Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König


Kapitel 2






Kapitel 2: Please Please Me



Das Haus hatte bessere Tage gesehen.
Die kunstvollen Verzierungen des Fachwerks erzählten davon, die inzwischen nur noch matt rot und golden glimmten, und auch die Inschriften rund um die Eingangstür, die so abgeblättert waren, daß man sie kaum noch lesen konnte.
Die Fachwerkbalken waren schon fast grau und spröde vor Alter, und der Putz zwischen den Balken bröckelte ab und war hier und da sogar ganz verschwunden.
Ein leichter Wind streichelte die Fassade und pinselte weiteren Staub aus den Eingeweiden des Hauses heraus.
Die Frühlingssonne tauchte die rechte Hälfte der Vorderfront in helles Licht und ließ die gesunden Teile des Putzes weiß aufleuchten. Die schadhaften Stellen tröpfelten blinde Flecken auf diese beinahe spiegelnde Fläche.
Der lange Schatten einer mächtigen Kastanie verdunkelte die linke Seite des Hauses, und ihre noch spärlich belaubten Äste bewegten sich im Wind und zeichneten so wechselnde Muster auf die Wand.
Eine weitere Kastanie stand einige Meter weiter links mitten in einem kleinen Wäldchen dichter Sträucher, aus dem es grünlich braun schimmerte. Hier, wie überall ringsum, hatte der Frühling schon grüne Sprenkel in das vor kurzem noch tristgraue Braun getupft.
Auch entlang der Straße, an der das Haus lag, hatte die Natur ihren Schlaf beendet und trieb knospendes Grün zwischen die letzten schneefarbenen Reste des Winters.
Die Straße war so alt wie das Haus, und auch sie hatte bessere Tage gesehen. Die lange nicht mehr ausgebesserten Schlaglöcher sprachen eine deutliche Sprache. Kein Auto war weit und breit zu sehen, so daß man die alten Weiden zu beiden Seiten der Fahrbahn im Wind wispern hörte. Sie flüsterten sich Erinnerungen zu an vergangene Zeiten, an grobschlächtige Fuhrwerke, herrschaftliche Karossen und eilige Postkutschen. Erinnerungen an andere Zeiten ohne Umgehungsstraßen und Autobahnzubringer, als der Puls des Lebens auch hier noch geschlagen hatte.
Jetzt wirkten Haus und Straße wie Überbleibsel aus diesen alten Zeiten, vergessen von der neuen Welt. Anders als die Natur um sie herum schienen sie nicht wieder zu erwachen, aus einem Schlaf, der schon viele Winter andauerte.
In den Fenstern des Hauses, die sich in zwei langen Reihen über die ganze Front erstreckten, war auch kein Leben zu sehen. Es waren eindeutig zu viele Fenster für ein Bauernhaus, eher wirkte der große hufeisenförmige Bau wie eine Herberge. Dazu paßte auch der übergroße Eingangsbereich mit dem Rundbogen in der Mitte, der jetzt zugemauert war und nur Platz ließ für eine deutlich kleinere Tür.
Diese neue Tür war nicht mehr so einladend, wie ihre Vorgängerin gewesen sein mußte, und auch der hohe Zaun um das ganze Grundstück sollte wohl eher Besucher abschrecken. Ebenso wie das Schild, das direkt neben dem Tor im Zaun hing. Darauf stand: "Vorsicht, bissiger Wachhund!"
Der so angedrohte Hund war nicht sofort zu sehen. Er lag an der Westseite des Hauses, nicht neben oder in, sondern auf einer Holzhütte, die anscheinend seine Unterkunft war. Er wirkte keineswegs Angst einflößend, sondern verschlafen und gelangweilt und dabei so unbeweglich, daß man ihn fast für eine Attrappe hätte halten können. Wenn man aber genauer hinsah, konnte man sehr wache und lebendige Augen zwischen all dem zerzausten Fell entdecken. Das war einmal weiß gewesen und hatte sich im Laufe der Jahre den Grautönen des Hauses angepaßt. Die Rasse des Hundes war schwer zu bestimmen, er schien eine Mischung aus Spitz und Highlandterrier zu sein, vielleicht hatte es aber auch noch andere Vorfahren gegeben.
Eben hatte er einmal verhalten geknurrt und kurz den Kopf gehoben. Vielleicht war ihm aus dem Gebüsch die Witterung eines anderen Tieres in die Nase gestiegen, vielleicht hatte er aber auch nur geträumt von einem der wenigen Fremden, die sich leider viel zu selten in diese entlegene Einsamkeit verirrten.



