Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König
Kapitel 27
Kapitel 27: Let it be
When I find myself in times of trouble
Mother Mary comes to me
Speaking words of wisdom,
Let it be.
Rollo lag im Wohnzimmer und leckte seine Wunden. Er war gezeichnet vom Kampf mit dem wilden Tier. Doch die Verletzungen sahen schlimmer aus, als sie waren. Alles nur oberflächliche Kratzer. Sein Stolz jedenfalls hatte nicht gelitten.
„Ein Hund kann zerstört werden“, dachte er, „aber nicht besiegt!“
Als Sieger war er allerdings aus dem Kampf auch nicht hervorgegangen. Das Tier hatte sich als ein unbequemer und hartnäckiger Gegner erwiesen. Zum Glück war Rollos Lieblingsmensch an seiner Seite gewesen und hatte sich genauso mutig wie er ins Getümmel gestürzt. Sonst wäre es womöglich anders ausgegangen. So aber hatte Es sich nach einer Weile laut fauchend zurückgezogen und bestimmt die Lust verloren, noch einmal in die Nähe des Hauses zu kommen. Der Mensch hatte Rollo daran gehindert hinterherzusetzen.
Vielleicht war das auch gut so.
Eine angenehme Folge hatte das Ganze immerhin. Rollo durfte hier im Haus liegen, wo alle Menschen stolz auf ihn waren und seine Wunden bedauerten. Im Moment war zwar nur einer im Zimmer, aber das genügte ihm durchaus.
Rollo jaulte leise und wurde prompt gekrault. Da hörte er etwas. Er spitzte die Ohren und sah zur Tür. Draußen war jemand.
Es konnte nichts schaden, vorsichtshalber einmal zu bellen.
* | * | * |
Er wickelte die Einwegspritze vorsichtig in mehrere Lagen Zeitungspapier, bevor er sie in die Plastiktüte steckte. Gut, daß er sich davon gleich mehrere besorgt hatte. Eine war ja nun bei Kleist geblieben. Doch daraus ließen sich keine Schlüsse ziehen. Die Dinger konnte man heutzutage leicht bekommen, sogar ganz legal.
Er legte die leere Giftampulle dazu. Die war schon schwerer zu beschaffen gewesen. Aber auch hier hatte er keine Spuren hinterlassen. In der Apotheke in Braunschweig hatte er dafür gesorgt, daß es wie der Einbruch eines Junkies aussehen mußte. War als solcher sicher längst zu den Akten gelegt worden. Das erbeutete Morphium hatte er sofort danach beseitigt.
Zuletzt zog er die Handschuhe aus und steckte sie ebenfalls in die Tüte, die er dann sorgfältig verschloß. Das so entstandene Päckchen verstaute er in seiner Tasche. Später würde er es in der Stadt in einen Container werfen. Nach menschlichem Ermessen sollte es nie gefunden werden.
Alles ganz einfach.
The long and winding road
That leads to your door
Will never disappear,
I've seen that road before,
It always leads me here,
Lead me to your door.
Auch das Gift zu injizieren, war leicht gewesen. Es war zum Glück nur jeweils sehr wenig nötig. So wenig, daß sie den Unterschied nicht schmecken würde. Er schmunzelte bei dem Gedanken. Ein süßer Tod, wenn es jemals einen gegeben hatte.
Das Ganze war fast etwas zu einfach. Die einzige Schwierigkeit hatte darin bestanden, die Schachtel im Haus zu plazieren. Aber das war ja auch gelungen.
Jetzt brauchte er nur noch abzuwarten. Damit alles noch ein bißchen interessanter wurde, hatte er den Brief geschrieben. Der sollte für neue Verwirrung sorgen. Er war selbst sehr gespannt darauf, was wohl passieren würde.
Selbstvergessen lächelte er, zufrieden mit sich und der Welt.
