Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König
Kapitel 6
Kapitel 6: Was Echtes
Das literarische Kabarett war im vollen Gange.
Ich saß in der ersten Reihe, aber nicht unten im Saal, sondern auf gleicher Höhe wie die Protagonisten. Das gab mir das Gefühl, nicht nur Zuschauer, sondern ein Teil der Veranstaltung zu sein. Allerdings war es kein angenehmes Gefühl. Ein bißchen kam ich mir so vor wie bei einer Abiturprüfung. Jemand mit Bart und Stirnglatze, der aussah wie Sean Connery, von dem ich aber wußte, daß es Umberto Eco war, sagte eben:
"Gerade die Architektur des 18. Jahrhunderts zeigt besonders sinnfällig, wie die reine Funktionalität der Gebäude hinter ihre symbolische Überhöhung zurücktreten kann, und dann zum bloßen Beiwerk wird. Ich bin versucht, dieses Phänomen 'Sekundarisierung' zu nennen, und ..."
Herr Nicolai fiel ihm ins Wort:
"Papperlapapp! Funktion hin und Symbol her! Die Besitzer der Häuser interessiert doch in erster Linie, ob die Erhaltung ihrer 'Denkmäler' Geld kostet oder was einbringt. Die Frage ist also: Wie läßt sich historische Architektur am besten vermarkten?"
Er sah herausfordernd zu Eco hinüber, doch der war damit beschäftigt, in seinen Unterlagen zu blättern. Daraufhin öffnete auch er eine Mappe auf seinen Knien und blätterte ebenfalls. Umberto Eco sah kurz von seiner Beschäftigung auf und machte dann nur um so aufgeregter weiter. Auch Nicolais Bewegungen wurden jetzt immer hektischer. Es schien, als suchten beide um die Wette nach dem entscheidenden Hinweis, der ihre Meinungsverschiedenheit beenden würde.
Marcel Reich-Ranicki nahm einen Leibniz-Keks aus seiner Packung, sank noch tiefer in seinen Sessel zurück, erhob dann drohend den Zeigefinger und sagte:
"Aber, aber, meine jungen Freunde! Vergessen Sie doch nicht, daß allein die Sprache Funktionalität und Symbolkraft in sich vereint. Nur die Sprache ist darum der authentische Spiegel ihrer Zeit!"
Beim Stichwort "Zeit" erwachte Günter Eich in seiner Ecke zum Leben. Bisher hatte er verträumt in der Gegend umhergesehen. Aber nun blinzelten seine Augen hinter den dicken Brillengläsern spitzbübisch, und er sagte, nicht an seine Kollegen, sondern an den ganzen Zuschauerraum gerichtet:
"Endlich weiß ich, was Zeit ist: Solang man auch trödelt, es wird nicht früher."
Jetzt sahen alle vier mich an, so als ob das nun mein Stichwort wäre und ich dazu etwas sagen müßte. Ich öffnete den Mund, bekam aber kein Wort heraus. Reich-Ranicki kam mir zur Hilfe:
"Nur die Sprache verbindet die Menschen und stellt Zusammenhänge her. Denken Sie doch an die Zusammenhänge!"
Ich mühte mich weiter. Aufdringliches Flötenspiel setzte ein wie zur Untermalung meiner ablaufenden Bedenkzeit. Schweißperlen traten mir auf die Stirn, und mein Atem ging immer schwerer. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Ich machte einen letzten, verzweifelten Versuch, doch noch etwas zu sagen, würgte an den Worten, die meinen Mund nicht verlassen wollten, ...
... und erwachte.
Die Amsel vom Dienst hatte mich mit ihrem Lärm geweckt.
Ich war solche Eingriffe der Natur in mein Leben nicht gewohnt und öffnete verblüfft die Augen. Die Morgendämmerung hatte gerade erst eingesetzt, und das Zimmer lag noch im Halbdunkel. Viel zu früh für mich! Ich machte die Augen wieder zu und wollte weiterschlafen, da setzte die Amsel neu ein. Sie sang dieselbe Melodie wie die Flöte in meinem Traum. Die Bilder kamen schemenhaft zurück. Mit geschlossenen Augen konnte ich sie noch eine Weile festhalten. Dann verschwammen sie immer mehr, und das Flötenspiel wurde endgültig zu Amselgesang. Ich setzte mich hin und drehte meine erste Zigarette. Ganz offensichtlich hatte ich im Schlaf versucht, die stärksten Eindrücke des gestrigen Tages zu verarbeiten.