Ganz so leblos, wie es zur Straße hin schien, war das Haus jedoch nicht. Sein Leben spielte sich nur meist im rückwärtigen Teil ab, der durch die beiden Ausläufer des Hufeisens, das sich nach Norden öffnete, vor neugierigen Augen und Ohren geschützt war.
Hier liefen Dutzende von Hühnern aufgeregt durcheinander und kämpften um das Futter, das eine Frau ihnen zuwarf. Vom nahen Bach wurden einige Enten durch das Gegacker angelockt und kamen hinzu, um sich ihren Teil zu sichern.
Die Frau war vielleicht Mitte Dreißig, eher klein und zierlich und hatte kurzes braunes Haar. Sie trug ein einfaches derbes Kleid, Wollstrümpfe und feste Schuhe.
Mit geübten Bewegungen verteilte sie das Futter so, daß alle Tiere etwas abbekamen.
Auf dem Tisch an der Wand wartete ein großer Kochtopf. Hinter dem Tisch stand eine Bank, auf der ein Eimer Kartoffeln bereitgestellt war, und am Boden bemühte sich ein Radiorecorder, die Geräusche der Tiere zu übertönen.

Well, she was just seventeen
You know what I mean
And the way she looked was way beyond compare
So how could I dance with another
When I saw her standing there

Die Frau sang leise mit und verteilte die Körner im Rhythmus der Musik.

"Malchen, mach das Gedudel aus!"

Ein Fenster im Obergeschoß hatte seine Flügel geöffnet und war jetzt gefüllt mit dem Oberkörper eines alten Mannes. Er beugte sich hinaus und fuchtelte wild mit den Armen.
Die Frau blickte unwillig zu ihm hinauf und rief zurück: "Onkel Hannes, du kannst einem aber auch jedes Vergnügen verderben! Du solltest dich schämen!"
Laut grummelnd zog der Angesprochene sich wieder in das Innere des Hauses zurück.
Amalia Jacobi schickte ihm noch eine halblaute Verwünschung hinterher, drehte dann aber doch widerwillig die Musik etwas leiser. Dabei murmelte sie weiter vor sich hin:

"Dieser alte Knacker! An allem hat er etwas auszusetzen! Nichts kann man ihm recht machen!

Sie setzte sich auf die Bank und begann, die Kartoffeln zu schälen. Gleich die erste schien ihr ausgesprochen zu mißfallen. Sie köpfte sie kurzerhand und warf die beiden Teile im hohen Bogen in das Rübenfeld. Wenn Onkel Hannes das gesehen hätte, würde er jetzt auch wieder meckern:

"Wie kann man nur Lebensmittel so verschwenden! Malchen, du weißt, wir müssen sparen!"

Dabei wußte jeder, daß der Alte reichlich Geld hatte. Aber er saß darauf, als ob schlechte Zeiten bevorstanden. Er wurde wirklich immer wunderlicher, und in letzter Zeit war es sogar noch schlimmer geworden mit seinen Macken. Jetzt fing er auch noch an, sie herumzukommandieren. Das hatte er früher nicht getan.
Diana war ja schon immer so gewesen: "Malchen tu dies, Malchen tu das!" Etwas anderes bekam man von der nicht zu hören. Immer mußte sie herauskehren, daß sie zu befehlen hatte und Amalia eigentlich nur geduldet war. Erst neulich beim Silberputzen hatte sie gesagt:

"Du brauchst dir das Familiensilber gar nicht so gierig anzusehen. Glaub bloß nicht, daß du das mal bekommst. Schließlich bin ich hier die Tochter und Erbin."

So etwas! Als ob sie das Silber interessierte! Lachhaft!

Wieder mußte eine Kartoffel daran glauben.

Ob es wohl einen Grund dafür gab, daß Diana immer so betonte, daß sie die Tochter des Hauses war? Vielleicht war ja ...

Eine Kartoffel rutschte ihr aus den Fingern, fiel auf die Erde und unterbrach den Gedankengang. Amalia hob sie wieder auf und dachte:

"Lange laß ich mir das jedenfalls nicht mehr gefallen!"