* | * | * |
Es war ein wunderschöner Sonntagmorgen. Ich stand alleine vor dem Gartenhaus.
Seit Nicolais Tod traute sich hier niemand mehr hin. Die Frauen hatten Angst davor, es zu betreten. Und sogar Rollo machte seither einen weiten Bogen um das Gebäude.
Ich war neugierig, wie es dort aussehen mochte. Dann erfaßte mich aber doch eine unangenehme Stimmung, als ich die Tür öffnete und vorsichtig eintrat. Eine düstere Atmosphäre schlug mir entgegen. Es sah aus wie nach einem Kampf, alles lag wild durcheinander. Die Möbel bedeckte eine dicke Staubschicht, die vielleicht noch von der Spurensicherung stammte. Papiere waren über den ganzen Fußboden verstreut. Dazwischen gab es zahlreiche dunkle Flecken. Man sah es ihnen nicht mehr an, aber es mußten wohl Blutspuren sein. Ich ging lieber wieder hinaus in die frische Luft. Dort setzte ich mich ins Gras und ließ mir die Sonne auf das Gesicht scheinen.
Ich war also im Weghaus geblieben und hatte eine Nacht unter dem Dach verbracht, das auch Lessing so oft beherbergt hatte. Ein faszinierender Gedanke. Bis jetzt war ich noch gar nicht richtig dazu gekommen, mir das klar zu machen.
Aber war es richtig, daß ich geblieben war?
Und sollte ich noch länger hier bleiben?
Rollo würde das freuen, das war eindeutig. Schon gestern hatte er mich gut gebrauchen können, als er im Wald auf einen Waschbären gestoßen war. Ich wußte gar nicht, daß es hier welche gab. Geschweige denn, daß sie sich mitunter sehen ließen. Rollo hatte ihn dann sogar zu spüren bekommen. Ein ziemlich kratzbürstiges Tier. Aber gemeinsam konnten wir es in die Flucht schlagen.
Rollo durfte sich danach drinnen von seinem Kampf erholen. Er war also genau wie ich ein neuer Gast in diesem Haus, den die Frauen nicht gewohnt waren und den sie wohl allenfalls vorübergehend dulden würden. Diana war sogar richtig feindselig zu mir gewesen. Da sie sich Aaron gegenüber aber genauso benahm, schob ich das auf ihre allgemeine Verwirrung durch die Ereignisse.
Auch Lisa schien am Anfang eher seltsam von meiner Anwesenheit berührt zu sein. Dann erwärmte sie sich aber zunehmend an dem Gedanken, jetzt noch einen weiteren Mann im Haus zu haben. Inzwischen behandelte sie mich sehr freundlich. Wenn ich Aarons gelegentliche Blicke richtig deutete, war es ihm sogar schon ein wenig zu freundlich.
Ansonsten wirkte er spürbar erleichtert, daß ich geblieben war. So langsam dämmerte mir jedoch, was wohl meine eigentliche Aufgabe hier sein sollte.
Es ging gar nicht darum, Lisa zu beschützen. Vielmehr sollte ich zumindest gelegentlich auf Diana aufpassen, damit Aaron mit Lisa alleine sein konnte.
Einerseits fühlte ich mich dadurch etwas mißbraucht, andererseits war es auch nicht unspannend, jetzt so nah am Geschehen zu sein. Denn eins war sicher: Wenn noch etwas passieren würde, dann würde es hier passieren.
Heute morgen hatten wir die beiden Frauen sich selbst überlassen und waren gemeinsam nach draußen gegangen. Aaron blieb jedoch die ganze Zeit ziemlich einsilbig. Er wollte wohl über etwas nachdenken. Da war ich ihm sogar zuviel geworden, und er hatte sich auch von mir getrennt. Ich sah ihn in der Ferne noch, wie er in den Wald ging.