Günter Eich hatte uns abends noch beschäftigt. In Aarons "Handbibliothek" hatten wir tatsächlich das Gedicht gefunden. Es heißt "Abgelegene Gehöfte" und war auf unseren Zetteln vollständig wiedergegeben. Allerdings enthielt der erste Zettel die Strophen 1 und 3, und der zweite die Strophen 2 und 4. Wir hatten versucht, das Gedicht zu interpretieren. Uns war aufgefallen, daß hier einige Gegensätze angesprochen wurden: Natur und Kultur, Vergangenheit und Gegenwart und schließlich oberflächliche Wirklichkeit und verborgene Zusammenhänge. Der Text fügte sich so ziemlich gut in die Thematik vieler Gedichte des "frühen Eich" ein. Ich wußte, daß es dort oft um ein "Weltgeheimnis" ging, das früher einmal bekannt gewesen, in unserer Zeit aber verloren war, und das es wiederzufinden galt. Aaron war dann auf die Idee gekommen, anstatt über "das Wesen der Dinge" und andere letzte Wahrheiten nachzudenken, den Text oberflächlicher zu verstehen, als Nachricht eben, wie es auch die Form der Zettel nahelegte. Er glaubte, uns sollte mitgeteilt werden (nicht von Eich natürlich, sondern von unserem Zettelschreiber), daß irgendwo auf einem entlegenen Bauernhof vielleicht etwas aus der Vergangenheit verborgen war, das wir suchen sollten.
Auch mit diesem "Ergebnis" unserer Bemühungen konnten wir jedoch nicht viel anfangen, und so hatten wir uns ziemlich schnell wieder Herrn Nicolai zugewandt. Hier schienen alle Fragen zusammenzulaufen. Wir waren inzwischen überzeugt, daß er unsere Zettel geschrieben hatte, nur wußten wir immer noch nicht, warum. Außerdem war er wohl für die Einbrüche verantwortlich und eventuell auch für meinen Beinahe-Unfall. Die zentrale Frage schien also zu sein: "Was will Herr Nicolai?"
Klar war, daß es sich finanziell lohnen mußte, was er vorhatte, und daß eine Verbindung zu Aarons Arbeit bestand, genauer zu Teilen von Aarons Arbeit. Nicolais Interesse war ziemlich eindeutig auf Häuser des 18. Jahrhunderts gerichtet, unter anderem auf das Weghaus. Weil ich mich in dieser Zeit besser auskannte als Aaron, sollte ich wahrscheinlich ferngehalten werden, damit ich ihm nicht in die Quere kommen konnte. Ich überlegte, was ich vom Weghaus wußte. Es war ein Gasthof gewesen, in dem Lessing oft mit Freunden aus Braunschweig zusammengesessen hatte. Er war dann von Wolfenbüttel aus gekommen, und die Braunschweiger vom Norden. Auf halber Strecke hatten sie sich im Weghaus getroffen. Der Weg dahin hatte wohl über Land geführt und zum Teil durch Wald, das Haus mußte also ziemlich entlegen gewesen sein.
"Zusammenhänge" klang mir die Stimme Reich-Ranickis aus meinem Traum im Ohr.
Aber natürlich! Das war doch der Zusammenhang: Alle Personen in meinem Traum hatten über historische Gebäude geredet, auch Eco, der hier wohl Aaron und seine Stadtsemiotik vertrat. Er und Eich kamen in unserem wirklichen Leben nicht vor, wohl aber Herr Nicolai! Die Beziehung lag ja auf der Hand: Nicolai war interessiert an alten Häusern, daher seine Neugierde für Aarons Arbeit. Besonders schien ihm am Weghaus gelegen zu sein. Wenn das überhaupt noch existierte, mußte es sehr alt sein - und abgelegen. In dem Gedicht war von einem Haus die Rede, das alt und abgelegen war. Wenn Nicolai der Zettelschreiber war, wollte er vielleicht so auf das Weghaus hinweisen?
Während der letzten Gedanken hatte ich mich hastig angezogen. Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir, daß auch Aaron schon wach war. Wir waren sowieso zum Frühstück verabredet. Also los! Auf meinem Tisch lag noch die Zeitung von gestern. Ich blätterte sie schnell durch, um das Bild von Nicolai/Eschenburg zu finden, und steckte die Seite ein.
