Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König
Kapitel 13
Kapitel 13: Revolver
Erst als die Tür ins Schloß fiel, wagte sie, die Augen zu öffnen. Gut, daß er endlich gegangen war. Heute morgen hätte sie Horsts zynische Bemerkungen auch nicht ertragen können. Es hatte ihr gestern schon gereicht. Angeblich konnte er es sich ja nicht leisten, seine 'professionelle Klarsicht' von Gefühlen trüben zu lassen. Wie immer verkroch er sich hinter seiner journalistischen Fassade. Früher hatte Lisa versucht, den Menschen dahinter zu entdecken, aber inzwischen hielt sie das ganze Gerede für einen einzigen Bluff, eine Art Legendenbildung. Hinter der Fassade, so glaubte sie jetzt, steckte gar kein anderer, sondern nur derselbe Mensch, den man auch täglich zu sehen bekam. Und zu hören!
Nicht einmal die Trauer der Frauen um Onkel Hannes konnte er unkommentiert lassen! Auch gestern abend hatte er immer wieder seine Witze gemacht. Dabei war niemandem hier im Haus zum Lachen zumute. Ihr ganz bestimmt nicht!
Der Ärger trieb ihr eine Träne ins Auge. Sie mußte dringend aufstehen und sich aufheitern. "Musik", war ihr erster Gedanke. Die Beatles hatten eigentlich immer geholfen.
Aber diesmal versagte das Allheilmittel. Als sie den Recorder angestellt hatte, wurde ihre Stimmung nur noch schlimmer.
And in her eyes you see nothing
No sign of love behind the tears
Cried For No One
A love that should have lasted years
Jetzt konnte Lisa sich nicht mehr beherrschen. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, während sie im Schrank nach ihren schwarzen Sachen suchte.
Als sie dann später angezogen vor dem Spiegel im Badezimmer stand, hatte sie sich wieder ein wenig beruhigt. Sie fragte sich, was sie eigentlich betrauerte. War es wirklich nur Onkel Hannes' Tod oder doch eher das Ende ihrer Illusionen, was sie so erschütterte? Vielleicht hatte der plötzliche Tod ihres Onkels ihr ja endlich die Augen über ihr eigenes Leben geöffnet.
Ja, sie hatte sich falsche Vorstellungen gemacht! Von Horst ganz bestimmt. Aber diese Beziehung war nicht die einzige, die ihr entglitt. Auch zu Malchen fand sie keinen Draht mehr. Hatte sie sich da auch getäuscht, wenn sie Malchen immer als eine Schwester gesehen hatte? Heute war sie ihr total fremd geworden. Alle Versuche, die alte Vertrautheit wieder herzustellen, waren gescheitert. Dann hatte Lisa sich bemüht, die Beziehung zu Diana zu verbessern. Auch das war ihr nicht gelungen. Diana war zuletzt sogar richtig feindselig geworden.
Hatte sie denn früher alles falsch gesehen?
Nicht Onkel Hannes! Er war wirklich ein Vater für sie gewesen, mehr jedenfalls als ihr eigener Vater, an den sie sich gar nicht mehr richtig erinnern konnte. Aber Onkel Hannes war nicht mehr!
Und deshalb war sie hier auch nicht mehr zuhause. Sie hätte doch Montag schon abreisen sollen! Was wollte sie noch hier?
Die Polizei hatte sie gebeten, noch zu bleiben. Konnte es sein, daß die Polizisten sie verdächtigten? Auch Horst hatte ihr zugeredet. Das war komisch. Wenn sie ihn früher überhaupt mal hier ins Haus bekommen hatte, war er immer so schnell wie möglich wieder verschwunden. Und diesmal wollte er unbedingt da bleiben?
Etwas Gutes hatte es allerdings, daß sie geblieben war. So hatte sie Aaron kennengelernt. Er war das einzig Erfreuliche in den letzten Tagen gewesen.
Der Gedanke an ihre neue Bekanntschaft stimmte Lisa etwas freundlicher mit der Welt. Sie fühlte sich jetzt stark genug, nach unten zu gehen. Aber als sie schon an der Treppe stand, hörte sie Diana rufen:
"Lisa, kommst du mal?"
Lisa ging in Dianas Zimmer. Diana stand mitten im Raum, noch immer mit ihrem altmodischen Schlafanzug bekleidet. Sie sah ihrer Cousine hilfesuchend entgegen.
"Ich weiß gar nicht, was. - Was soll ich denn bloß. - Bloß anziehen."
