Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König


Kapitel 11







Kapitel 11: Rock 'n' Roll





Die Tür öffnete sich fast augenblicklich, und Aaron T. Schmitt streckte den Kopf heraus. Sein Gesicht zeigte ein Standard-Begrüßungslächeln, aber als er sah, wer da draußen stand, ließ er es blitzartig wieder verschwinden. Mit diesem Besucher hatte er nicht gerechnet.
Theo Schneider hatte schon lange vor der Tür gestanden und sich nicht getraut, auf Aarons Klingel zu drücken. Der Korb, den er sich am Sonntag eingehandelt hatte, wirkte noch nach. Außerdem war er noch nie in Aarons Wohnung gewesen. Doch schließlich hatte er sich gesagt, daß er ja gewissermaßen beinahe dienstlich da war, und dann kurz entschlossen geklingelt.
Jetzt standen beide verunsichert herum, und einen Moment lang kam es Theo so vor, als sollte er auf der Türschwelle abgefertigt werden. Aber dann machte Aaron doch den ersten Schritt zur Entspannung der Situation. Er packte Theo am Arm und zog ihn hinein.
Danach saßen sie sich im Wohnzimmer gegenüber, beide darauf bedacht, sich nicht direkt anzusehen. Die Atmosphäre war immer noch leicht verkrampft. Besonders Theo Schneider trug dazu bei. Er saß aufrecht, nur auf dem vorderen Teil seiner Sitzfläche, so als ob er jeden Moment aufspringen wollte.
"Wie in der Tanzschule", dachte Aaron, und er legte die passende Musik dazu auf:

Well, do you want to dance,
Hold my hand,
Tell me, I'm your loving man,
Baby, do you want to dance?

Johns Aufforderung brachte Theo auch nicht dazu, lockerer zu werden. Er saß nach wie vor steif auf seinem Platz und wußte wohl nicht, wie er das Gespräch beginnen sollte. Also machte Aaron den Anfang:

"Nett, daß du vorbeikommst. Erzähl doch mal! Was machen denn eure Ermittlungen?"

"Tja, eigentlich darf ich gar nicht darüber reden, ..."

Aaron runzelte die Stirn. Theo mußte lächeln, dann beeilte er sich zu ergänzen:

"... aber tatsächlich hab ich sogar vor, noch mehr zu tun: Ich wollte euch nämlich in die Ermittlungen einspannen."

"Na, dann leg los!"

"Gleich. Aber erst müssen wir wohl noch über Samstag reden."

"Wieso?"

"Na, hör mal, du bist seitdem wie ausgewechselt. Kommst von der Toilette wieder und redest kein einziges Wort mehr. Und jetzt behandelst du mich, als ob ich dir was getan habe."

"Nein, nein, hast du ja nicht."

"Was denn dann?"

"Deine Freunde ..."

"Ach, die Jungs. Was ist mit denen? Ist dir einer zu nahe gekommen? Das hätte ich mir ja denken können! Sind schon ein paar Tunten dabei. Aber sonst sind sie doch ganz in Ordnung, oder?"

Das Thema war ihm offensichtlich gar nicht peinlich. Aaron dafür um so mehr. Er sah betreten auf den Boden und druckste herum. Dann stammelte er:

"Es ist nur ..."

"Ja was?"

"Ich wußte nicht, daß sie ... , daß du ..."

"Schwul bist? Ich dachte, das wär von Anfang an klar gewesen."

"Nun, das war es eben nicht!"

"Oh."

Jetzt war Theo durcheinander. Mit dieser Möglichkeit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Er machte mehrere Ansätze, etwas zu sagen, blieb aber jedesmal schon beim ersten Wort stecken. Schließlich ergriff Aaron wieder die Initiative:

"Hör zu! Wir haben da offenbar beide etwas nicht gewußt. Aber jetzt wissen wir es doch. Bestimmt besser so."

Theo Schneider hatte sämtlichen Krempel, der auf dem Tisch lag, in eine Reihe geschoben, jetzt sortierte er alles der Größe nach. Als er dann weiterredete, hatte seine Stimme einen bitteren Klang.