* | * | * |
Diana Burckhardt saß im Wohnzimmer und kraulte Rollo, als der plötzlich knurrte. Erschrocken hörte sie auf und sah zu dem Hund hinunter. Sie glaubte, sie wäre aus Versehen an eine seiner Wunden gekommen. Aber Rollo hatte nicht sie angeknurrt, sondern die Tür. Jetzt bellte er sogar.
Es mußte jemand draußen sein. Diana stand auf und ging nachsehen. Aber da war niemand. Sie wollte schon wieder hineingehen, als sie bemerkte, daß etwas im Briefkasten lag.
Post? An einem Sonntag?
Sie nahm den Schlüssel und öffnete den Briefkasten. Darin lag ein unfrankierter Umschlag mit ihrem Namen. Verwundert nahm sie ihn in die Hand. Sie wollte erst wieder ins Wohnzimmer, um Rollo zu beruhigen, der immer noch knurrte, aber dann war ihre Neugierde stärker. Sie blieb im Flur stehen und machte den Brief auf. Mit zunehmender Verwunderung und Angst las sie:
Ich weiß, was du getan hast.
Komm um 12 zur Johanniskirche und bring Geld mit.
10 000 reichen fürs erste.
Entgeistert faltete sie den Brief wieder zusammen und sah sich um, ob sie jemand gesehen hatte. In der Küche hörte sie Lisa hantieren, und im Wohnzimmer beklagte George die Selbstsüchtigkeit der Welt:
No one's frightened of playing it,
Ev'ry one's saying it,
Flowing more freely than wine.
All thru' the day
I me mine.
Kurz entschlossen ging sie nach oben. Am Ende der Treppe zögerte sie einen Moment und betrat dann Lisas Zimmer.
Sie sah sich um. Auf dem Tisch am Fenster lagen einige Bücher, eine Schachtel Pralinen und ein Stapel Papiere.
„Wo ich schon mal hier bin“, dachte sie, „kann ich auch nachsehen, was da so liegt.“
Sie nahm die Papiere zur Hand. Es waren allesamt Broschüren über die Anlagemöglichkeiten, die verschiedene Investment-Fonds anboten. Empört legte sie den Stapel wieder auf den Tisch. Lisa plante tatsächlich schon, das Geld auszugeben. Das Burckhardt-Geld, das eigentlich als rechtmäßiger Erbin ihr zustand. Ihr Geld. Unglaublich!
Die Bücher interessierten sie alle nicht, sie beschäftigten sich mit Problemen des 18. Jahrhunderts. Ohne zu merken, was sie tat, blätterte Diana darin. Dabei überlegte sie, ob sie nicht doch erzählen sollte, was Gustav zu ihr gesagt hatte.
Aber würde das etwas nützen? Nein. Außerdem könnte sie das später immer noch tun.
Sie klappte die Bücher wieder zu, sah sich noch einmal im Raum um und legte den Brief auf die Pralinenschachtel. Dann öffnete sie die Zimmertür und ging wieder hinaus.
Keinen Moment zu früh, denn unten hörte sie Lisa die Küche verlassen. So schnell sie konnte, ohne laut zu sein, ging sie in ihr eigenes Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
Nur kurz später klopfte es, und Lisa kam herein. Sie schien sehr aufgeregt zu sein, und Diana wußte, warum.
Erstaunlicherweise hatte Lisa aber nicht den Brief in der Hand, sondern die Pralinenschachtel, und sie sagte:
„Guck mal, was ich in meinem Zimmer gefunden habe. Pralinen. Hat bestimmt Aaron da hingelegt. Komisch, dabei weiß er doch ganz genau, daß ich Nougat nicht mag.“
„Ja, äh. So sind die Männer eben.“
„Aaron eigentlich nicht. Ach, egal. Willst du sie haben? Du magst das doch, oder?“
Diana nahm die Schachtel und wartete, ob Lisa noch mehr sagen würde. Aber die murmelte nur noch etwas über die zunehmende Gedankenlosigkeit in der Welt und ging dann wieder hinaus.