Die Worte kamen nur schwerfällig und mit großer Anstrengung über ihre Lippen. Schnell war Lisa bei ihr, legte ihr einen Arm um die Schulter und sagte beruhigend:
"Keine Angst, das kriegen wir schon hin."
Sanft dirigierte sie die Ältere zu ihrem Kleiderschrank, öffnete ihn und suchte mit sicherem Blick geeignete Kleidungsstücke heraus. Angesichts des jammervollen Zustands ihrer Cousine war ihre eigene Verzweiflung sofort in den Hintergrund getreten. Während sie ihr half, sich anzuziehen, dachte sie nach. Wenn Diana jetzt schon so völlig neben sich stand, wie sollte sie dann bloß die Beerdigung überstehen? Lisa mußte etwas finden, um sie aus ihrer Apathie zu holen und abzulenken. Da fiel ihr wieder Aaron ein.
"Hast du mal in die Bücher reingeschaut, die ich dir mitgebracht hab?"
"Welche Bücher?"
Lisa sah sich um. Der Stapel Bücher, den Aaron ihr gestern gegeben hatte, lag noch immer unberührt auf dem Tisch.
"Na, die da! Weißt du nicht mehr? Für deine Freundin in den Staaten."
"Francine? Was ist mit Francine? Kommt sie her?"
"Nein! Du wolltest doch neulich einen historischen Stadtführer kaufen und hast keinen gefunden. Ich hab mich ein bißchen für dich umgehört. Genau das, was du suchst, gibt es zwar nicht. Aber die Bücher hier gehen alle in die Richtung. Vielleicht kannst du ja damit was anfangen."
"Wo hast du die denn her?"
"Ich hab mal in der Lessing-Akademie nachgefragt. Und die haben mich dann zu einem Mann weitergeschickt, der mir geholfen hat. Der wußte sofort, was ich meine. Stell dir nur vor, er plant sogar selbst, so etwas zu schreiben!"
"Ach!"
"Ja, und überhaupt, das ist nicht sein einziges Projekt. Einen diachronen Stadtplan will er entwerfen, eine Stadtsemiotik! Du würdest staunen, was er alles für Pläne hat."
Lisa mußte lächeln, als sie an das Gespräch im Park dachte. Aaron war so voller Leben, wenn er von seinen Plänen sprach. Seine Augen leuchteten dann wie bei einem Kind zu Weihnachten. Sie hatte erst nur amüsiert zugehört, denn von den Details, die er beschrieb, hatte sie nicht viel verstanden. Aber nach und nach war sie von seiner Begeisterung angesteckt worden.
Diana hatte sich nicht von der Laune ihrer Cousine anstecken lassen. Sie starrte schon wieder unberührt vor sich hin. Anscheinend war nur ein Wort zu ihr durchgedrungen.
"Pläne? Was hast du denn jetzt für Pläne?"
"Ach, ich geh zurück nach Braunschweig. Vielleicht auch ein paar Tage Urlaub. Oder soll ich noch hierbleiben und dir helfen?"
"Nein, nein, ist nicht nötig. Ich hab ja Malchen. Und Gustav kümmert sich doch auch um mich."
"Was willst du denn jetzt mit dem Haus machen? War für euch drei ja schon zu groß. Und jetzt hängen auch noch die Erinnerungen dran."
"Ja, wär vielleicht das beste, ich verkauf es. Kann sein, Gustav will es haben. Nach dem Grundstück am Bach hat er schon gefragt. Das hätte er gern."
"Steht da nicht das Gartenhaus?"
"Ja, aber das braucht doch keiner mehr. Ist eigentlich nur noch ein Spielplatz für Rollo."
"Ich find das ja ein bißchen seltsam, wie besorgt Herr Kleist plötzlich um dich ist. Paß mal auf! Nicht, daß er hinter deinem Geld her ist. Schließlich gehört dir doch jetzt alles."
"Ach, so viel wird's schon nicht sein. Wenn ich das Haus verkaufe, geb ich natürlich Malchen auch was ab. Die weiß ja jetzt auch nicht, wohin."
"Denk mal zuerst an dich! Was aus dir wird. Malchen kann schon für sich selbst sorgen.
Hat sie vielleicht schon getan!"
"Was soll das denn heißen? Was machst du denn da für seltsame Andeutungen?"
Endlich war es Lisa gelungen, Diana aus ihrer Teilnahmslosigkeit herauszuholen. Aber so war es eigentlich nicht gedacht gewesen. Ob sie vielleicht selber einen Verdacht gegen Malchen hatte und deshalb so aufgeregt reagierte?