Vor der Tür lief ich beinahe in Frau Topp, die gerade ihr Treppenhaus putzte. Sie war anscheinend erfreut zu sehen, daß ich auch schon wach war, und wünschte mir einen schönen Tag. Ich war schon fast an ihr vorbei, als mir etwas einfiel.
"Frau Topp, haben Sie eigentlich die Männer gesehen, die sich hier nach meinem Freund erkundigt haben?"
"Nur den einen, den älteren, eleganten."
Ich zeigte ihr das Bild aus der Zeitung.
"Das ist er ja! Sehen Sie doch nur, wie vornehm er aussieht! Und er steht sogar in der Zeitung! Der hat garantiert nicht versucht, bei Ihrem Freund einzubrechen. Das war bestimmt der andere!"
"Den haben Sie aber nicht gesehen?"
"Nein, aber mit meiner Tochter hat er gesprochen.
Ursula! Komm doch mal her!"
Eine vielleicht zwanzigjährige Frau öffnete unten die Wohnungstür und kam zu uns herauf. Ihre Mutter forderte sie auf, den "Hallodri" zu beschreiben, der vor ein paar Tagen hier in der Straße "herumgelungert" hatte. Sie reagierte empört:
"Also, wirklich, Mama! Nur weil der ein bißchen mit mir geflirtet hat, ist er doch nicht gleich ein Windhund. Es war ein sehr netter und freundlicher Mann. Und er hat auch nicht herumgelungert, sondern für eine Zeitung recherchiert. Er will nämlich eine Reportage über Hornburg schreiben."
Ihrem Gesichtsausdruck konnte man entnehmen, daß dieser Journalist sie wohl sehr beeindruckt hatte, und sie zeichnete ein Bild von ihm, das eher an einen Popstar erinnerte. Der Beschreibung nach hätte es durchaus der Mann sein können, der gestern in dem Café so neugierig gewesen war. Allerdings war er mir nicht so attraktiv vorgekommen, wie Fräulein Topp ihn jetzt beschrieb.
Aus Aarons Wohnung kam laute Musik. Beinahe hätte er mein Klingeln gar nicht gehört. Aber schließlich ließ er mich doch herein, nur meine ersten Worte hatten gegen Achim keine Chance:
fliegende Pferde
landen am strand
sie kamen über's weite meer
keiner weiß woher
fliegende pferde
laden mich ein
auf ihren rücken
mit der welt eins zu sein
Ich drehte die Musik ein bißchen leiser und fing noch mal an:
"Seit wann bist du denn ein Frühaufsteher?"
"Bin ich gar nicht, aber hier in der Provinz wird man ja dazu gemacht: Abends ist nichts mehr los, und morgens rumort es schon nach dem ersten Hahnenschrei all überall."
"Ja, stimmt, meine Vermieterin ist auch schon fleißig. A propos: Frau Topp hat Nicolai auf dem Zeitungsfoto wiedererkannt. Wir hatten also recht.
Aber, was noch wichtiger ist, mir ist gerade etwas aufgefallen: Wir haben doch gestern über ganz verschiedene Fragen nachgedacht. In Wirklichkeit gibt es da aber einen Zusammenhang, den wir glatt übersehen haben."
"Nämlich?"
"Du interessierst dich für alte Häuser. Nicolai interessiert sich für alte Häuser. Das Eich-Gedicht beschreibt ein altes Haus."
"Und Burckhardt lebt in einem alten Haus."
"Wer?"
"Na Burckhardt, der Auftraggeber von Nicolai. Hab ich dir doch erzählt."
"Ach so, ja, an den hab ich jetzt gar nicht mehr gedacht."
"Paßt aber in dein Bild."
"Ja, tatsächlich. - Na, jedenfalls ist das Weghaus auch ein altes Haus, und es müßte eigentlich auch abgelegen sein wie das Haus in dem Gedicht. Vielleicht hat Nicolai die Zettel ja geschrieben, um dich für das Weghaus zu interessieren."
"Könnte sein. Und das ist dir auf einmal so eingefallen?"
"War ein Tip von Marcel Reich-Ranicki."
Jeder andere hätte mich jetzt wohl für verrückt erklärt, aber Aaron hob nur eine Augenbraue und sagte gar nichts. Erst beim Frühstück redete er weiter:
"Du sprichst immer nur von Nicolai. Aber eigentlich ist Burckhardt doch wohl der wichtigere Mann. Er hat schließlich Nicolai beauftragt. Ich überlege gerade, ob es vielleicht sein könnte, daß sein Haus das Weghaus ist. Abgelegen genug ist es jedenfalls."