"Wie oft hab ich das schon erlebt! Früher. Ich dachte eigentlich, die Zeiten wären vorbei. Weißt du, damals hier in Hornburg, - ich hab ja keine zwei Ecken von hier gewohnt - das war überhaupt nicht lustig."

Er dachte zurück an die Hänseleien der Nachbarskinder und den ewigen Streit mit seinen Eltern. Als er erzählte, wirkte er wie der verschüchterte, orientierungslose Junge, der er da-mals gewesen sein mußte. Aaron konnte nicht anders, als Mitleid mit ihm zu empfinden. Gleichzeitig war er aber vollkommen ratlos, wie er sich verhalten sollte. Die Situation überforderte ihn zunehmend.
Theo merkte schließlich, daß er seinem Freund wohl etwas zu viel auf einmal zumutete, und brach die Erzählung über sein coming-out, die er inzwischen begonnen hatte, abrupt ab.

"Na ja! Das ist lange her. Heute hab ich diese Probleme nicht mehr. Aber es nervt mich immer noch, wenn ich in solche Situationen gerate."

"Wieso? Es ist doch nichts passiert. Alles in Ordnung."

"Nein, nein, ich hab dann immer das Gefühl, daß ich mich irgendwie rechtfertigen muß. Und das ist eben nicht in Ordnung."

"Wie ist es denn bei der Polizei? Hast du da gar keine Schwierigkeiten?"

"Die Kollegen wissen nicht, daß ich schwul bin. Da spiele ich eine Rolle: pflichtbewußt, korrekt, genau."

"Das ist aber nicht nur eine Rolle, Alter!"

"Hast du recht. Das bin ich auch. Und das bin ich auch ganz gut. Aber lieber wär's mir schon, ich bräuchte mich gar nicht zu verstellen."

"Ist bestimmt nur eine Frage der Zeit."

"Warum?"

"Na, irgendwann sieht dich ein Kollege in der Kneipe oder wo du sonst am Feierabend so rumturnst, und dann wissen die auch Bescheid."

"Ich glaub, das wär mir ganz recht. Weißt du, manchmal denke ich, ich leg es unbewußt sogar darauf an, daß das passiert. Ist nämlich ganz schön pervers: Bei meiner Arbeit versuche ich ja oft herauszufinden, was die Leute so zu verbergen haben, und dabei mach ich das selber auch die ganze Zeit."

Aaron war froh über das Stichwort und die Gelegenheit, das Gespräch wieder auf vertrautes Terrain zurückzuführen.

"Apropos 'Leute, die etwas verbergen'. Was ist denn jetzt mit euren Ermittlungen?"

"Richtig, ermitteln wollte ich ja auch noch: Was hast du heute mit Herrn Nicolai zu tun gehabt?"

"Was?"

"Du warst doch am späten Vormittag in der Bibliothek."

"Ja und? Ich muß ja irgendwann auch mal arbeiten."

"Herr N. war auch da. Ich hab euch zusammen im Lesesaal gesehen."

"Ehrlich? Hab ich überhaupt nicht bemerkt. Du glaubst doch nicht etwa - ?"

"Nein. Aber fragen muß ich schon. Der pflichtbewußte Polizist, you know?"

"Ja klar. Aber wieso - Ach so, du bist bei deiner Verfolgung von Nicolai da hingekommen."

"Stimmt, aber woher weißt du das?"

"Ich hab eben auch meine Quellen. Was hat er denn so getrieben? Warst du schon den ganzen Tag hinter ihm her?"

"Nein, er war doch heute auf der Inspektion. Danach bin ich ihm dann gefolgt."

"Ach, verhört habt ihr ihn auch schon. Was sagt er denn?"

"Also, er gibt die Geschäftsbeziehung mit Burckhardt zu, sagt aber nicht, worum es da ging. Allerdings muß das schon noch akut sein. Sonst müßte er ja nicht alles verschweigen. Und abreisen könnte er auch. Aber er bleibt. Stell dir vor, er sagt, er wäre jetzt Tourist! Er will unser 'schönes Städtchen' besichtigen."

"Was für ein Widerling!"

"Findest du auch, nicht? Und eingebildet ist der! Sagt er doch tatsächlich, in Braunschweig wäre er 'inkognito' gewesen."