Der Gegenstand des Streits, der gerade zwischen den beiden Frauen zu entbrennen drohte, saß unterdessen schon fertig gekleidet für die Beerdigung im Wohnzimmer. Das Kostüm hatte sie sich gestern noch extra von einer Freundin aus der Stadt besorgt. Es saß ein wenig zu eng, und der Rock kam ihr sehr kurz vor. War das nicht unpassend für diesen Anlaß?
Sie zupfte an den Kleidungsstücken herum und warf dabei verstohlene Seitenblicke auf Horst, der ihr Gesellschaft leistete. Er sollte nicht bemerken, daß die Sachen nur geliehen waren und gar nicht richtig paßten. Aber Horst war weit davon entfernt, irgend etwas zu bemerken, das mit Kleidung zu tun hatte. Er selbst war genauso angezogen wie immer, und an Malchen fiel ihm nur auf, daß sie ihm heute noch mehr auf die Nerven ging als sonst. Sie war richtiggehend hektisch, sprang immer wieder auf, lief zur Schrankwand, sortierte irgendwelchen Nippes um, setzte sich wieder hin und sprang erneut auf. So langsam wurde es ihm zuviel.
"Kannst du dich nicht mal hinsetzen und sitzen bleiben?"
"Ich weiß auch nicht. Ich bin heute ganz ruhelos, sozusagen."
Jetzt blieb sie zwar auf ihrem Sessel, hantierte aber mit den Gegenständen auf dem Tisch herum. Horst ließ einen mißbilligenden Seufzer hören, den sie aber ganz falsch verstand.
"Du freust dich auch nicht gerade auf die Beerdigung, was?"
"Nicht wirklich."
"Aber du kennst sowas ja. Hast du doch bestimmt schon oft mitmachen müssen, berufsmäßig sozusagen."
"Sozusagen, ja. - Nein, eigentlich nicht. Vor solchen Feiern drück ich mich immer gerne."
"Nein, wirklich?"
"Wirklich. 'Laßt die Toten ihre Toten begraben!'"
"Liebe Güte! Wie du das immer so ausdrücken kannst!"
"Steht doch in der Bibel."
Malchen machte große Augen. Daß ausgerechnet Horst aus der Bibel zitierte, verblüffte sie. Wo doch Diana immer sagte, daß der bestimmt an gar nichts glaubte. Das Erstaunen schloß ihr aber keineswegs den Mund. Sie plauderte munter drauflos. Es schien, daß sie ihre Betriebsamkeit von eben jetzt vollständig in Sprache umgesetzt hatte. Horst schaltete auf Durchzug und knurrte nur gelegentlich vieldeutig.
Er dachte über Lisa nach. Es sah beinahe so aus, als könnte er seinen Einfluß auf sie verlieren. Sie wurde immer aufmüpfiger. Bestimmt hing das mit diesem Akademie-Lümmel zusammen, den sie gestern getroffen hatte. Wenn er nicht aufpaßte, würde sie ihm noch von der Stange gehen.
Vielleicht war es ja nicht ungeschickt, wenn er sich für alle Fälle ein weiteres Eisen im Feuer sicherte. Er blickte auf Malchen. So übel sah sie eigentlich gar nicht aus, wenn sie mal ordentlich angezogen war. Nur dieses Geplapper mußte man ihr abgewöhnen. Dringend. Er stand auf und schaltete das Radio an. Doch Malchens Stimme wurde sofort entsprechend lauter:
"... hätte ich vielleicht sogar Karriere machen können."
"Na, das kannst du doch immer noch."
"Liebe Güte! Nein! Jetzt bin ich doch zu alt dafür."
"Aber gar nicht! Ein gewisses Maß an Erfahrung macht die Menschen doch erst interessant. Auch Models. Das sieht man heute ganz anders als früher."
Ohne daß er richtig zugehört hatte, war es Horst problemlos gelungen, in Malchens Gedankengänge einzusteigen. Er erzählte ihr etwas über die aktuelle Modeszene, die er gar nicht kannte, und ließ Andeutungen über seine vielfältigen Kontakte dort fallen. Malchen war beeindruckt. Aber das war sie eigentlich immer, wenn Horst mit ihr redete.
Dem war es inzwischen gelungen, das Gespräch auf das Haus und seine Besucher zu lenken. Besonders an Herrn Nicolai schien er interessiert zu sein.
"Was wollte der bloß ständig hier?"
"Tja, das weiß ich nun auch nicht. Er hat immer mit Onkel Hannes konferiert, sozusagen. In der Bibliothek haben sie meistens gesessen."