* | * | * |
Wie gerne wäre er nach Braunschweig gefahren. Hätte sich zurückgezogen in sein Zimmer, um auszuruhen, geschützt vor neugierigen Blicken.
Niemand wußte, daß er es gemietet hatte. Es befand sich in einem Haus, das ganz versteckt in einer winzigen Straße im Magni-Viertel lag. Hier war er immer noch genügend im Zentrum der Stadt. Konnte alles, was wichtig war, leicht erreichen und fiel dennoch als Fremder nicht auf. Auf der anderen Seite war die Gegend schon so abgelegen, daß er nicht befürchten mußte, jemanden zu treffen, der ihn kannte.
Das Zimmer war nur klein. So klein, daß er darin keine zwei Schritte gehen konnte, ohne an eine Wand zu stoßen. Aber es bot ihm Zuflucht. Er fühlte sich da geborgen. Konnte loslassen.
Dort wäre er in Sicherheit gewesen. Hätte sich aufs Bett legen können und in dem Buch blättern. Sich berauschen an dem Erfolg, den er bis jetzt gehabt hatte. Hätte alle bisherigen Unternehmungen noch einmal in Ruhe durchspielen und die Überlegungen für die nächsten Schritte vorantreiben können.
Aber das ging alles nicht. Er mußte hier am Ball bleiben. Je nachdem, wie sich die Dinge entwickelten, könnte es erforderlich sein, schnell einzugreifen. Die nächsten Tage würden da entscheidend sein.
Doch einen Moment Ruhe konnte er sich gönnen. Er nahm aus seiner Tasche die erste Seite des Manuskripts, die er von dem Rest gelöst und mitgenommen hatte. Für solche Momente. Damit er ab und zu darauf sehen konnte, um sich zu vergewissern, daß er nicht träumte. Daß er tatsächlich diesen Schatz besaß.
Ja, es war Wirklichkeit.
Er streichelte das Blatt. Behutsam glitten seine Finger über das jahrhundertealte Papier. Voller Ehrfurcht las er die dort festgehaltenen Worte.
* | * | * |
Ich hörte Geräusche vom Haus und stand auf, um zu sehen, was da los war. Lisa kam heraus. Ich ging ihr entgegen.
„Wir hatten doch verabredet, daß ihr nicht alleine weggehen wolltet!“
„Ich muß Aaron suchen.“
„Schlimm genug, daß er weg ist. Brauchst du nicht auch noch hinterher zu laufen.“
„Wo ist er denn? Ich dachte, ihr wärt zusammen.“
„Waren wir auch, aber dann wollte er unbedingt allein sein.“
„Warum?“
„Keine Ahnung. Ich hatte den Eindruck, er will nachdenken.“
„Was der nur immer nachzudenken hat! Weißt du, was eigentlich mit ihm los ist?“
„Er macht sich Sorgen um dich.“
„Ja, schon. Aber das kann's nicht sein. Sonst würde er doch nicht hier in der Gegend rumlaufen. Ohne mich.“
„Vielleicht ist auch die ganze Aufregung ein bißchen viel für ihn.“
„Vielleicht bin ich ja auch ein bißchen viel für ihn. Weißt du, ich frage mich schon manchmal, ...“
Ich fand es gut, daß sie den Satz nicht vollendete. Ich wollte nämlich nicht wirklich wissen, was sie sich fragte. Das ganze Gespräch wurde mir langsam zu vertraut. Ich hatte kein Interesse daran, Lisas Vertrauter zu werden. Schon gar nicht, wenn es eventuell gegen Aaron ging. Aber Lisa kannte kein Erbarmen:
„Denkst du, Aaron ist der Richtige für mich? Ich meine, ist er so zuverlässig und treu, daß ich mein ganzes Leben darauf bauen kann?“
Jetzt war es passiert. Gewissenskonflikt. Ich wollte Lisa nicht unbedingt anlügen. In Aarons Interesse müßte ich das nun aber tun. Denn ich wollte ihr nicht sagen, daß Aaron meiner Meinung nach kaum die Zuverlässigkeit in Person war. Er hatte eben andere Stärken. Ich hoffte, wenn ich nur lange genug zögern würde, könnte der Kelch vielleicht noch an mir vorübergehen. Und wirklich entdeckte Lisa da den Gegenstand unseres Gesprächs in einiger Entfernung am Waldesrand.
