Da durchzuckte mich schlagartig die Erkenntnis!
Natürlich! Die Katze!
Mein Gefühl stimmte genau: Ich hatte sie ja tatsächlich schon ein paarmal in der Hand gehalten. Aber weil sie als Versteck für das Buch nicht in Frage kam, war mir nichts aufgefallen. Ich hatte sogar gesehen, daß das Stofftier frisch genäht worden war, und trotzdem war ich nicht auf die Idee gekommen, daß da etwas verborgen sein könnte. Das Buch hatte hier natürlich auch keinen Platz, wohl aber konnte etwas anderes darin versteckt sein. Ein Schlüssel, z.B.! Und ich hielt ihn in meiner Hand!
Ich tastete das Tier ab und spürte wirklich einen harten Gegenstand in seinem Inneren. Aaron bemerkte meine Erregung und guckte erstaunt. Ich gab ihm die Katze und sagte:
„Was glaubst du, ist das hier?“
„Der Tiger von Eschnapur?“
„Quatsch. Das Versteck! Wagners Versteck! Wir haben's endlich gefunden! Fühl doch mal! Da ist was Hartes drin, könnte gut ein Schlüssel sein.“
Aaron nahm zunächst noch ungläubig die Katze in die Hand, doch dann mußte er mir zustimmen:
„Du hast recht! Das ist es! Genial, Alter!“
Vor Begeisterung hüpfte er auf der Stelle, was Rollo für ein neues Spiel hielt. Er sprang auch umher, und auf einmal war ich der Ruhigste von uns dreien. Die beiden tobten richtig herum. Leider gelang es Rollo dabei, die Katze wieder zu fassen. Und als ich eingreifen und sie sicherstellen wollte, sauste er mit ihr zu seiner Hütte zurück.
Aaron wollte sie sofort holen, aber sobald er in Rollos Nähe kam, versteckte der das Stofftier wieder in seiner Behausung. Ich versuchte, ihn wegzulocken, aber, was ich auch probierte, Rollo hatte immer ein Auge auf Aaron und ließ ihn nicht zu der Katze. Ich sagte:
„So geht das nicht. Du mußt ihn ablenken. Ich öffne dann das Versteck und berge den Schlüssel.“
Ich traute mich nicht, das Wort 'Katze' in den Mund zu nehmen, damit Rollo nicht merkte, was wir vorhatten. Ich suchte den Stock von vorhin und schleuderte ihn durch die Luft. Rollo zögerte. Dann rannte Aaron los, und Rollo konnte nicht mehr widerstehen. Er setzte Aaron nach. Der war aber als erster bei dem Stock und warf ihn weiter weg. Beide liefen hinterher und verschwanden jetzt aus meinem Blickfeld.
Ich mußte mich beeilen. Schnell holte ich die Katze aus der Hütte. Die Naht am Bauch war nicht sehr fest. Ich löste sie vorsichtig und nur so weit, daß die Öffnung groß genug für den Gegenstand in ihrem Innern war. Dann schob ich ihn bis an diese Öffnung und schließlich hindurch.
Es war tatsächlich ein Schlüssel!
Vor lauter Aufregung wurde mir ein bißchen schwindelig. Jetzt mußte ich nur noch herausfinden, wozu der Schlüssel gehörte, dann würde ich endlich den Faust in Händen halten!
Ich verknüpfte den Faden, den ich an der Naht gelöst hatte, so gut wie möglich wieder und legte die Katze zurück in die Hütte. Mit dem Schlüssel in der Hand lief ich dann hinter das Haus zu Aaron. Ich fand ihn in einem wilden Getümmel mit Rollo. Aaron hatte seine restliche Scheu vor dem Hund verloren und war offenbar dabei, sich mit ihm anzufreunden. Komisch, ich spürte einen Anflug von so etwas wie Eifersucht. Nur mühsam konnte ich die beiden trennen. Aaron war ganz in dem Spiel aufgegangen. Er hatte seine Probleme mit Lisa und Theo vergessen und sah richtig glücklich aus. Stolz präsentierte ich ihm meine Beute.