"Das weiß ich ja auch. Aber worüber haben sie 'konferiert'?"
"Muß irgendwas mit dem Haus zu tun gehabt haben. Sie sind auch auf dem Grundstück herumgelaufen. Und im Gartenhaus waren sie."
"Sag bloß! Was wollten sie denn da?"
"Keine Ahnung. Aber Onkel Hannes war dann auch noch ein paarmal alleine da. Ich glaub, er hat etwas gesucht."
"A propos 'gesucht'. Habt ihr denn schon ein Testament gefunden?"
"Das liegt doch bei Dr. Zacharias! Weißt du das denn noch gar nicht? Wir sollen doch morgen alle da hin. Die Polizei will unbedingt wissen, was drin steht."
"Sieh mal an", dachte Horst. Das hatte Lisa ihm also verschwiegen. Was bildete die sich eigentlich ein? Daß sie ihn jetzt plötzlich abhängen könnte? Weil Malchen auf einmal auch still war, konnte man die Musik aus dem Radio zum ersten Mal deutlich hören:
She said I know what it's like to be dead
I know what it is to be sad
And she's making me feel like I've never been born.
I said who put all those things in your head
Things that make me feel that I'm mad
And you're making me feel like I've never been born
Als Lisa später zusammen mit Diana ins Wohnzimmer kam, konnte sie gerade noch sehen, wie Horst und Malchen sich ruckartig voneinander entfernten. Malchens Gesicht war leicht gerötet, und sie hielt den Blick gesenkt. Schuldbewußt, wie Lisa glaubte. Horst hingegen lächelte seiner Verlobten herausfordernd entgegen. Lisa sagte:
"Was habt ihr denn da für Heimlichkeiten?"
"Ein Schuft, der Böses dabei denkt!"
"Wer hier der Schuft ist, liegt ja wohl auf der Hand."
"Lisa, du bist ungerecht! Horst hat mich nur beraten, karrieremäßig sozusagen."
"Was mag das wohl für eine Karriere sein? Als Nachwuchs-Hexe im Denver-Clan?"
"Liebe Güte! Du solltest dich mal im Spiegel sehen, wie häßlich du aussiehst, wenn du eifersüchtig bist!"
"Eifersüchtig auf dich? Daß ich nicht lache!"
Horst schien sich bestens dabei zu amüsieren, wie die beiden Frauen aufeinander losgingen. Aber er hatte sich zu früh gefreut.
"Du brauchst gar nicht so selbstgefällig zu grinsen! Schäm dich, einer hilflosen Dorftussi den Kopf zu verdrehen!"
"Liebe Güte! Das nimmst du aber zurück! Ich bin keine -"
"Wo wir gerade beim Köpfeverdrehen sind. Was ist denn mit diesem Akademie-Lümmel, von dem du neuerdings immer rumblubberst? Häh?"
"Herr Schmitt ist ein -"
"Herr Schmitt, wie einfallsreich!"
"- hilfsbereiter,"
"Das glaub ich!"
"netter, junger Mann."
"Ein Windbeutel ist er. Ich hab ihn doch selber gestern getroffen."
"Was? Du schleichst mir hinterher? Und ich soll eifersüchtig sein?"
"Ich schleich dir nicht hinterher. Ich hab ihn zufällig getroffen. Und Eifersucht kenn ich gar nicht. Ich -"
Jetzt war es Diana genug. Die ganze Zeit hatte sie am Fenster gestanden und hinausgestarrt. Nun drehte sie sich um und ging dazwischen:
"So hört doch endlich auf! Bitte! Laßt uns doch heute nicht streiten!"
Malchen beeilte sich, Diana zuzustimmen:
"Du hast recht. Außerdem müssen wir ja auch los!"
Lisa beruhigte sich nur mühsam, stand aber dann doch auf und folgte den beiden zur Tür. Horst blieb sitzen.
"Geht ihr schon mal. Ich muß noch eben einen Artikel fertig schreiben und durchgeben. Ich komm dann nach."
"Kannst du nicht wenigstens einmal -"
"Ich bin dann noch rechtzeitig da! Keine Angst! Außerdem wird Herr Burckhardt schon nicht weglaufen."
Abrupt drehte sich Lisa um und ging hinaus. Diana folgte ihr. Malchen warf Horst noch einen wissenden Blick zu, ehe auch sie das Zimmer verließ.
Horst entspannte sich. Endlich allein!
Mein Gott, war das anstrengend mit drei Frauen in einem Haus! Er sollte doch machen, daß er so bald wie möglich hier wegkam! Aber vorher hatte er noch einiges zu regeln. Und er mußte aufpassen, denn die Dinge schienen zunehmend komplizierter zu werden.