"Könnt ihr ihn denn dafür nicht belangen?"

"Dafür, daß er unter falschem Namen Geld spendet? Wohl kaum."

"Er hat Geld gespendet?"

"Einen namhaften Betrag, hört man."

"Na, wenn das nicht verdächtig ist! Wenn ein Typ wie Nicolai freiwillig Geld hergibt, dann doch wohl nur, um viel mehr zurückzubekommen."

"Glaub ich auch. Es steckt garantiert ein lohnenswerter Profit in dem Geschäft mit Burckhardt."

"Das er jetzt auf eigene Rechnung weiter betreibt."

"Könnte auch sein, daß noch eine dritte Person im Spiel ist."

"Und wo kommt die so plötzlich her?"

"Sag ich dir gleich. Aber wie auch immer, Kommissar Widemann glaubt nicht, daß das Ganze irgend etwas mit unserem Fall zu tun hat."

"Und du?"

"Ich eigentlich auch nicht. Wenn N. Burckhardt ermordet hätte, z.B. um etwas zu bekommen, was dem gehörte, wäre er doch längst über alle Berge. Aber trotzdem glaube ich, es kann nicht schaden, ein Auge auf ihn zu haben. Bloß, ich kann das nicht machen. Da hab ich gedacht, du und dein Freund, ihr hättet vielleicht Lust einzuspringen."

"Kann schon sein. Aber wir brauchen natürlich noch Informationen. Also: Was hat Nicolai gemacht, als du ihn observiert hast?"


* * *



Ein knochiger Ellbogen bohrte sich hart in meine Rippen. Ich warf einen erstaunten Blick auf die Frau neben mir. Ein altes Mütterchen, ganz in Grau und Schwarz gekleidet, mit einem freundlichen Gesicht voller Runzeln.
Nein, das konnte nicht sein, daß die mich angerempelt hatte. Wahrscheinlich war sie nur von dem schaukelnden Bus in meine Richtung geworfen worden. Doch da zuckte der Ellbogen schon wieder zu mir herüber. Diesmal war kein Zweifel mehr möglich. Außerdem sah sie mich auffordernd an.

"Ja, bitte?" stammelte ich.

"Was hat er denn nur gemacht, dieser Götte?"

"Wie? - Ach nichts, gar nichts."

Es war mir nicht bewußt gewesen, aber ich mußte wohl vor mich hingemurmelt haben. Das Mütterchen ließ jedenfalls nicht locker:

"Für gar nichts sind Sie aber ganz schön geladen. Solche Verwünschungen hab ich ja nicht mehr gehört, seit mein seliger Konrad von mir gegangen ist."

Ich mußte wohl sehr viel gemurmelt haben, und nichts Gutes, wie es schien. Das kam sicher daher, daß ich noch immer empört war über die Zusammenhänge, die ich in der Bibliothek entdeckt hatte. Und der allseits geachtete Dichterfürst kam dabei ja nicht gerade gut weg. Aber war es denn überhaupt klar, daß er von den Machenschaften dieses Mylius gewußt hatte?

"Nu bleiben Sie ganz ruhig, junger Mann, und denken Sie nach! Dann war's vielleicht gar nicht so schlimm."