„Und bitte! Der Schlüssel zum Geheimnis um den Faust!“
„Zeig her. Sieht aus wie ein Schließfachschlüssel. Fehlt uns natürlich noch das Schließfach.“
„Siehst du? Da sind zwei große Buchstaben auf dem Schlüssel, neben der Zahl: BS. Ob das wohl Braunschweig heißen könnte? Vielleicht die Schließfächer am Bahnhof?“
„Nein, nein. Aber ich weiß, was BS bedeutet: Bankhaus Seeliger.“
„Kenn ich nicht.“
„Doch, kennst du. Das ist die Privatbank an der Langen Herzogstraße. Eines der ganz wenigen Steinhäuser aus dem 17. Jahrhundert. Dort war damals die -“
„Ist mir ganz egal, was damals war. Du meinst, da ist das Schließfach?“
„Ganz sicher. Die Buchstaben sehen auch genauso aus wie in dem Firmenzeichen der Bank. Die Frage ist nur, ob sie uns an das Fach heranlassen.“
„Notfalls mit Theos Hilfe. Werden wir schon schaffen.“
Ich hätte mich am liebsten gleich auf den Weg gemacht, aber Aaron wollte auf Lisa warten. Ungeduldig sagte ich:
„Das kann noch ewig dauern, wenn Frauen erst mal einkaufen! Ich muß endlich den Faust bekommen.“
„Warum so eilig? Genieß doch einfach die Vorfreude.“
Vor lauter Vorfreude konnte ich schon nicht mehr still stehen. Ich hüpfte von einem Bein aufs andere, was Rollo neugierig beobachtete. Doch dann begann er, mit dem Schwanz zu wedeln, und lief nach vorne.
Wir folgten ihm und sahen, daß Diana Burckhardt angekommen war, alleine. Aaron fragte sofort nach Lisa.
„Die ist noch in der Stadt. Wollte Kleider kaufen. Ich bin schon mit dem Bus gekommen, weil: Ich kann an gar nichts anderes mehr denken, vor lauter Sorgen.“
„Was ist denn passiert?“, fragten Aaron und ich im Chor.
„Malchen war nicht mehr da! Sie ist schon gestern entlassen worden. Und Gustav soll sie abgeholt haben.“
„Kleist? Der war gerade hier, aber alleine.“
„Ach, du liebe Güte! Wo ist Malchen bloß? Und was hat Gustav mit ihr gemacht? Ich versteh das alles nicht!“
Ich hatte ein komisches Gefühl. Das Ganze kam mir sonderbar vor. Wenn Horst Malchen erzählt hatte, wo der Schlüssel war, warum kam sie dann nicht her, um ihn zu holen? Statt dessen war Kleist gekommen. Sein Auftritt an Rollos Hütte bedeutete ja wohl, daß er auch von dem Versteck wußte. Ich sagte zu Aaron:
„Kleist muß von Malchen erfahren haben, wo der Schlüssel ist, und die von Wagner.“
„Dann war er vielleicht in ihrem Auftrag hier.“
„Und warum kann sie nicht selbst kommen?“
„Ja, das ist genau die Frage!“
Diana verstand nicht, wovon wir redeten. Es interessierte sie auch nicht. Sie merkte nur, daß wir ihre Sorge um Malchen ernst nahmen. Das machte sie noch unruhiger. Sie ging vor der Haustür auf und ab, öffnete mechanisch ihre Handtasche und schloß sie wieder. Dabei bemerkte sie Rollo gar nicht, der mit ihr spielen wollte.
Irritiert wich der Hund von ihr zurück und kam zu uns beiden. Aaron streichelte ihn tröstend. Die Sozialstruktur in diesem Haushalt schien sich zu verschieben, jedenfalls soweit Rollo beteiligt war. Schließlich ging Diana hinein. Aaron und ich folgten ihr. Rollo schwankte zunächst, blieb dann aber doch lieber draußen. Vielleicht befürchtete er, Kleist könnte zurückkommen und noch einmal seine Katze bedrohen.