Seit dieser Herr Schmitt auf den Plan getreten war, wurde Lisa immer zickiger. Und auch dessen Freund könnte ihm Ärger machen.
Seinen festen Job hatte er aufgegeben, und der große Coup, den er statt dessen landen wollte, drohte zu scheitern. Da könnte ihm sogar die Polizei noch dazwischen kommen.
Was schließlich genau im Testament stand, wußte er auch immer noch nicht.
Hoffentlich würden wenigstens Mendelssohn und Zacharias stillhalten, bis er soweit war.
Rollo räumte seine Stoffkatze nun schon zum dritten Mal aus einer Ecke seiner Hütte in die andere. Sie sah reichlich mitgenommen aus. Ein Bein fehlte ganz, und ein Ohr hing nur noch am seidenen Faden.
Ihr demoliertes Aussehen hatte sie nicht etwa der Behandlung von Rollo zu verdanken. Das war die Folge eines Eingreifens der Wolfenbütteler Ordnungsmacht, die von ihrem Gewaltmonopol Gebrauch gemacht hatte. Der betreffende Polizist war wohl selbst am meisten erschrocken über seinen Fehlschuß gewesen. Trotzdem war er am nächsten Tag zum Dienststellenleiter bestellt worden. Dort hatte er sich einen Vortrag über die Bewaffnung von Schwachsinnigen anhören müssen, der sich gewaschen hatte. PM Wetzlaff würde sicher so schnell nicht wieder zu seiner Dienstwaffe greifen!
Der Katze hatte das nicht mehr geholfen, aber Rollo liebte sie deswegen auch nicht weniger. Im Augenblick jedoch war er gar nicht wirklich bei der Sache. Die Räumaktion war vielmehr ein Anzeichen dafür, daß sein ganzes Weltbild drohte, aus den Fugen zu geraten.
Er hatte seine Aufgabe immer darin gesehen, Ruhe und Ordnung auf dem Hof aufrechtzuerhalten und die Bewohner des Hauses zu beschützen oder sonstwie zu beschäftigen.
Seit der Ganter weg war, war die erste Aufgabe zur bloßen Routine verkommen. Er trabte zwar immer noch mehrmals täglich über das Gelände, um den verbliebenen Tieren zu zeigen, daß er alles unter Kontrolle hatte. Tagesfüllend war das aber nicht. Und so hatte er sich seither mehr dem zweiten Aufgabenbereich gewidmet.
Doch heute war das Haus leer. Alle Bewohner und Besucher waren weg. Das hatte es noch nie gegeben. Was erwartete man nun von ihm? Sollte er etwa das leere Haus bewachen?
Völlig verunsichert entschloß er sich, für alle Fälle einen Kontrollgang über das Grundstück zu machen. Seine Katze nahm er vorsichtshalber mit.
Er trottete quer über den Hof und wollte gerade den Hühnern einen Besuch abstatten, als ihm eine menschliche Witterung in die Nase stieg. Ruckartig blieb er stehen und drehte sich in den Wind. Ja, es war ganz deutlich. Da näherte sich jemand dem Haus.
Er lief dem Geruch entgegen, und als er um die Hausecke kam, sah er ihn. Es war der Fremde, der in letzter Zeit gelegentlich zu Besuch gewesen war. Er betrat das Grundstück, ging jedoch nicht auf die Tür zu, sondern wollte anscheinend ums Haus herum.
Rollo mochte diesen Menschen nicht. Trotzdem hatte er ihm schon oft erlauben müssen, sich hier zu bewegen. Also war es wohl in Ordnung, daß er da war. Aber galt das auch jetzt, wo alle anderen weg waren?
Um keinen Fehler zu machen, entschied Rollo sich, dem Fremden vorsichtig entgegenzugehen. Er sollte zumindest wissen, daß er beobachtet wurde. Rollo machte ein paar Schritte auf ihn zu und versuchte, furchterregend zu knurren. Mit der Katze im Maul war das gar nicht so einfach, aber er tat sein Bestes. Der Fremde erschrak auch zunächst, hatte sich jedoch schnell wieder gefangen und bückte sich, um etwas vom Boden aufzuheben.
Als der erste Stein nur haarscharf an Rollos Kopf vorbeisauste, hielt er den geordneten Rückzug für angeraten. Immerhin mußte er noch für seine Katze sorgen und konnte deshalb schlecht kämpfen. Wie stets, wenn es gefährlich wurde, zog Rollo sich in das Gartenhaus zurück. Doch das war diesmal eine schlechte Wahl, denn aus seiner Deckung heraus konnte er sehen, daß der Fremde genau darauf zuging. Was nun?