Erleichtert ließ ich sie gehen und kehrte zum Haus zurück, damit Diana nicht alleine bleiben mußte. Unten fand ich sie nicht, deshalb ging ich nach oben. Ich sah mich noch ein wenig unschlüssig um, da kam sie doch tatsächlich aus meinem Zimmer!
Empört trat ich ihr entgegen. Aber bevor ich noch etwas sagen konnte, raunzte sie mich an:
„Ich wollte Ihr Bett machen. Aber das haben Sie ja schon selbst erledigt.“
Der letzte Satz kam mit einem Unterton, der zu sagen schien: „Konnte man dir ja nicht unbedingt zutrauen.“ Ich teilte ihr pikiert mit, daß ich durchaus selbst für mich sorgen könnte, und wollte noch mehr hinzufügen. Aber dann ließ ich es. In dem Zimmer lagen schließlich keine persönlichen Dinge von mir. Ich war gestern kurz entschlossen hier geblieben, und alle meine Sachen waren noch in Hornburg.
Diana befürchtete wohl auch, ich könnte noch mehr sagen, denn sie drängte sich jetzt zügig an mir vorbei in ihr eigenes Zimmer. Ich hörte, daß unten Lisa und Aaron ins Haus zurück kamen. Deshalb ging ich auch wieder hinunter. Auf der Treppe begegnete ich Lisa. Sie fragte:
„Sag mal, hast du mir vielleicht die Pralinenschachtel ins Zimmer gelegt? Aaron war's nämlich nicht.“
Entrüstet wies ich das von mir. Was hätte mich auf so eine Idee bringen können? Lisa sah mich an, und ich hatte das Gefühl, sie glaubte mir nicht. Dann meinte sie mit einem Augenzwinkern:
„Auf jeden Fall solltest du wissen, daß ich kein Nougat mag.“
Verdutzt blieb ich stehen. Was sollte das? Wollte sie etwas von mir? Hatte sie vielleicht vor, Aaron eifersüchtig zu machen? Ich beschloß, mich auf keinen Fall dafür benutzen zu lassen.
Aaron saß allein im Wohnzimmer. Ganz durcheinander von Lisas seltsamem Verhalten mir gegenüber, setzte ich mich zu ihm. Er hatte wohl immer noch mit sich selbst genug zu tun, so daß er meine Verwirrung nicht bemerkte. Nach einer Weile sagte ich:
„Hey Mann, wie läuft's eigentlich mit Lisa?“
„Ach, ich weiß auch nicht so recht. Sie ist seit gestern ziemlich komisch.“
Das hörte ich gar nicht gerne.
„Habt ihr Streit?“
„Nein, nein, das nicht.“
„Sondern?“
„Ach, ich glaube, sie hat nur Angst.“
„Wäre ja kein Wunder.“
„Vielleicht fahr ich einfach mit ihr weg.“
„Das würde Theo und seinen Chef aber gar nicht freuen.“
„Theo geht mir auf die Nerven.“
Die letzte Bemerkung hatte Diana gehört, die gerade das Zimmer betreten hatte. Sie stimmte gleich lebhaft zu:
„Da sagst du mal was Vernünftiges. Furchtbar der Mensch. Immer diese Fragen!“
Ich sagte: „Wäre ja nicht schlecht, wenn er mal so langsam ein paar Antworten finden wür-de.“
Aaron meinte: „Na ja. Er hat's auch nicht leicht. Wenn man bedenkt, daß wir schließlich selbst keine Ahnung haben, was eigentlich vorgeht.“
Wir plauderten ein wenig über Theo und seine Schwierigkeiten, seinem Chef gerecht zu werden. Diana verhielt sich still, hörte aber gespannt zu. Ich hatte den Eindruck, daß sie uns ganz genau beobachtete. Schließlich sagte Aaron, er müßte jetzt mal nach Lisa sehen, und ging hinaus.