Ja, genau! Am Ende hatte Mylius auf eigene Veranlassung gehandelt, weil er glaubte, Goethe dadurch einen Gefallen zu tun. Der literarische Schurke, der meinen Zorn verdient hatte, war bestimmt gar nicht Goethe, sondern Mylius.
Aber wie auch immer! Hauptsache, ich hatte jetzt eine Ahnung davon, was aus dem Faust geworden war. Nein, sogar mehr als eine Ahnung. Für mich war es längst zu einer inneren Gewißheit geworden: Der Faust existierte! Und ich wußte auch, wo ich weitersuchen mußte.
Das Mütterchen hatte die ganze Zeit ununterbrochen auf mich eingeredet. Sie glaubte wohl, einen gefährlichen Jähzornigen beruhigen zu müssen. Ich hatte nicht mehr hingehört. Trotzdem war ich froh, daß ich jetzt aus dem Bus steigen konnte.
Auf dem Weg zur Werkstatt dachte ich wieder an Mylius. Ich hätte in der Bibliothek noch gerne versucht, etwas mehr über ihn herauszufinden, doch mein Werkstattermin hatte mich zum Aufbruch getrieben. Aber interessanter war ja auch Ullrich. Wenn das der Schwiegersohn von Leopold gewesen war, hatte er möglicherweise auch im Weghaus oder in der Umgebung gewohnt. Dann konnte ich vielleicht morgen im Staatsarchiv etwas über ihn in Erfahrung bringen. Ich wollte dort sowieso mit Aaron hin, weil der glaubte, da die früheren Besitzer des Weghauses ermitteln zu können.
Als ich dann in meinem jetzt wieder verkehrstüchtigen Auto saß, überlegte ich, was wohl Aaron zu meinen Forschungsergebnissen sagen würde. Ich war sehr gespannt.
Irgendwo in der Nähe von Dorstadt hörte ich plötzlich ein seltsames Geräusch aus dem Motorraum meines Wagens. Ich hielt am Rand der Landstraße an, um nachzusehen. Zum Glück war es nur ein Schraubenzieher, den anscheinend einer der Monteure vergessen hatte.
Als die Haube wieder geschlossen war, sah ich auf der anderen Straßenseite das alte Kloster liegen, das mir schon früher beim Vorbeifahren aufgefallen war. Ich entschloß mich, diese Gelegenheit zu nutzen, es einmal aus der Nähe zu betrachten. Auf Anhieb sah ich allerdings überhaupt nichts, denn die Mauern waren ziemlich hoch. Ich suchte eine Stelle, an der die Steine eingebrochen und abgetragen waren. Hier konnte man hineinsehen.
Ich blickte auf einen Innenhof, der von einem langen Karreebau umschlossen wurde. Die wuchtigen Steine, aus denen er errichtet war, mußten einmal gelb verputzt gewesen sein. Jetzt war der Putz fast überall abgebröckelt, und die Farbe ließ sich nur noch erahnen. Viele dicht beieinander stehende Fenster deuteten darauf hin, daß es sehr viele Räume in dem Gebäude gab, wahrscheinlich die Zellen der Mönche. Sie alle standen jetzt leer.
Auch der Hof lag vollkommen verlassen da. Ziemlich genau in seiner Mitte erhob sich ein verwitterter alter Brunnen. Er war wohl nicht mehr in Betrieb, denn aus seinem Schacht ragte etliches Gerümpel heraus. Eines dieser Teile schien ein zerbrochenes Kruzifix zu sein. Aber vielleicht drängte mir auch nur die Umgebung diese Vermutung auf, und es war in Wirklichkeit nur ein einfaches Stück Holz.
Die ganze Szenerie strahlte eine unglaubliche Ruhe aus, einen Frieden, der sich wie ein sanfter Umhang über all die Zeugnisse einer vergänglichen Welt gelegt hatte.
Auf der genau gegenüberliegenden Seite des Gebäudes war aus einer aufgebrochenen Tür eine schwarze Katze getreten. Trotz der großen Entfernung hatte sie mich offenbar sofort entdeckt, denn sie sah genau zu mir herüber und schien mich mißtrauisch zu mustern. Plötzlich fühlte ich mich wie ein Eindringling in den klösterlichen Frieden.
Aber da störte noch etwas diese Ruhe. Ein lautes Knurren war zu hören. Ich erschrak tatsächlich kurz, bevor ich merkte, daß das Geräusch aus meinem eigenen Magen kam. Das erinnerte mich daran, daß ich dringend mal etwas essen mußte. Außerdem war mein Koffeinspiegel den Tag über auch schon bedrohlich abgesunken.
Also ging ich, nachdem ich dann wieder in Hornburg war, nicht sofort zu Aaron, sondern erst einmal in meine eigene Wohnung. Im Augenblick wäre ich ihm auch gar nicht gelegen gekommen. Denn als ich durch mein Fenster hinübersah, mußte ich feststellen, daß er bereits Besuch hatte. Theo Schneider tänzelte da in seinem Zimmer umher, und die beiden schienen sich sehr angeregt zu unterhalten.
Bestimmt war es nicht ratsam, sie jetzt zu stören.