Er mußte wohl oder übel das Haus wieder verlassen. Aber vorher brachte er noch seine Katze in das Versteck zu seinen anderen Schätzen. Da war sie bis jetzt immer sicher gewesen. Dann überließ er das Gartenhaus vorläufig dem Feind und zog sich weiter zurück zum Bach.
Mit diesem strategischen Vorteil war der Fremde allerdings wohl nicht zufrieden, denn er bückte sich schon wieder nach neuen Steinen. Kurz entschlossen sprang Rollo in den Bach. Er war zwar kein großer Schwimmer, doch während seiner Scharmützel mit dem Ganter hatte er auch das lernen müssen. Vom anderen Ufer her sah er dann, wie der Fremde ins Gartenhaus ging. Hoffentlich blieb die Katze unentdeckt!
Was war jetzt zu tun? Er entschloß sich, einen kleinen Ausflug auf das Nachbargrundstück zu machen. Nach ein paar Schritten nahm er die Spur eines anderen Menschen auf. Der war auch schon im Gartenhaus gewesen, und er hatte viel mit seinem Lieblingsmenschen geredet. Vielleicht waren die beiden ja jetzt auch zusammen.
Rollo folgte der Fährte, bis er an ein großes Haus kam. Der Mann, dessen Spur er verfolgt hatte, saß draußen auf einer Bank. Von seinem Lieblingsmenschen war nichts zu sehen oder zu riechen.
Rollo lief am Haus vorbei und dehnte seinen Ausflug in das benachbarte Wäldchen aus. Hier gab es so viele interessante Gerüche aufzunehmen und zu verfolgen, daß er lange Zeit beschäftigt war. Die Sonne stand schon sehr hoch, als er schließlich zum Haus zurückkehrte.
Am anderen Ufer des Bachs merkte er sofort, daß etwas ganz entschieden nicht stimmte. Der Geruch des Fremden war immer noch da, aber er hatte sich furchterregend verändert. Der Schrecken sträubte ihm die Nackenhaare. Hilflos winselnd machte er einen großen Bogen um das Gartenhaus und lief zum Tor.
Von den vielleicht 50 Gästen, die noch mit zum Kaffeetrinken in den 'Eichelhäher' gekommen waren, blieben am Ende nur noch Forstrat Mendelssohn und Anwalt Zacharias übrig. Sie standen mit Horst an der Theke und tranken Magenbitter. Diana gab das Zeichen zum Aufbruch.
Gott sei Dank! Lisa ging schnell zum Auto, froh, daß es endlich vorbei war. Irgendwie hatte sie die ganze Zeit befürchtet, daß noch etwas Unangenehmes passieren könnte. Aber alles war gut gegangen. Eine sehr schöne Trauerfeier war es gewesen mit erstaunlich vielen Besuchern. Und die Idee, mit den Trauergästen nach der Beerdigung in Kleists Kneipe zu gehen, hatte sich auch als richtig erwiesen. So würden sie wenigstens gleich im Haus ihre Ruhe haben. Erleichtert setzte Lisa sich in ihr Auto. Ein Griff ans Armaturenbrett, und vertraute Musik ertönte:
Father McKenzie,
Writing the words of a sermon that noone will hear
Noone comes near.
Look at him working,
Darning his socks in the night when there's nobody there.
What does he care?
All the lonely people,
Where do they all come from?
Sie hielt Ausschau nach den beiden Frauen. Vergebens. Statt dessen sah sie zunächst Horst aus der Kneipe kommen. Zum Glück ging er zu seinem eigenen Auto. Lisa war froh, ihn jetzt nicht um sich haben zu müssen. Obwohl sie es für unverantwortlich hielt, daß er noch selber fahren wollte. Die Feier hatte zwar Kaffeetrinken geheißen, aber Horst hatte hauptsächlich Hochprozentiges zu sich genommen. Sie wünschte ihm, daß er einmal bei seinen alkoholisierten Autofahrten erwischt würde. Doch das passierte nie. Und er hielt das auch noch für selbstverständlich. Horst setzte sich in sein Auto und begann, am Handschuhfach zu hantieren. Warum fuhr er denn nicht schon los?