Nachdem Aaron den Raum verlassen hatte, fühlte ich mich sofort unwohl. Ich hatte bisher noch keinen Draht zu Diana Burckhardt gefunden, war mir nicht mal sicher, ob das überhaupt ging. Jedenfalls wurde mir immer unbehaglich zumute, wenn ich mit ihr alleine blieb.
Ihr schien das ganz anders zu gehen. Sie sah mich interessiert an, so als ob sie sehr neugierig wäre, was jetzt passieren würde. Sie hatte eine Schachtel in der Hand. Das mußten wohl die Pralinen sein, von denen Lisa geredet hatte. Diana öffnete die Schachtel, nahm eine Praline heraus, legte sie aber dann zurück. Erneut sah sie mich an.
Ich überlegte verzweifelt, worüber ich mit ihr reden könnte. Da kam zum Glück Aaron schon wieder. Er war ziemlich aufgeregt und sagte:
„Wo ist Lisa?“
„Hast du sie nicht gefunden?
„Dann würd ich ja nicht fragen. In ihrem Zimmer ist sie nicht.“
„Wo kann sie schon sein? Wird irgendwo im Haus herumlaufen. Was regst du dich so auf?“
Ohne darauf zu antworten, wanderte Aaron im Raum hin und her. Blieb etwas unentschlossen stehen, konnte dann aber wohl keine Ruhe finden und ging noch einmal hinaus.
Diana schien von dem Auftritt vollkommen unbeeindruckt. Sie fuhr fort, mich so seltsam anzusehen. Dann nahm sie wieder eine Praline in die Hand, aß sie aber auch diesmal nicht.
Damit ich nicht noch einmal in dieselbe Verlegenheit wie eben geraten konnte, ging ich zu Rollo und beschäftigte mich mit ihm. In meinem Rücken spürte ich, wie Diana mich weiter beobachtete.
Nach einer Weile kam Aaron zurück, jetzt noch aufgeregter, und rief:
„Lisa ist im ganzen Haus nicht! Muß wieder rausgegangen sein. Was soll das? Was hat sie vor? Kannst du mir das mal sagen?“
Konnte ich nicht, und so verkündete er, daß er sie dann draußen suchen wollte, und verließ das Zimmer. Langsam wurde ich auch ein wenig unruhig. Ich sagte zu Diana:
„Sie haben doch vorhin noch mit Lisa geredet. Hat sie erzählt, daß sie irgendwas vorhat?“
„Hat so rumgesponnen. Überlegt, ob sie vielleicht in die Kirche gehen sollte.“
„Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“
„Ich dachte, sie meint das nicht ernst. Sie geht doch sonst nie in die Kirche. Und dann noch nicht mal in unsere. Zur Johanniskirche wollte sie fahren.“
„Was hat sie sich bloß dabei gedacht? Wir bemühen uns hier, daß keiner allein ist, und sie verschwindet einfach. Unglaublich!“
„Ihr wird schon nichts passieren. In der Stadt sind doch jede Menge Leute.“
„Das Risiko kann man nicht eingehen. Ich muß hinterher. Wenn Aaron kommt, soll er unbedingt hierbleiben. Nicht nötig, daß Sie jetzt auch noch alleine sind. Ich beeil mich.“
Und genau das tat ich. Ohne mich noch einmal umzudrehen, lief ich hinaus und zu meinem Auto. Was hatte das nur alles zu bedeuten?