* * *



Theo hatte über seinen Besuch in der Forstbehörde berichtet und Aaron damit zum Lachen gebracht. Jetzt erzählte er von der Verfolgung Nicolais, dessen Treffen mit Wagner und dem anschließenden Einkaufsbummel. Und er hatte einen aufmerksamen Zuhörer. Aaron war nicht Widemann, also konnte Theo seinem Hang zur Ausschmückung freien Lauf lassen. Er genoß es sichtlich. Außerdem hatte er den Eindruck, daß die alte Vertrautheit zwischen ihnen wieder da war. Genau betrachtet waren sie sich sogar etwas näher gekommen. Eine angenehme, gemütliche Stimmung breitete sich aus, die von John gedämpft melancholisch untermalt wurde:

If you ever change your mind
About leavin', leavin' me behind
You'd better bring it to me
Bring your sweet loving
Bring it on home to me.

Als Theo den Zettel im Supermarkt erwähnte, sagte Aaron:

"Einen 'Toten Briefkasten' nennt man das ja wohl."

"Ja, wie in einem Spionageroman, nicht?"

"Und was stand auf dem Zettel?"

"Für Gotthold Ephraim. Objekt lokalisiert. Treffen am Sonntag nach Plan. N."

"Ach, daher der Name 'Bratkartoffel'!"

"Bitte?"

"Dieser Ephraim ist die dritte Person, die du eben gemeint hast."

"Ja, genau. Ein ziemlich entlegener Name, was?"

"Sicher ein Deckname. Aber so entlegen ist er auch wieder nicht. Das sind die Vornamen von Lessing. Deutet in die Richtung unserer Idee."

"Nämlich?"

"Wir glauben ja, es dreht sich alles um ein unbekanntes Lessing-Manuskript. 'Lokalisiert' würde dann heißen, er hat's gefunden, vielleicht auch Burckhardt abgenommen."

"Du meinst also immer noch, das hat irgendwas mit dem Mord zu tun? Mit 'Objekt' kann doch auch etwas ganz anderes gemeint sein, z.B. eine Immobilie."

"Auf jeden Fall ist noch ein Unbekannter dabei. Und dieser schmierige Journalist hängt auch mir drin. Aber Ephraim kann der ja nicht sein."

"Das nicht, aber wenn ihr am Sonntag versucht, an Nicolai dranzubleiben, dann erfahren wir ja, wer Ephraim ist. Da wollen die beiden sich doch treffen."

"Wenn das stimmt."

"Wie meinst du das?"

"Ich denke gerade über den Zettel nach. Du hast ganz recht, es klingt wie aus einem Spionageroman. Aber aus dem vorigen Jahrhundert! Selbst wenn die sich nicht so einfach öffentlich treffen wollen, sie könnten doch telefonieren. Vielleicht ist das alles ja nur ein Fake, um dich zu verwirren."

"Dann müßte Nicolai mich ja bemerkt haben. Hat er aber nicht! Nee, Ephraim will bestimmt nicht, daß N. seine Telefonnummer kennt. Deshalb auch der Deckname. Herr N. weiß selbst nicht, wer Ephraim ist."

"Der geheimnisvolle Unbekannte im Hintergrund!"

"Der mit Zetteln kommuniziert. Ach übrigens: Da fällt mir ein: Ihr habt da doch dieses Theater über so einen anderen Zettel gemacht, mit einem Gedicht drauf."

"Zwei."

"Dann eben zwei Gedichte."

"Nein! Ein Gedicht, zwei Zettel."

"Oder so. Ich hab hier was Ähnliches. Vielleicht interessiert's euch ja."

Er zog eine Kopie des Blatts hervor, das in der Inspektion in der Akte lag. Er hatte sie heimlich angefertigt, als Kommissar Widemann schon gegangen war. Aaron schien tatsächlich interessiert zu sein.

"Woher ist das?"

"Hatte der Ermordete in der Tasche. Ich hab gleich an euch gedacht, weil das doch auch ein Gedicht ist."

Aaron warf einen schnellen Blick auf den Text.

"Kein Eich, das steht schon mal fest."

"Kein was?"