"Liegt es denn irgendwie zwischen Braunschweig und Wolfenbüttel?"
Soweit ich weiß, ja. Aber ich könnte das im Büro genauer nachgucken. Ich hab mir neulich schon ein paar Unterlagen besorgt, weil Burckhardt mich wieder angerufen hatte, um Druck zu machen."
"Und damit kannst du klären, ob sein Haus das Weghaus ist?"
"Auf jeden Fall kann ich genau feststellen, wo es liegt, wie alt es ist und wer die vorigen Besitzer waren."
"Na prima! Das bringt uns doch weiter!"
"Ja, schon. Aber was interessiert denn bloß Nicolai an der Sache? Bei Burckhardt kann ich mir ja vorstellen, daß er etwas über die Geschichte seines Hauses wissen möchte. Aber Nicolai ist doch ganz sicher einer lukrativeren Geschichte auf der Spur."
Ich überlegte. Aaron überlegte. Achim tat sein bestes, um uns zu helfen:
und ich träumte von dem mann auf dem markstück
der hatte rote augen
die jagd nach dem geld hat ihn entstellt
was macht der kerl in meinen träumen
ich brauch was echtes
(komm mir nicht mit tralla la)
ich brauch was echtes
Dann kam mir ein Gedanke:
"Du hast gesagt, Nicolai war schon oft hinter wertvollen Manuskripten her. Könnte es nicht sein, daß er auch im Weghaus oder seiner Umgebung etwas in der Art sucht? Das müßte dann natürlich von irgendwem aus der Zeit Lessings stammen. So ein Fund wäre vielleicht auch wissenschaftlich bedeutsam, allerdings wohl kaum finanziell. Aber wenn dieses Manuskript ..."
"... von Lessing selber stammen würde!"
"Wäre das natürlich nicht nur eine Sensation, sondern ließe sich bestimmt auch finanziell ausbeuten."
"Ist es denn überhaupt möglich, daß ein Manuskript von Lessing existiert, das noch unbekannt ist?"
"Wahrscheinlich ist das nicht gerade, nach so langer Zeit. Das wäre ja eben die Sensation. Aber möglich? - Vorstellen kann ich's mir schon. Lessing hat nämlich immer jede Menge Pläne und Entwürfe für Schriften gemacht, die dann nie entstanden sind. Entweder er hatte gerade andere Interessen, oder ihm fehlte einfach die Lust an der Kleinarbeit. Manchmal wurde er auch durch seine Geldsorgen abgelenkt. Weil das so oft vorkam, nimmt man an, daß die Ausarbeitungen alle nicht existieren. Es wäre dabei natürlich möglich, daß er das eine oder andere Projekt doch verwirklicht hat, und man nur nichts davon weiß, weil es nie veröffentlicht wurde oder verloren gegangen ist."
"Wenn es irgendwie mit dem Weghaus zu tun hat, müßte es ja in Lessings Wolfenbütteler Zeit gewesen sein. Gibt es denn da Hinweise?"
"Weiß ich nicht auswendig. Aber wenn ich ein bißchen im Daunicht blättern könnte, kann ich dir sicher mehr dazu sagen."
"Den hab ich doch auch in meinem Büro. Laß uns gleich mal hinfahren, dann kannst du danach suchen, und ich könnte das mit Burckhardts Haus klären."
"Ist denn da jetzt jemand, am Samstagmorgen?"
"Hab ich vielleicht Schlüsselgewalt über Akademie und Bibliothek?"
"Tatsächlich? Na, denn man tau!"
Ich hatte meinen Wagen etwas weiter hinten in der Wasserstraße parken müssen, Aarons alter Käfer stand vor dem Haus. Deshalb stiegen wir hier ein. Diese spartanische Ausstattung war ich nicht mehr gewöhnt. Kein CD-Spieler oder Kassettenrecorder, nicht einmal ein Radio! Aaron blickte amüsiert. "Hier wird noch selbst gesungen", sagte er und legte auch gleich richtig los:
er saß am baggersee
mit'm walkman auf
und da war die brandung drauf
dabei machte er alle flaschen leer
und da war er richtig drauf
auf'm baggersee
mit'm walkman auf
da war er richtig drauf
richtig drauf
In der Akademie angekommen, machte sich Aaron sofort an seinen Unterlagen zu schaffen, und ich suchte im Daunicht nach Spuren von nicht bekannten Lessing-Werken. Einige der Quellen, die ich dort erwähnt fand, wollte ich gerne selber nachlesen. Deshalb ließ Aaron mich in die Herzog-August-Bibliothek.