Endlich kamen Diana und Malchen. Malchen war erstaunlicherweise inzwischen auch gezeichnet von den Ereignissen. Bei der Beerdigung war sie immer kleiner geworden, und auch am Kaffeetisch hatte sie kaum den Mund aufbekommen. Bei Diana hingegen schien die ganze Aufregung sich jetzt körperlich niederzuschlagen. Sie stützte sich schwer auf Malchen. Dabei redete sie die ganze Zeit beruhigend auf die Jüngere ein. Malchen war zwar körperlich fit, schien aber seelischen Halt zu benötigen.
Sie stiegen beide hinten ins Auto ein, und Lisa fuhr los. Hinter ihr setzte sich auch Horsts Wagen in Bewegung. Lisa dachte: "Hoffentlich fährt er wenigstens gleich zum Haus." Die Frauen wollten noch einmal zum Friedhof.
Diana redete weiter halblaut mit Malchen. Das erste, was die sagte, war:
"Warum ist denn nur der nette Herr Nicolai nicht da gewesen?"
"Na, ich bin froh, daß ich den nicht mehr sehen muß! Mit dem hat doch das ganze Unglück angefangen."
"Liebe Güte, Diana! Herr Nicolai kann doch nichts dafür!"
"Weißt du's? Gustav hat auch gesagt, wir sollen uns nicht wundern, wenn der noch etwas über Hannes ausgräbt. Er wühlt ja ständig in der Vergangenheit herum."
"Komisch, daß den alle für so gefährlich halten. Sogar Horst hat Angst vor ihm."
Als sie das sagte, kam Malchen ein Gedanke. Eigentlich müßte sie das doch ausnutzen können. Sie überlegte, während Diana weiter über Gustav Kleist und seine guten Absichten redete. Lisa hatte aufgehorcht und wollte noch nachfragen, aber da waren sie schon angekommen, und alle verstummten.
Auf den Friedhofswegen wurden Dianas Schritte immer schwerer. Sie mußte sich wieder auf Malchen stützen. Lisa ging alleine hinterher.
Dann standen sie vor dem Grab.
Lisa dachte, wie seltsam es gewesen war, daß niemand während der ganzen Feier davon geredet hatte, wie Burckhardt gestorben war. Alle hatten so getan, als ob es ein ganz normaler Tod gewesen wäre.
Malchen dachte daran, daß sie jetzt ohne Onkel Hannes nur noch Diana hatte. Sie mußte alles tun, um wenigstens die zu behalten.
Diana dachte: "Bei dem Wetter werden die Blumen nicht lange halten. Schade."
Auf dem Rückweg ging Lisa vor. Diana sagte:
"Wo ist denn Horst abgeblieben?"
"Der ist hoffentlich schon im Haus und schläft seinen Rausch aus."
"Liebe Güte! Horst war doch nicht der einzige, der was getrunken hat. Denk nur mal, was allein der Förster so alles weggekippt hat!"
"Welcher Förster?"
"Na, der hat doch noch zuletzt mit Horst an der Theke gestanden."
Diana sagte: "Da war doch auch unser Anwalt dabei. Wußte gar nicht, daß Horst den kennt."
Lisa schloß den Wagen auf und stieg ein. Die beiden anderen blieben noch einen Moment draußen stehen und redeten weiter. Lisa konnte nicht verstehen, um was es ging. Als sie dann im Wagen saßen, sagte Diana:
"Was meinst du, Lisa? Weiß Horst etwas, das er uns nicht sagt?"
"Ganz bestimmt! Auf jeden Fall weiß er mehr, als gut für ihn ist."
Der Ärger über Horst kam bei Lisa wieder hoch. Erst ganz am Schluß war er auf der Beerdigung erschienen. Der Pfarrer hatte schon den letzten Segen gesprochen. Dann hätte er auch gleich ganz wegbleiben können. Da fiel ihr etwas ein. Sie drehte sich kurz zu den beiden um und sagte:
"War eigentlich Herr Kleist gar nicht auf der Beerdigung?"
"Das ging nicht. Er mußte doch in der Wirtschaft alles für das Kaffeetrinken vorbereiten. Sonst wär er bestimmt gekommen."
Malchen war anderer Meinung:
"Als ob der selbst auch nur einen Tisch gedeckt hätte! Nein, Lisa, du hast ganz recht. Das gehörte sich nicht. So ein Streit darf doch nicht über den Tod hinausreichen, sozusagen."
"Du bist ungerecht, Malchen", antwortete Diana. "Nur weil Gustav dich nicht so beachtet, denkst du, er wäre schlecht."