Besonders schlimm führte Diana sich auf, wenn Lisa zu Besuch war, so wie jetzt. Dann saßen die beiden oft im Garten und taten gar nichts. Und wer mußte die ganze Arbeit machen? - Malchen natürlich!
Überhaupt benahm sich Lisa neuerdings auch wie die feine Dame aus der Stadt, zum Arbeiten war sie sich zu schade. Und für vertrauliche Gespräche wohl auch. Früher war Lisa immer mit ihren Teenieschwärmereien zu der älteren Amalia gekommen. Die beiden hatten sich gut verstanden, waren fast wie Schwestern gewesen und hatten ständig zusammengehockt. Das gab es jetzt nicht mehr. Es sah fast so aus, als ob Lisa inzwischen auf mehr Abstand zwischen ihnen achtete. Dabei wußte Malchen ja selber, daß sie nicht wirklich zur Familie gehörte, auch wenn Onkel Hannes sie sonst stets so behandelt hatte.
Na ja, eigentlich machte er das ja immer noch, Diana mußte schließlich auch unter seinen Launen leiden. - Nur Lisa nicht. Bei der nahm er sich immer zusammen. Was er dabei runtergeschluckt hatte, bekam dann natürlich Malchen ab.
Aber nicht mehr lange!
Sie würde auch in die Welt hinausziehen, weg aus dieser abgelegenen Einöde.
Natürlich nicht nach Wolfenbüttel, sondern in eine richtige Stadt, vielleicht nach Berlin, wo der elegante Herr Nicolai herkam, wenigstens aber nach Braunschweig wie Lisa. Dann würde sie Geld verdienen und auch solche Kleider tragen wie Lisa und solche Männer kennenlernen wie Horst. - Der hatte sie nicht wie eine Putzmagd behandelt!
Sie mußte lächeln.
Damals, als Lisa ihn zum ersten Mal mitbrachte, hatte er sogar mit ihr geflirtet.
Abends im Garten, als Lisa schon ins Haus gegangen war, weil sie es draußen zu ungemütlich fand. Horst hatte gesagt: "Ein Mädchen wie du kann doch jederzeit einen Job in der Stadt bekommen." Und er hatte gleich ein paar Vorschläge gemacht. Damals hatte sie alles abgelehnt und weit von sich geschoben.
Aber vielleicht könnte sie ja wirklich ...
Nein, für eine Karriere als Fotomodell war sie längst zu alt, und gelernt hatte sie auch nichts weiter.
Aber sie würde ihren Weg schon machen! Irgendwie!
Und dann sollten sie mal sehen!

Zwischen ihren Beinen wuselte plötzlich etwas. Der Hund war, angelockt durch die Rufe, nach hinten gekommen und beschnüffelte jetzt die Kartoffeln und den Recorder.
Als er mit Paul im Duett bellen wollte, warf Malchen mit einer Kartoffelschale nach ihm, und er ließ den Recorder in Ruhe und trottete gemächlich in Richtung Obstgarten davon. Irgendwo da hinten roch es nach seinem Lieblingsmenschen.



Diana Burckhardt bückte sich, um den Hund zu streicheln, der sich zu ihren Füßen niedergelassen hatte. Sie mochte diesen zerzausten Burschen, wenn er auch von allen anderen nur gelitten war. Seine Qualitäten als Wachhund waren unumstritten, aber sonst hatte er keine Freunde. Hannes wollte ihm nicht einmal einen Namen geben, als Fremde ihn eines Tages vor der Haustür ausgesetzt hatten. Er war dem Auto noch hinterhergelaufen und schließlich müde zu dem einzigen Haus weit und breit zurückgekehrt. Aber auch dort war er nicht willkommen gewesen.
Erst hatte er ins Tierheim gesollt, aber Diana war sofort aufgefallen, daß er sich um die Enten und Hühner kümmerte und sie gegen streunende Katzen und andere Bedrohungen verteidigte. Deshalb durfte er bleiben, und Diana hatte ihn Rollo genannt. Der Hund von Effi hieß so, in dem Roman, den sie schon dreimal unter vielen Tränen gelesen hatte.
Mit einem Seitenblick auf die neben ihr sitzende Frau dachte sie:

"Typisch Stadtfräulein, nimmt den Hund nicht mal wahr! Nur ihr Vergnügen im Sinn, dieses Püppchen!"

Laut sagte sie: "Na, Rollo, alles in Ordnung auf dem Hof? Hast du aufgepaßt, daß Malchen die Hühner richtig füttert?"

"Was hast du gesagt?" Elisabeth sah von ihrem Buch auf und schaute Diana an.

"Ich hab nur mit Rollo gesprochen."

"Mit wem? - Ach so."