Es war ganz schön aufregend, in dieser Bibliothek, die Lessing selbst geleitet hatte, zu arbeiten. Vielleicht hatte er sogar das eine oder andere Buch, das ich jetzt in die Hand nahm, noch selbst benutzt. Ich spürte einigen Angaben nach und hätte sicher noch Stunden hier verbringen können, wenn nicht irgendwann Aaron gekommen wäre, um eine Bilanz unserer Bemühungen zu ziehen. Er sagte:
"Also, ich hab jetzt geklärt, daß Burckhardts Haus ziemlich genau zwischen den beiden Städten liegt. Es stammt ursprünglich aus dem 17. Jahrhundert, ist aber wohl mehrfach umgebaut worden. Und das Interessanteste ist, es liegt an einer sehr alten Straße, die im 18. Jahrhundert der gebräuchlichste Weg von Wolfenbüttel nach Braunschweig war."
"Dann ist es also das Weghaus?"
"Sieht so aus! Ich konnte aber noch nicht sämtliche Vorbesitzer feststellen. Die Unterlagen dafür liegen im Staatsarchiv. Da komm ich heute nicht mehr rein. Wenn ich das noch nachgucken kann, wissen wir es ganz genau.
Und was hast du herausgefunden?"
"Vor allen Dingen, daß das ein hochinteressantes Gebiet ist. Da kann man, glaub ich, noch reichlich forschen. Ich hab mich natürlich auf Hinweise beschränkt, die die Wolfenbütteler Zeit betreffen. Einen fand ich besonders vielversprechend, weil hier etwas anders ist als bei allen anderen Projekten. Es gibt nämlich einen Stoff, an dem Lessing schon seit Jahren immer wieder gearbeitet hat, sogar in zwei verschiedenen Fassungen. Und es gibt mehrere Belege dafür, daß in der Wolfenbütteler Zeit beide Fassungen so gut wie fertig waren. So schreibt hier zum Beispiel Tobias Philipp Freiherr von Gebler 1775: "Beyde Ausarbeitungen erwarten nur die letzte Hand." Außerdem hatte Lessing selber schon im 17. Literaturbrief eine ganze Szene aus einem dieser Entwürfe mitgeteilt, und dabei sieht es ganz so aus, als ob er aus einem fertigen Manuskript zitiert."
"Worum geht es denn da?"
"Es ist ein Drama über die alte Volkssage vom Doktor Faust."
"Ist das nicht von Goethe?"
"Goethes Faust ist erst viel später erschienen. Aber es war zu der Zeit bekannt, daß er sich auch mit dem Stoff beschäftigte. Und das scheint genau der Grund gewesen zu sein, warum Lessing seinen Faust, obwohl er fertig war, nicht veröffentlicht hat."
"Wieso denn das?"
"Lessing war ja schon seit der Werther/Jerusalem-Geschichte über Goethe verärgert, und ..."
"Wer ist denn Jerusalem?"
"Ach, das ist alles ein bißchen kompliziert. Ich erklär dir das ein andermal. Jetzt nur soviel: Lessing hätte diesem jungen Genie gern einen kleinen Dämpfer verpaßt, und er wollte deshalb bewußt warten, bis Goethe den Faust in einem "Geniestreich" hinwirft, um dann seinen eigenen, lange und sorgsam durchdachten Entwurf dagegenzusetzen.
Ich hab hier zum Beispiel ein Zitat von Johann Heinrich Friedrich Müller, in dem er sagt,
daß Lessing seinen Doktor Faust sicher herausgeben würde, sobald G** mit seinem erschiene; daß er gesagt hätte: meinen Faust - holt der Teufel, aber ich will G** seinen holen! - Engel versicherte, daß, was er davon gehört hätte, Faust, Lessings Meisterstück seyn würde."
"Das ist ja richtig spannend. Und wie ging's dann weiter?"