"Eich! Das Gedicht auf unseren Zetteln ist von Günter Eich, dieses hier ganz bestimmt nicht. Die Schrift sieht allerdings ziemlich ähnlich aus. Aber die Tinte und das Papier sind anders."

"Das ist natürlich eine Kopie. Das Original kann ich euch doch nicht geben."

"Oh, ich darf das behalten? Prima! Was sagt denn dein schlauer Kommissar dazu?"

"Glaubt nicht, daß es irgendeinen Belang hat. Aber was es bedeutet, möchte er schon gerne wissen."

"Und, habt ihr das geklärt?"

"Negativ. Mir sagt das rein gar nichts. Aber wir haben ja einen Experten für Literatur jeder Art hier am Ort. Den haben wir natürlich gefragt."

"Wer mag das denn sein?"

"Na, Prof. Dr. Dr. Schulz-Glotzer, der Chef der Bibliothek!"

"Ach, der ist Experte für Literatur? Ich dachte immer, sein Fachgebiet wären Fettnäpfchen jeder Art. Aber gut, daß du mich an die Honoratioren unserer Stadt erinnerst. Ich muß mal eben -"

Er stand auf und schaltete den Fernseher ein. John Lennon war gerade dabei zu erklären, warum es unmöglich wäre, ihn zu fangen: 'Cause if you get too close, you know, I'm gone like a ...". Weiter kam er nicht, denn ein Werbespot dröhnte los. Hektisch suchte Aaron nach der Fernbedienung und fand sie schließlich in einer Ecke des Zimmers unter einem Stapel Zeitschriften. Er schaltete den Ton ab und ließ die Kanäle schnell vorlaufen. Theo Schneider sah diesem Treiben entgeistert zu. Als der Fernseher still war, und Aaron wieder auf seinem Platz saß, meinte er:

"Sag mal, mußt du jetzt fernsehen?"

"Gar nicht, mach ich ganz freiwillig. Nein, im Ernst: Der Bürgermeister tritt gleich im Regionalprogramm auf und redet über unser neues Tourismus-Konzept. Pflichtsendung für mich. Aber das kann ich nebenbei erledigen. Erzähl ruhig weiter. Hat euer Experte euch denn helfen können?"

"Fehlanzeige. Er hat uns Vorträge gehalten über Metrum, Rhythmik und Reimschema. Aber das bringt uns auch nicht viel weiter."

"Das wundert mich nicht. Vielleicht haben wir ja mehr Erfolg. Aber im Moment kann ich mit dem Text auch nichts anfangen. Mit Burckhardt scheint das ja nun gar nichts zu tun zu haben."

"Bei dem anderen Gedicht habt ihr doch über Hinweise spekuliert."

Aarons Blick war in den letzten Minuten zwischen dem Fernseher und Theo Schneider hin- und hergewandert. Jetzt hatte der Polizist seine ganze Aufmerksamkeit.

"Hinweise auf den Burckhardt-Mord, ja. - Du hast recht! Das hier könnte ja auch verschlüsselte Hinweise enthalten!"

"Worauf denn?"

"Auf einen weiteren Mord, einen, der erst noch passieren wird!"

Aaron wurde jetzt immer aufgeregter. Aber Theo ließ sich nicht anstecken. Er wußte, daß für einen Profi nichts so verhängnisvoll sein konnte wie emotionale Verstrickungen. Er brauchte Distanz, um unvoreingenommen nachdenken zu können. Deshalb bremste er Aaron:

"Warum sollte jemand so dumm sein, einen Mord anzukündigen?"

"Weiß ich auch nicht. Vielleicht, damit er noch verhindert werden kann. Oh, Mann, das würde ja bedeuten, -"

Wieder begann Aaron, sich in das Thema hineinzusteigern. Aber Theos Logik ließ keine Begeisterung zu.

"Wenn das so ist, wäre die Verschlüsselung doch Blödsinn."

"Ja stimmt. Ein verschlüsselter Hinweis ist einer und gleichzeitig doch keiner. Das ist schizophren. - Ja! Vielleicht ist das die Lösung: Der Mörder ist schizophren!"