Erst jetzt schien sie den Hund zu bemerken. Nach einem kurzen Blick auf ihn ließ sie ihre Augen wandern, über die Apfel- und Birnbäume, weiter zu den Stachel- und Johannisbeersträuchern und dann über die ausgedehnten Wiesen, die schon an das Nachbargrundstück grenzten und auf der anderen Seite bis an ein kleines Wäldchen reichten. Auf der Wiese war gerade ein Schwarm Saatkrähen aufgeschreckt worden.
Sie sah genauer hin, um zu erkennen, was diesen Aufruhr erzeugt hatte, und konnte undeutlich eine Bewegung am Waldrand wahrnehmen. Es mußte ein größeres Tier sein - oder vielleicht sogar ein Mensch? - Jetzt war es jedenfalls schon wieder verschwunden.
Sie wandte sich wieder ihrer Cousine zu. Diana hatte von alledem nichts bemerkt. Sie war noch immer mit Rollo beschäftigt.
Vom Hof wehte die Musik jetzt lauter herüber:

The world is treating me bad -
Misery

Diana hörte auf, Rollo den Bauch zu kraulen, und drehte sich zu Elisabeth.

"Das ist mal wieder typisch! Kaum hat Vater ihr den Rücken gekehrt, muß sie diese furchtbare Musik lauter stellen! Das macht sie nur, um ihn zu ärgern!"

"Der kann doch das Fenster zumachen, dann hört er nichts. Außerdem ist das keine furchtbare Musik! Die Kassette hab ich ihr überspielt, das sind die Beatles! Ist doch Musik aus deiner Zeit. Hast du denn das damals nicht miterlebt?"

"Hatte ich Zeit für so was? Ich mußte immer im Haus und auf dem Feld mitarbeiten. Ich durfte nicht nach Braunschweig in die Diskothek!"

"Gab's denn in Wolfenbüttel gar nichts für junge Leute?"

"Nee, nicht mal ein Jugendheim, Musik gab's nur manchmal beim Pfarrer, aber dann auch nur deutsche Schlager."

Sie dachte an diese Abende im Gemeindehaus. An ihre ersten Kontakte mit Jungen, die aber immer zuerst die anderen Mädchen angesehen hatten. Nur einmal in der Woche hatte sie abends nach Wolfenbüttel gedurft, und zu ihr auf den Hof waren ihre Schulfreundinnen nicht gekommen. Manchmal hatte sie den Nachhauseweg heimlich verlängert und war eine Stunde mit ihnen in der Eisdiele geblieben. Da war doch auch eine Musicbox gewesen! Ein Lied fiel ihr wieder ein, das ihre Freundinnen mit dem dicken Taschengeld öfter gedrückt hatten.

"Sag mal, ist das nicht auch von den Beatles?"

Sie summte etwas unbeholfen eine Melodie.

"Na klar, das ist doch 'Love me do'! Ist auch auf der Kassette drauf."

Elisabeth drehte sich um und rief in Richtung Hof:

"Malchen, spul doch mal vor auf 'Love me do'!"

Amalia zeigte sich an der Hausecke, kam aber nicht den ganzen Weg zu den beiden, und rief stattdessen zurück:

"Ich bin doch nicht euer DJ! Ich hab hier zu tun! Nicht so wie andere Herrschaften, die sich einen schönen Tag machen!"

"Siehst du, so ist sie immer! Ich hab den ganzen Haushalt am Hals, muß alles planen und entscheiden, und wenn sie ab und zu ein paar kleine Arbeiten erledigen soll, führt sie sich auf wie eine ausgebeutete Galeerensklavin. Und bei Vater tut sie sich dann hervor, wie fleißig sie ist, und der schluckt das auch prompt und läßt ihr jeden Blödsinn durchgehen."