"Goethe brauchte für seinen Faust dann doch länger, als man denken konnte. Vielleicht hatte er ja auch davon erfahren, daß Lessing nur auf seine Veröffentlichung wartete, und deshalb noch gezögert und sich nicht getraut. Jedenfalls ist Goethes Drama erst erschienen, als Lessing schon tot war."
"Und was ist aus Lessings Version geworden?"
"Das ist ja das Seltsame. Sie scheint verloren gegangen zu sein. Es gibt verschiedene Theorien darüber, wie das passiert sein könnte. Viele haben schon versucht, dieses Rätsel zu lösen. Aber was für uns interessant ist: Ich hab durch Zufall eine alte Tagebucheintragung von Johann Joachim Gottfried Joseph von Kuntzsch entdeckt. Der war einer der Freunde aus Braunschweig. Und jetzt hör dir mal an, was Kuntzsch hier 1776 schreibt:
Im W mit Zachariä, Ebert, Schmidt und den anderen.
L hat gelesen. Alle waren sehr beeindruckt.
Auch der junge Herr G wird sich noch wundern."
"Ja, und?"
"Mit dem, was Lessing hier "gelesen" hat, kann nur der Faust gemeint sein. Eine deutlichere Verbindung zum Weghaus kann es ja kaum geben. Danach haben wir doch gesucht."
"Du meinst, ..."
"Der Faust hat existiert, und er war im Weghaus. Vielleicht ist der Text dageblieben, liegengelassen oder gestohlen worden."
"Oder Lessing hat es einem seiner Freunde zu lesen gegeben. Und der hat es behalten."
"Dabei fällt mir Nicolais Auftritt in Braunschweig ein. Aus dem Carolinum kamen die meisten Braunschweiger Freunde her. Vielleicht ist Nicolai auf dieselbe Idee gekommen wie du."
"Und er gibt sich als Eschenburg aus, als Nachkomme eines dieser Leute, um mehr erfahren zu können."
"Genau!"
Ziemlich aufgeregt packten wir unsere Sachen weg und verschlossen alle Türen. Ich war jetzt voller Tatendrang:
"Und was machen wir jetzt?"
"Es ist ja noch früh. Laß uns doch zum Weghaus fahren. Ich hab jetzt schon soviel davon gehört, daß ich's gern mal selber sehen würde. Außerdem wollte ja Burckhardt immer, daß ich mir sein Haus ansehe. Vielleicht können wir auch mit ihm reden und herausfinden, was er schon weiß."
Also machten wir uns auf zum Weghaus. Während der Fahrt war Aaron wieder am Baggersee unterwegs. Ich konnte nicht mitsingen, weil ich viel zu aufgeregt war.
Wir fuhren aus der Stadt in Richtung Norden. Aaron versuchte dabei, einer Skizze zu folgen, die er noch im Büro angefertigt hatte. Bald waren wir auf der Bundesstraße, die nach Braunschweig führt, bogen dann aber rechts ab und kamen durch einige Nebenstraßen schließlich zu einer alten Landstraße, die in etwa parallel zur Bundesstraße verlief. Der Verkehr wurde immer spärlicher, und auch die Bebauung am Straßenrand nahm stetig ab. Wir waren jetzt fast allein unterwegs auf einer Straße, die nirgendwohin zu führen schien. Weiden standen zu beiden Seiten in Abständen, die die Sicht freigaben auf weite Felder und Wiesen. Aaron hatte seine Skizze beiseite gelegt und meinte: "Gleich muß es kommen!"
Wir fuhren langsamer und hielten Ausschau nach dem Haus. Unsere Sicht war kurze Zeit eingeschränkt dadurch, daß die Straße wegen einer Brücke leicht anstieg und gleichzeitig einen Bogen machte, so daß wir beinahe in eine Reihe von Autos gefahren wären, die plötzlich am Straßenrand standen. Aaron bremste heftig und rief gleichzeitig: "Da vorne! Das ist es! Wir sind da!"
Wir parkten und sahen genauer hin. Dort stand tatsächlich, etwas zurückgesetzt von der Straße und zum Teil von großen Bäumen verborgen, ein einzelnes Haus, das offensichtlich hufeisenförmig gebaut war. Aaron sagte:
"Junge, ein abgelegenes Gehöft, wenn ich jemals eins gesehen hab. Hast du mal das Gedicht da?"
Ich gab ihm die Zettel und antwortete:
"Ganz so abgelegen scheint es nicht zu sein, wenn man sich die Autoschlange hier ansieht. Was machen bloß die ganzen Leute hier?"