"Aber ihr denkt doch, der Mord hat ein Motiv. Ihr redet von Manuskripten und was alles. Das klingt nicht nach einem geisteskranken Täter, sondern nach sehr viel Überlegung. Und Nicolai ist euer Hauptverdächtiger. Der ist doch bestimmt nicht schizophren."

"Vielleicht ist der Schreiber dieser Zettel doch nicht der Mörder. Der Mörder geht logisch vor. Der Schreiber nicht. Er weiß von dem Mord. Er will ihn zwar nicht verhindern, oder kann es nicht, dann gibt er aber doch Hinweise. Vielleicht, um die Verantwortung für sein Wissen loszuwerden. Dann haben wir den Schwarzen Peter, weil wir ja die Hinweise verstehen und den Mord verhindern könnten."

"Das ist ja nun mehr als abstrus. Außerdem kommt noch dazu: Ein Zettel wird bei dir gefunden, einer bei deinem Freund, einer bei Burckhardt. Wem will er denn nun die Hinweise geben?"

"Na, uns allen. Die Nachrichten sind nicht an einen gerichtet, sondern an alle, die es angeht.
To whom it concerns - Verstehst du? - Alles, was geschieht, geht dich an!"

Theo Schneider schien jetzt langsam um den Geisteszustand seines Gesprächspartners zu fürchten. Er warf immer verzweifeltere Blicke zum Poster von John Wayne, als wollte er sagen: "Duke, komm herab und hilf uns!"

Da klingelte das Telefon.


* * *



Ich sah aus dem Fenster.
Theo Schneider war immer noch da. Kein Wunder, die beiden hatten ja auch sicher genug Gesprächsstoff. Zu gern hätte ich da Mäuschen gespielt. Vielleicht sollte ich doch rüber gehen. Aber Theo würde bestimmt nicht so bereitwillig reden, wenn ich dabei wäre. Außerdem war der Tag schon anstrengend genug. Also ins Bett statt dessen!
Als ich meine Hose auszog, raschelte etwas in der Tasche. Ach ja. Das Blatt Papier aus dem Eschenburg-Buch. Ich nahm es heraus, um es wegzuwerfen. Beiläufig bemerkte ich, daß es tatsächlich eine Rechnung war. Aus einem Restaurant. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie im Papierkorb verschwinden konnte, blieb mein Blick am Namen des Restaurants hängen. 'Altes Kaffeehaus' stand da. Das war doch das Hotel, in dem Nicolai wohnte! Ich sah auf das Datum: der 5.4. dieses Jahres. Ich hatte zwar damit gerechnet, aber jetzt bekam ich doch einen Schreck. Nicolai war wirklich auf derselben Spur wie ich, und er war uns nur ein paar Tage voraus!
Jetzt mußte ich doch noch mit Aaron reden. Ich griff zum Telefon.

"Schmitt" meldete sich die vertraue Stimme.

"Hör mal, Aaron, wir wollten doch morgen ins Niedersächsische Staatsarchiv. Meinst du, ich kann da auch etwas recherchieren?"

"Na klar, kannst du. Aber ich dachte, du wolltest mir nur Gesellschaft leisten."

"Nein. Ich muß jetzt auch was rausfinden. Und zwar dringend. Nicolai hat nur ein paar Tage Vorsprung! Aber das erzähl ich dir alles morgen genauer. Auf jeden Fall könnte das ein bißchen dauern, was ich vorhabe. Können wir nicht schon früher losfahren?"

"10 Uhr würde gehen."

"Gut, ich klingel dann bei dir an."

"Äh, nein, das, das geht nicht."

"Oh, bleibt Theo etwa über Nacht?"

"Witzig! Nein, ich hab vorher noch eine Verabredung."

"Sag bloß nicht mit der Frau von heute nachmittag. Ich hab euch nämlich gesehen. Es war unverkennbar, wie du dich da für das Stadtmarketing krummgelegt hast. Und das soll jetzt morgen noch weitergehen?"

"Du siehst das ganz falsch. Ist rein dienstlich. Die Leute aus der Akademie haben sie zu mir geschickt. Sie sucht für ihre Cousine einen historischen Stadtführer. Ich hab versprochen, ihr da bis morgen etwas zusammenzustellen."