Fast erschrocken über ihren eigenen Ausbruch, sackte Diana in sich zusammen.
Aber so war es schon immer gewesen! Malchen war das kleine Prinzeßchen, dem alles nachgesehen wurde. Der Gedanke gab ihr einen Stich in den Magen. Sie hatte von klein auf um jedes bißchen Aufmerksamkeit kämpfen müssen. Bei ihrer Mutter war es fast aussichtslos gewesen. Die hatte immer schlechte Laune gehabt und hatte nur im Haus umhergekeift. Und wenn Vater überhaupt mal im Haus gewesen war, hatte er seine Ruhe haben wollen. Nur bei der Arbeit mit ihm zusammen auf dem Feld hatte es ein paar Momente vertrauter Zweisamkeit gegeben.
Malchen war von Anfang an alles in den Schoß gefallen.
Schon als Baby.
Was hatte Vater für ein Tamtam veranstaltet, als das Baby der Jacobis gekommen war!
Mehr als bei einem Fohlen! Dabei waren die Fohlen viel schöner gewesen als das Baby, auch die kleinen Kälber, überhaupt alle Tierkinder.
Das Jacobibaby hatte nur herumgekreischt und mußte ständig gefüttert und gewickelt werden. Die Mutter hatte es nicht leiden können, und Frau Jacobi hatte schon bald wieder aufs Feld gemußt. Also hatte Diana auf Malchen aufpassen müssen.
Auch später, als sie auf dem Hof herumgelaufen war und nur Unsinn angestellt hatte.
Immer war Diana dafür bestraft worden, wenn eigentlich Malchen den Schaden angerichtet hatte. "Du bist schon groß, du mußt das wissen," hieß es immer.
Malchen war nur das niedliche Kleine gewesen, das Vater zum Lachen gebracht hatte, sein Prinzeßchen eben.
Die letzten Worte mußte sie laut gesprochen haben, denn Lisa sah sie fragend an.

"Aber du mußt dir das doch nicht länger antun! Wenn's dir hier nicht paßt, geh doch weg! Dann muß er zusehen, wie er mit Malchen alleine auskommt."

"Darauf wartet die doch nur! Damit sie sich dann alles unter den Nagel reißen kann. Außerdem kann ich Vater nicht im Stich lassen. Er braucht mich. Und vielleicht verkauft er jetzt ja doch endlich den Hof."

Versprochen hatte er es immer wieder. Schon gleich nachdem damals ihre Mutter so plötzlich verschwunden war. Und dann hatte es immer neue Ausflüchte gegeben. Erst mußten die letzten Ernten eingebracht werden, dann waren die Grundstückspreise im Keller, schließlich waren seine Wehwehchen gekommen: das Herz, die Galle, die Leber. Und immer hatte es geheißen: "Ich brauche dich, ich kann nicht alleine ... nur noch ein Jahr...". Aus dem einen Jahr waren jetzt insgesamt zwanzig geworden. Das Leben war für sie nicht leicht gewesen in all diesen Jahren, und die Erinnerung daran grub den Kummer noch einmal tiefer in ihr Gesicht.

Lisa spürte diesen Kummer und sah ihre Cousine zum ersten Mal mit anderen Augen. Für sie war sie auch immer die Große gewesen, die Bäuerin, eigentlich mehr eine Tante als eine Cousine, immer nur polternd und meckernd. Sie war ihr nie als Opfer vorgekommen. Nicht mehr ganz so forsch wie eben fragte sie nach:

"Wie kommst du darauf, daß Onkel Hannes auf einmal doch verkaufen könnte?"

"Du hast doch auch gestern Herrn Nicolai gesehen. Der war letzte Woche schon zweimal da, und immer hat er mit Vater in der Bibliothek gesessen, und die beiden haben irgendwelche Bücher und Papiere studiert. Heute soll er schon wieder kommen. Meinst du nicht, er könnte ein Rechtsanwalt sein oder ein Makler? Sie sind auch beide ums Grundstück gelaufen."

"Was sagt denn Onkel Hannes dazu? Hast du mal gefragt?"

"Er macht ein Geheimnis draus. Sagt, das geht keinen was an, was er mit Herrn Nicolai zu bereden hat."

In dem Moment sprang Rollo auf und lief laut bellend in Richtung Vordertür.
Kurz darauf hörten auch die beiden Frauen, was er als erster bemerkt hatte: Ein Auto kam und hielt tatsächlich vor dem Haus. Lisa vermutete:

"Wie aufs Stichwort: dein geheimnisvoller Herr Nicolai!"

"Glaubst du? Dann muß ich aber schleunigst Rollo einfangen, der mag Nicolai nämlich gar nicht."