Auf der Fahrt versuchte John, mich zu beruhigen:
Jai Guru Deva Om
Nothing's gonna change my world
Nothing's gonna change my world
* | * | * |
Images of broken light
Which dance before me
Like a million eyes,
That call me on and on
Across the universe
Erschrocken über seine eigene Stimme, schloß er den Mund. Das Lied war plötzlich in seinem Kopf gewesen, und ohne es recht zu bemerken, hatte er laut gesungen. Aber es gab auch allen Grund, froh zu sein. Die Dinge liefen nämlich gut. Sogar noch viel besser, als man hätte erwarten können.
Er sah nach oben. Eine kraftvolle Sonne zerfaserte die wenigen Wolken am Himmel und schien ihm auf die Haut. Vögel zwitscherten, und Wohlgefallen lag in der Luft. Von ferne teilten dünne Glockenschläge die sonntägliche Stille in gleichförmige Häppchen. Als ihr beruhigender Rhythmus seinen Atem erfaßte, und auch ihn zur Ruhe kommen ließ, formte sich undeutlich die Frage in ihm, wem hier wohl die Stunde schlug. Noch war diese Frage ja nicht eindeutig entschieden. Diesmal hatte er dem Schicksal einen kleinen Spielraum gelassen.
Wie auch immer. Er konnte jetzt erst einmal abwarten. Schließlich agierte er im Einklang mit den Dingen und hatte seine Arbeit bis hierhin richtig gemacht. Viel blieb nun nicht mehr zu tun. Bald würde das Werk vollendet sein. Dann könnte er das alles hinter sich lassen und die gelungene Inszenierung aus der Ferne genießen.
Ein leichter Wind kam auf und trieb die zerteilten Wolken erneut zusammen. Es entstand ein Gebilde, das aussah wie ein Walroß.
Er mußte lächeln. Dann sang er wieder:
Thoughts meander like a
Restless wind inside a letter box
They tumble blindly as
They make their way
Across the universe
* | * | * |
Rollo legte den Kopf auf seine Pfoten. Endlich Ruhe!
Dieses ständige Kommen und Gehen hatte ihn ganz nervös gemacht. Und alle waren immer so aufgeregt!
Aber jetzt war er allein mit seinem alten Lieblingsmenschen. Die Frau saß am Tisch und hatte eine offene Schachtel mit Futter vor sich liegen. Rolle schnüffelte. Der Geruch kam ihm irgendwie seltsam vor. Überhaupt nicht lecker. Aber das sollte ihm auch egal sein. Er hatte den klaren Auftrag bekommen, hier zu liegen. Anscheinend durfte er den ganzen Tag drinnen bleiben.
Das gefiel ihm. Denn seine Wunden hatte er zwar vergessen, nicht jedoch den gefährlichen Gegner, der vielleicht noch draußen auf ihn lauerte. Rollo hatte keine Angst vor einem neuen Zusammentreffen, aber es mußte nicht unbedingt heute sein.
Er sah wieder hinüber zum Tisch. Die Frau steckte sich ein Futterstückchen in den Mund. Als sie es kaute, bemerkte Rollo den sehr feinen, kaum wahrnehmbaren Geruch, der von ihm ausging. Ein Geruch, der ihm Angst machte.
Er bellte eine Warnung. Doch die Frau hatte schon ein zweites Stück in der Hand. Sie wollte auch das in den Mund stecken, und Rollo bellte noch einmal. Da wurde ihre Hand ganz schlaff, das Stück Futter fiel auf den Boden.
Rollo sträubten sich die Haare, und er fing an zu heulen, erst nur leise, dann immer lauter.
Zuletzt übertönte er sogar Paul, der unbeeindruckt davon sein trauriges Lied zu Ende sang:
I wake up to the sound of music
Mother Mary comes to me
Speaking words of wisdom,
Let it be.
Weiter mit Kapitel 28