"So dienstlich sah euer Gespräch aber gar nicht aus."

"Ja, weißt du, es stellte sich heraus, daß Lisa auch an alten Häusern interessiert ist. Dann hab ich ihr natürlich ein bißchen über Stadtsemiotik erzählt, und auch von meinem diachronen Stadtplan. Sie fand das alles ganz spannend."

"Du, diese Frau, das ist doch nicht etwa?"

"Doch, Lisa Eschenburg, die Nichte von Burckhardt, stell dir nur vor! So ein Zufall, was?"

"Kann man wohl sagen. Soll ich vielleicht morgen alleine ins Archiv fahren?"

"Nein, nein, das geht ganz schnell. Wenn wir uns um 10 vor dem nds treffen, hab ich Zeit genug."

"Ach übrigens, frag deine Lisa doch mal, ob sie mit Johann Joachim verwandt ist. Wäre vielleicht nicht unwichtig für unsere Nachforschungen. Ich hab da nämlich ein paar Neuigkeiten für dich."

"Ich auch. Dann können wir morgen ja tauschen."


* * *



Das Gespräch über Lisa hatte Aaron deutlich aufgeregt. Sein Gesicht war leicht gerötet, und die Augen glänzten. Das war auch Theo Schneider nicht entgangen. Sein Mienenspiel wechselte von Erstaunen über Neugier zu offener Mißbilligung. Pikiert sagte er dann:

"Hab ich richtig gehört? Du triffst Frau Eschenburg?"

"Ach, das hat nichts zu bedeuten. Sie ist ganz einfach eine Klientin. Schließlich arbeite ich doch für die Stadtverwaltung, also muß ich auch für die Bürger da sein."

Er bemühte sich darum, möglichst sachlich zu wirken. Aber er redete etwas zu viel und zu schnell, um Theo zu überzeugen.

"Du solltest lieber ein bißchen vorsichtig sein!"

"Wieso?"

"Frau E. ist schließlich eine der Hauptverdächtigen. Kommissar Widemann und ich glauben, der Schlüssel zu dem Verbrechen liegt im Haus Burckhardt, und damit bei den Frauen."

"Ja, ja, ich weiß, chercher la femme, aber da liegt ihr ganz falsch. Nicolai ..."

Aber Theo ließ sich jetzt nicht mehr auf das Thema 'Nicolai' ein.

"Warte ab, was Burckhardts Testament sagt, dann wirst du sehen, daß da Mordmotive liegen, auch für Frau E."

"Wißt ihr denn schon was darüber?"

"Der Notar wollte mir nichts sagen, deshalb hat Widemann versucht, eine richterliche Verfügung zu bekommen, leider vergebens. Aber dann hat er selbst noch mal mit Dr. Z. geredet. Die kennen sich ja aus dem Schützenverein. Z. ist jetzt doch bereit, uns zu informieren, allerdings nur zusammen mit den Verwandten."

"Und wann ist es soweit?"

"Z. meint, 'die Pietät gebietet', das erst nach der Beerdigung zu machen. Und die ist Mittwoch."

Die Beerdigung! Ach ja. Aaron dachte an Lisa. Die Trauer hatte er ihr gleich angemerkt. Das Gespräch hatte sie dann zwar abgelenkt, aber sie war doch klar gezeichnet gewesen. Und das stand ihr jetzt auch noch bevor. Übermorgen.
Leise meldete sich John zu Wort:

When the night has come
And the land is dark
And the moon is the only light we see
No, I won't be afraid
No, I won't be afraid
Just as long as you stand
Stand by me.

Theo hatte weiter gesprochen. Aber er hätte genausogut zu John Wayne an der Wand reden können. Aaron horchte erst kurz auf, als Theo eine Pause machte. Doch das letzte Wort hatte er noch verstanden.

"Was ist am Donnerstag?"

"Da erfahren wir, was im Testament steht."

Wieder redete Theo weiter, aber auch jetzt hörte Aaron nicht zu. Den beschäftigte inzwischen ein neuer Gedanke. Das war ihm bisher gar nicht klar gewesen. Lisa konnte doch tatsächlich eine reiche Erbin sein! Wäre das jetzt eine gute oder eine schlechte Nachricht?








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