Wie zur Bestätigung hörten sie Rollo wütend bellen. Diana ging schnell ums Haus, und Lisa sah ihr nach, überlegte kurz und folgte ihr dann langsam. Als sie um die Ecke kam, stand Diana schon mit dem knurrenden und sich heftig wehrenden Rollo auf dem Arm bei einem Mann, der etwas gezwungen lächelte, so als ob er sich nicht sicher war, wie ernst er die Feindseligkeiten des Hundes nehmen sollte.
Er war sehr sorgfältig und elegant gekleidet. Der gut sitzende Anzug machte seine Erscheinung ziemlich eindrucksvoll. Allerdings war sein Körperbau etwas zu füllig, um wirklich imposant zu wirken. Die Gesichtszüge waren weich bis auf das Kinn, das hart und eckig hervorstand. Das unsichere Lächeln wirkte verlegen und gleichzeitig irgendwie zynisch, so als ob er sich über diese Szene insgeheim lustig machte. Seine Augen waren sehr lebendig und wanderten ständig zwischen dem Hund und den beiden Frauen hin und her.
Lisa trat näher zu ihm hin und begrüßte ihn freundlich. Er erwiderte den Gruß mit einer formvollendeten Verbeugung und öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als die Haustür aufging und Johann Burckhardt herauskam. Er nötigte den Fremden sofort ins Haus und schloß hinter ihm schnell die Tür.
Etwas perplex blieben die Frauen draußen stehen. Diana sagte:

"Ich hab jetzt gar nichts mehr zu tun, solange Herr Nicolai da ist. Außerdem muß ich auch noch einkaufen. Morgen ist schon wieder Samstag. Kannst du mich nicht in die Stadt fahren? Dann geht's schneller, und wir können vielleicht noch ein Eis essen gehen."

Das Haus lag zwar ziemlich genau zwischen den beiden Städten, aber Lisa wußte, daß Diana Wolfenbüttel meinte, wenn sie "Stadt" sagte. Deshalb nickte sie nur und griff in die Hosentasche nach ihrem Autoschlüssel.
Direkt neben Nicolais Renommierschlitten stand ein roter Micra. Dort stiegen sie ein, und Lisa sagte:

"Ein seltsamer Vogel, dieser Nicolai, wie die Karikatur eines englischen Gentlemans."

"Ja? - Ich find ihn eigentlich ganz nett. Er weiß, was sich gehört, das ist doch kein Fehler. Außerdem ist der wirklich in der großen Welt zuhause. Ich hab gehört, wie Vater gesagt hat, daß er aus Berlin ist."

"Warum hat sein Auto dann ein Kennzeichen aus Braunschweig?"

Lisa ließ den Wagen an und fuhr los, dann schwiegen beide. Diana, weil sie sich auf die Fahrt konzentrieren mußte, sonst wäre ihr schlecht geworden. Lisa, weil sie über den geheimnisvollen Herrn Nicolai nachdachte. Was könnte er hier wollen? Oder was wollte Onkel Hannes von ihm?
Sie fuhr über den kleinen Feldweg, um von der alten Landstraße zu der Bundesstraße zu kommen, die jetzt den Verkehr nach Wolfenbüttel brachte.
Nach einiger Zeit auf der Bundesstraße war da wieder dieses JägermeisterPlakat. Sie ärgerte sich immer darüber, weil sie sich jedesmal vornahm, es nicht zu lesen, dann aber doch nicht anders konnte. Vielleicht ärgerte sie es auch deshalb besonders, weil sie dann stets an ihren ersten Kater denken mußte, der von diesem Getränk verursacht worden war. Horst war schuld gewesen, er hatte sie immer wieder bedrängt, noch einen zu trinken.
Vor ihnen fuhr ein Fahrschulwagen streng nach Vorschrift. Das machte Lisa nervös, oder war es der Gedanke an Horst?
In ihrem Radiorecorder lag die Kassette, die sie Malchen überspielt hatte. Sie versuchte während der Fahrt, für Diana "Love me do" zu spielen, konnte das Lied aber nicht finden. Enttäuscht gab sie es auf. Statt "Love me do" sang George jetzt:

Chains, my baby's got me locked up in chains
And they ain't that kind that you can see
Oh, these chains of love got a hold on me

Sie kamen von Norden her über Herzogtor und Rosenwall in die Stadt. Die Straßen waren gefüllt mit Wochenendeinkäufern aus den umliegenden Dörfern, und im Parkhaus hätten sie beinahe keinen Platz mehr gefunden.
Hatte sich Diana Burckhardt während der Autofahrt ganz auf ihre jüngere Cousine verlassen, so übernahm sie jetzt das Kommando:

"Ich geh zum Bäcker und Fleischer und in den Supermarkt. Gib mir am besten den Autoschlüssel, damit ich die Sachen schon mal einpacken kann. Du kannst inzwischen versuchen, neue Staubsaugerbeutel zu kaufen, und geh auch noch bei Habinghorst vorbei und besorg Vaters Zigarren. Du weißt ja, welche. Wir treffen uns dann in der Eisdiele an den Krambuden."