"Burckhardt ist schließlich ein wichtiger Mann in Wolfenbüttel. Vielleicht findet irgendeine Versammlung hier statt."
"An der auch die Polizei teilnimmt?"
Wir waren an den Autos vorbei zum Eingang des Hofs gegangen und dabei auch an einem Streifenwagen vorbeigekommen. Aaron nahm meinen Einwurf nicht zur Kenntnis, sondern las in den Zetteln und sagte dann:
"Hier ist von Weiden und Wiesen die Rede. Haben wir hier beides. An dem Bach, den wir gerade überquert haben, gibt's Enten, und am Haus bröckelt tatsächlich auch der Putz. Jetzt fehlt doch nur noch ..."
Wir waren an dem Tor vorbeigegangen und jetzt auf der anderen Seite des Hauses.
"... ein Rübenfeld! Und der Hund, der uns da entgegenkommt, ist zwar kein Spitz, aber doch ziemlich ähnlich. Was meinst du? Ist das nicht verblüffend?"
Ich konnte nicht antworten, weil ich durch den Hund, den Aaron gerade erwähnt hatte, abgelenkt wurde. Er hatte anscheinend seinen eigenen Eingang zum Hof durch ein Loch im Zaun, durch das er jetzt laut bellend genau auf mich zu gelaufen kam. Ich machte einen Schritt in seine Richtung und hielt ihm meine Hand entgegen. Von hinten flüsterte mir jemand ins Ohr: "Sei bloß vorsichtig!" Aaron hatte sich strategisch geschickt hinter mich gestellt.
Der Hund blieb stehen, schnüffelte an meiner Hand und knurrte unsicher. Ich bückte mich, um ihn zu streicheln. Da kam ein weiteres Auto, verlangsamte seine Fahrt, fuhr an der ganzen Schlange vorbei, um dann neben uns zu parken. Der Hund fing ruckartig wieder an zu bellen und lief dem Wagen entgegen. Aaron erschrak so heftig, daß er beinahe in mich hineingestolpert wäre. Aus dem Auto stieg ein jüngerer Mann, der mir sofort bekannt vorkam. Er sagte:
"Ruhig, Rollo! Was machst du überhaupt hier draußen? Komm mit!"
Er ging mit dem Hund an uns vorbei und ins Haus. Ich stieß Aaron an, der immer noch hinter mir stand:
"Hast du gesehen? Das war doch der Neugierige aus dem Café. Und ich hab ganz vergessen, dir zu erzählen: Die Tochter meiner Vermieterin hat mit dem zweiten Mann geredet, der sich in Hornburg nach dir erkundigt hat. Nach ihrer Beschreibung könnte das genau dieser Mann gewesen sein. Und der ist jetzt auch da und geht anscheinend ganz selbstverständlich hier ein und aus."
"Ein Grund mehr für uns, auch reinzugehen. Komm, wir versuchen mal unser Glück!"
Wir gingen zur Tür, doch schon bevor wir klingeln konnten, öffnete sie sich, und heraus kam nicht etwa unser neugieriger Freund, auch nicht Herr Burckhardt, sondern Theo Schneider! Er war genauso verblüfft wie wir und wollte gleich wissen, was wir hier machten. Aaron erklärte kurz, was uns hergeführt hatte. Als er von den Zetteln erzählte, sah ihn Theo ziemlich ungläubig an. Doch ehe er noch eine Bemerkung dazu machen konnte, fragte Aaron schon nach dem Mann, der gerade ins Haus gegangen war.
"Das ist der Verlobte von Burckhardts Nichte. Wagner heißt der, glaub ich, ist Journalist. Wieso?"
Aaron antwortete ihm nicht, sondern fragte mich:
"Du hast doch den Zeitungsartikel über Nicolai in Braunschweig dabei, nicht?"
Ich wühlte das Blatt heraus, gab's ihm und blickte ihm über die Schulter.
"Da steht es: 'Ein Bericht von H. Wagner'."
Dann wandte er sich an Theo:
"Es scheint so, als ob dieser Herr Wagner mit Nicolai unter einer Decke stecken könnte. Was sagst du dazu? - Aber was machst du überhaupt hier? Hat Burckhardt dich etwa beauftragt, einen Rübendieb zu fangen?"
"Kann er wohl nicht mehr machen. Er ist nämlich tot. Wurde heute nacht ermordet."
Weiter mit Kapitel 7