Diana fand auch im Haus keine Ruhe. Sie lief zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her. Dabei räumte sie Geschirr aus einem Schrank in den anderen. So ganz überblickte sie wohl nicht mehr, was sie da tat, denn einige Teile trug sie zuerst in die Küche und brachte sie später wieder ins Wohnzimmer, wo ich mich mit Aaron niedergelassen hatte. Dabei murmelte sie ständig vor sich hin.
Aaron war ähnlich verwirrt, wenn er auch keine Übersprungshandlungen zeigte. Oder vielleicht doch, denn wie er sich an dem Sherry bediente, war für ihn äußerst ungewöhnlich. Außerdem sagte er gerade schon zum dritten Mal:
„Ich weiß gar nicht, wo Lisa bleibt.“
Ich hatte keine Lust, mir das weiter anzuhören und sagte ihm, daß ich jetzt doch los wollte, um Theo zu treffen. Er meinte:
„Bleib noch, Lisa wird bestimmt gleich kommen!“
„Nee, du, ich kann hier nicht länger rumsitzen. Ich ruf dich an, wenn ich Theo gefunden hab. Du kannst dann ja nachkommen zur Bank.“
Ich sah meinem Freund an, daß er mich gerne begleitet hätte. Aber die Sorge um Lisa war wohl größer als seine Neugier. Obwohl ich nicht genau wußte, warum eigentlich. Vermutete er, daß Lisa gar nicht einkaufen war?
Na, wie auch immer! Ich hatte Wichtigeres zu tun. Wieder draußen ließ ich mich auch von Rollo nicht aufhalten und ging geradewegs zu meinem Auto. Ich wollte eben einsteigen, da kam Lisa vorgefahren. Na also! Vielleicht würde Aaron ja jetzt doch mitkommen. Ich schloß meinen Wagen wieder ab und ging auf Lisa zu.
Aber bevor ich noch die wenigen Schritte gemacht hatte, kamen schon Diana und Aaron aus dem Haus gelaufen. Beide stürzten an mir vorbei, jeder bemüht, als erster mit Lisa zu sprechen. Das Rennen ging unentschieden aus, so daß schließlich beide gleichzeitig auf sie einredeten. Diana erzählte, daß Kleist da gewesen war, aber ohne Malchen, und wollte wissen, was Lisa davon hielt. Aaron fragte, was sie so lange in der Stadt gemacht hatte. Dann fiel ihm ein, daß er ja auch Neuigkeiten bieten konnte, und er rief:
„Der Schlüssel, der Schlüssel ist aufgetaucht!“
Lisa versuchte, beiden zu antworten und gleichzeitig ihre eigenen Fragen loszuwerden, so daß es ein großes Durcheinander wurde, in das ich mich nicht auch noch einmischen wollte. Ich steckte den Schlüssel, den ich die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, in meine Hosentasche und zog mich aus dem Getümmel zurück zu Rollo. Der war froh, daß sich wieder jemand um ihn kümmerte. Soviel Aufruhr an einem Tag war er nicht gewohnt. Ich drehte mit ihm eine Runde um das Haus, damit er sich beruhigen konnte. Als wir wieder nach vorne kamen, redeten die drei immer noch alle zur selben Zeit.
Da drohte schon neue Aufregung: Ein Streifenwagen fuhr vor. Ich gesellte mich mit Rollo zu der Gruppe, die jetzt verstummte. Gemeinsam warteten wir, was passieren würde. Nach dem Lärm von eben kam mir die plötzliche Ruhe irgendwie unheilschwanger vor. Auch Rollo spürte die Veränderung und stand vollkommen still.
Die Türen des Autos öffneten sich. Theo Schneider und Kommissar Widemann stiegen aus. Sie blickten erstaunt auf das seltsame Empfangskomitee, das wir wohl abgaben, und betraten dann das Grundstück. Theo hielt sich im Hintergrund. Er wirkte ganz untypisch schüchtern und unbeholfen, das alles war ihm sichtlich unangenehm.