Lisa fügte sich ohne Diskussionen.
In der Langen Herzogstraße wogte das Leben. Lisa bog rechts ab und ging dann über die Kanzleistraße zum Stadtmarkt. Irgendwo hier war doch dieses kleine Geschäft gewesen!

"Morgen, Frau Eschenburg!"

Sie drehte sich zu der Stimme und sah einen Mann, den sie aus Braunschweig kannte. Er hatte irgend etwas mit dem Verlag zu tun, für den Horst arbeitete.

"Oh, hallo, na, auch mal zu Besuch in der Provinz?"

"Besuch, ja - Provinz, nein. Jedenfalls dürfte das nicht mein Schwager hören, der ist hier im Stadtrat und sehr um ein anderes Image bemüht. Ist Horst auch hier?"

"Nein, der ist in der Redaktion, glaub ich zumindest."

"Wollen wir einen Kaffee zusammen trinken?"

"Warum nicht?"

Sie gingen ein paar Schritte zurück zum Café am Stadtmarkt.
Von dort aus hatte man einen freien Blick über den ganzen Platz, der gut gefüllt war mit Händlern, Einkäufern und Spaziergängern. Herzog August und sein Pferd gingen beinahe unter in dem bunten Treiben. Das war Lisas Lieblingscafé. Sie saß immer gerne hier und blickte auf die alten Häuser. Hier konnte man noch eine Vorstellung davon bekommen, wie es früher einmal gewesen sein mußte.
Der Mann plauderte auf sie ein, sichtlich bemüht, sie zu beeindrucken.
Lisa achtete nicht weiter darauf und hing ihren Gedanken nach.
Warum saß sie eigentlich hier? Der Mann interessierte sie nicht, und außerdem könnte es gut sein, daß er Horst davon erzählen würde, und der war doch so eifersüchtig!
War das vielleicht der Grund? Wollte sie Horst damit zeigen, daß sie auch ohne ihn konnte? Genau wie er das immer tat?
Es fiel ihr schwer, diese ganzen Spielchen zu spielen, dieses betonte Selbständigsein zum Beispiel. Eigentlich wollte sie ja nur eine ganz normale Beziehung. Aber das war mit Horst nicht möglich, er war überhaupt nicht der Typ dafür.
Warum fiel sie nur immer wieder auf solche Männer herein? Vielleicht weil ihr andere gefährlich werden konnten? Vielleicht so einer wie der hier? Sie blickte verstohlen auf seine Hände: Bingo! Ein Ehering! Also auch einer, der nicht für sie in Frage kam.
Der Mann hatte endlich doch gemerkt, daß sie seinem Geplauder gar nicht folgte, und schwieg jetzt beleidigt. Lisa sagte:

"Tut mir leid. Ich muß jetzt weiter. Meine Cousine bringt mich um, wenn ich nicht noch schnell ein paar Sachen besorge. Wir sehen uns!"

Der Mann blieb sitzen, und anstatt Lisas Gruß zu erwidern, griff er zu einer Zeitung und bestellte noch einen Kaffee.
Den hatte sie wohl nachdrücklich verärgert. Na wenn schon! Das würde ihr keine schlaflose Nacht bereiten.
Sie ging über den Marktplatz zum Kornmarkt und kaufte in einem Haushaltswarengeschäft die Staubsaugerbeutel. In der Reichsstraße fand sie einen kleinen Tabakladen und besorgte die Zigarren. Dann kehrte sie in einem großen Bogen zurück in die Fußgängerzone und wurde wieder von dem Durcheinander dort geschluckt. Die Gesichter der Menschen waren angespannt und ihre Bewegungen hektisch und trotzdem zielgerichtet, geordnet wie zu zwei großen Prozessionen mit entgegengesetztem Ziel, die um die Vorherrschaft kämpften. Lisa schloß sich dem Strom nach Westen an und ließ sich mittreiben bis zu der Eisdiele. Sie hatte Glück. Diana war noch nicht da. Die Sonne wärmte jetzt schon ein wenig, deshalb setzte sie sich nach draußen und bestellte einen Eiskaffee.
Kurze Zeit später kam Diana. Sie hielt ihre letzte Errungenschaft noch in der Hand: eine vollautomatische Zitronenpresse mit Dosiervorrichtung.
Schwer atmend setzte sie sich zu Lisa und ließ ihrer Empörung über sämtliche Wolfenbütteler Buchhändler freien Lauf.

"Kannst du dir das vorstellen? Es gibt in ganz Wolfenbüttel keinen historischen Stadtführer! Der eine Buchhändler wußte nicht mal, was ich meine! Dabei brauche ich dringend so etwas für Francine, du weißt schon, meine Brieffreundin aus Lauderdale. Sie ist ganz verrückt nach allem, was älter ist als 100 Jahre.
Sag mal, dein Verlobter ist doch Journalist! Kann der nicht mal so was schreiben?"

"Ich glaub kaum, daß Horst sich für alte Gebäude oder tote Dichter und Denker interessiert. Nicht skandalträchtig genug!"

"Warum redest du bloß immer so schlecht über deinen Verlobten?"

"Tu ich das? - Außerdem, sag nicht immer "mein Verlobter", das klingt so, als ob wir morgen heiraten wollten."

"Willst du ihn denn nicht heiraten?"

"Ich glaub nicht, ich glaub, ich will überhaupt nicht heiraten."

"Warum bist du dann verlobt?"

"Ach, das war mal so ein Spaß, das heißt, damals dachte ich, Horst meint es ernst."

"Tut er das denn nicht?"

"Was meinst du, wie viele Studentinnen, Kolleginnen und andere weibliche Wesen seinen Weg pflastern?"

"Warum seid ihr dann überhaupt noch zusammen?"

"Das weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich hast du recht. Ich denke einfach nie darüber nach. Vielleicht hab ich auch Angst, wenn ich nicht mehr mit Horst zusammen bin, könnte ein anderer Mann kommen, der wirklich zu mir paßt."

Dianas Gesichtsausdruck, der während der letzten Minuten zunehmend verwirrter geworden war, spiegelte jetzt vollkommene Verständnislosigkeit wider.

"Ich glaub, das Großstadtleben bringt dich ganz durcheinander. Ganz gut, daß du jetzt eine Weile hierbleibst. Und Wolfenbüttel ist doch auch ganz nett, oder? Alles geht ein bißchen langsamer voran, nicht so hektisch. Und die Menschen sind normaler. Guck dich doch bloß mal um, alles ganz normale Leute, nicht so ausgeflippt wie die im Fernsehen."

Wie um Dianas Monolog zu widerlegen, setzte sich jetzt an den Nachbartisch ein Mann, der nicht ganz so normal aussah: Er trug eine schreiend bunte Jacke und einen großen schwarzen Schlapphut. Was der Hut von dem Gesicht übrigließ, wurde von einer lila Sonnenbrille verdeckt, und an seinem linken Ohr baumelte ein übergroßer Ohrring. Er nickte den beiden freundlich zu und zog ein Gedichtbändchen aus der Tasche.
Lisa wollte gerade eine Bemerkung über die Normalität der Wolfenbütteler Bevölkerung machen, als sie hörte, wie der Fremde eine Melodie summte, die ihr selbst in der letzten Stunde ständig im Kopf herum gegangen war: 'Love me do'.
Erstaunt sah sie wieder zu ihm hinüber, aber er war in sein Buch vertieft.


* * *



Die Angst entsprang irgendwo in seinem Bauch. Sie breitete sich im ganzen Unterlaib aus und kroch dann langsam hinauf zum Herzen. Sie drohte, ihn zu lähmen. Er mußte jetzt jede seiner Bewegungen erzwingen.
Er blätterte das Buch um und konzentrierte sich auf die nächste Seite, versuchte, die Blicke zu ignorieren, die ihn aus unzähligen fremden, kalten Augen trafen.
Er spürte, wie seine Hände anfangen wollten zu zittern. Er zwang sie auf dem Tisch zur Ruhe. Augenblicklich war dieselbe Anspannung in seinem Hals. Er hatte Mühe, den Kopf stillzuhalten. Schließlich stützte er ihn in eine Hand und gab so beiden Halt.
Er summte die Melodie jetzt halblaut vor sich hin, der einzige Weg, sie aus seinem Kopf zu bekommen. Schließlich hatte er sich soweit beruhigt, daß er bezahlen und gehen konnte.
Wieder auf der Straße wurden seine Bewegungen ruhiger und kontrollierter. Die namenlose Gleichförmigkeit der vielen Menschen nahm ihn auf und ebnete ihn ein. Eine neue Melodie war in seinen Kopf gekrochen. Diesmal wehrte er sich nicht und sang gehorsam mit:

It's not the way you smile that touched my heart
It's not the way you kiss that tears me apart
Many nights go by
I sit alone and how I cry
over you
What can I do?
Can't help myself
'Cause baby, it's you




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