Albert Widemann ging auf uns zu und wandte sich an die Frauen. Vorher schickte er noch einen kurzen, kritischen Seitenblick auf Aaron und mich. Eine knisternde Spannung lag in der Luft. Es war, als ob alle den Atem anhielten. Langsam und stockend begann Widemann zu reden:
„Es tut mir sehr leid. Frau Burckhardt, Frau Eschenburg. Es ist meine traurige Pflicht, Ihnen etwas mitzuteilen. Wir sind gerade darüber informiert worden, daß unsere Braunschweiger Kollegen Frau Jacobi gefunden haben.“
„Was ist mit Malchen?“
Diana stellte die Frage, die uns natürlich alle bewegte.
„Sie ist tot. Es tut mir leid. Sie wurde ermordet.“
Lisa schluchzte auf. Aaron öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann jedoch anders, sein Mund blieb aber offen. Rollo sträubte seine Nackenhaare.
Ich war genauso geschockt wie alle, dachte aber sofort daran, wen diese Nachricht wohl am schlimmsten treffen würde, und sah auf Diana. Sie hatte sich ja schon die ganze Zeit am Rande eines Zusammenbruchs bewegt. Jetzt schnappte sie nach Luft, faßte an ihre Brust und sackte dann ganz langsam in sich zusammen. Beinahe in Zeitlupe wurden ihre Glieder schlaff, wie bei einer Marionette, an der die Fäden locker gelassen wurden.
Bevor sie vollständig zu Boden sinken konnte, hatte ich mich geistesgegenwärtig umgedreht und fing sie auf. Ich ließ sie sanft ins Gras gleiten, während Lisa und Aaron nur entsetzt zusahen. Theo Schneider eilte mir zur Hilfe. Er bettete die anscheinend bewußtlose Diana in eine vorschriftsmäßige Seiten-Bauch-Lage und fühlte ihren Puls.
Der dritte, der reagierte, war Rollo. Er sprang hinzu und leckte Diana Hand und Gesicht. Unter diesen Liebkosungen kam sie allmählich wieder zu sich. Theo und ich halfen ihr hoch. Dann führten wir sie vorsichtig ins Haus und legten sie im Wohnzimmer auf die Couch. Jetzt war auch Lisa wieder zum Leben erwacht. Sie jammerte laut, kümmerte sich aber um ihre Cousine. Schließlich heulten beide hemmungslos.
Die Polizisten hätten wohl gerne die Frauen befragt, doch mit denen war zur Zeit nicht zu reden. Deshalb wandten sie sich an Aaron und mich. Sie wollten wissen, ob wir einen Grund für Malchens Anwesenheit in Braunschweig kannten.
Wir hatten keine Ahnung und konnten ihnen nur noch einmal bestätigen, daß sich Malchen seit ihrer Entlassung bei uns nicht gemeldet hatte. Widemann sagte:
„Dann muß wohl Herr Kleist der letzte gewesen sein, der sie gesehen hat.“
Ich erwiderte: „Der war heute schon hier. Hat ziemlich unzusammenhängendes Zeug erzählt, aber nichts von Frau Jacobi.“
„Wann war das?“
„Ist höchstens 20 Minuten her.“
Noch während ich redete, merkte ich, wie Kleists Auftauchen plötzlich eine ganz andere Bedeutung bekam. Hatte er etwa mit Malchens Tod zu tun? Auf jeden Fall mußte er mehr wissen als wir alle. Diese Erkenntnis sickerte auch langsam bei den anderen durch. Lisa und Diana hörten auf zu weinen. Aaron fragte:
„Aber warum verhören Sie ihn dann nicht?“
„Keine Angst, das werden wir schon tun. Tatsächlich sind wir auch deshalb hergekommen. Wir haben in seiner Kneipe angerufen. Da sagte man uns, daß er hier wäre.“
„Soll ich eine Fahndung rausgeben, Chef?“
„Noch nicht, Inspektor. Wir fahren erst selbst zum 'Eichelhäher'. Vielleicht ist er ja inzwischen zu Hause.“
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