"Ach was, deshalb nicht. Aber dieses ganze Gerede über Vergangenes, das Herr Nicolai ausgraben will. Kleist tut gerade so, als ob Onkel Hannes etwas zu verbergen hatte. Dabei ist er es doch, der sich da fürchten müßte."
"Malchen, du kennst Gustav doch gar nicht richtig. Du wirst ihn schon noch mögen. Warte nur ab!"
Malchen konnte nichts mehr erwidern, denn sie waren inzwischen angekommen, und Lisa hatte den Wagen geparkt. Während die beiden aus dem Auto stiegen, hörte Lisa noch einmal auf die Musik.
Tell me that you've heard every sound there is
And your bird can sing
But you can't hear me
You can't hear me
Sie sah durch die Scheiben. Das Haus wirkte irgendwie seltsam. So verlassen. Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und ließ alles ein wenig unwirklich erscheinen. Als sie dann den Radiorecorder ausgestellt hatte, merkte sie, daß ringsum totale Stille herrschte. Kein Vogel war zu hören, auch nicht die anderen Tiere des Hauses. Nur ein Geräusch drang durch die Ruhe, das die drei vorher noch nie gehört hatten. Es klang fast wie das langsame Öffnen einer schlecht geölten Tür. Was war das nur?
Und warum stand Horst vor dem Tor und ging nicht hinein? Er kam auf sie zu.
"Ich bin extra nicht reingegangen. Daß ihr nicht denkt, ich bin schuld an Rollos Zustand."
Jetzt sahen sie Rollo. Er lag am Boden, hatte seine Schnauze unter die Vorderpfoten gesteckt und winselte ganz erbärmlich. Das war also dieses seltsame Geräusch gewesen.
Als sie alle gemeinsam durch das Tor gegangen waren, wurde Rollo still und lugte unter seinen Pfoten hervor. Er stellte sich auf die Beine, war dann mit einem Satz bei Diana und sprang an ihr hoch. Diana hatte im ersten Moment geglaubt, Rollo wäre verletzt oder krank, aber er schien körperlich ganz in Ordnung zu sein, nur so aufgeregt, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Anstatt zu winseln, bellte er jetzt aus Leibeskräften. Seine Stimme überschlug sich fast, und er zitterte am ganzen Körper.
Diana versuchte, ihn zu beruhigen, aber nichts, was sie auch sagte oder tat, hatte Erfolg. Schließlich ließ er von ihr ab und lief ein paar Meter in Richtung Hof, kam dann jedoch wieder zurück, um erneut an ihr hochzuspringen. Als Diana ihm zwei Schritte folgte, wiederholte er das und näherte sich dabei weiter der Hausecke. Lisa sagte:
"Er will dir etwas zeigen. Vielleicht ist was mit den Hühnern passiert."
Diana wandte sich an Malchen: "Ich schaff das jetzt nicht. Kannst du nicht mal nachsehen, was los ist?"
Malchen schwankte zwischen der Bereitschaft, der Älteren zu helfen, und ihrer Abneigung gegen Rollo. Schließlich nickte sie mißmutig und ging in die Richtung, die Rollo anzeigte. Der war nicht zufrieden damit, daß sein Lieblingsmensch ihm nicht folgen wollte, und sprang eine Weile zwischen Diana und Malchen hin und her. Doch als er merkte, daß Diana aufs Haus zuging, begnügte er sich schließlich damit, daß überhaupt irgendwer bereit war, ihm zu helfen. Widerwillig folgte Malchen ihm. Die anderen gingen ins Haus.
Malchen hatte den Verdacht, daß Rollo sich vernachlässigt fühlte und nur spielen wollte. Aber wenn sie jetzt nicht wenigstens eine Weile hinter ihm herlief, würde Diana gleich keine Ruhe haben. Und die brauchte sie doch so dringend. Leise Verwünschungen murmelnd ging sie weiter hinter dem Hund her.
Der lief geradewegs zum Bach und blieb in sicherem Abstand vor dem Gartenhaus stehen. Als Malchen näher kam, ging er etwas weiter an das Haus heran und bellte lauthals in Richtung Tür. Was konnte da schon Schlimmes sein?
Malchen ging zur Tür und öffnete sie, um Rollo hineinzulassen. Aber der blieb an der Schwelle stehen und ging keinen Schritt weiter. Er hörte auf zu bellen und knurrte in den Raum mit aufgestellten Nackenhaaren. Malchen trat auf die Schwelle.
Der Geruch traf sie wie ein Schlag. Es war eine seltsame Mischung aus dem Dunst, wie er zu Sylvester in den Straßen hing, und den beißenden Schwaden, die im Sommer aus Schlachthäusern entwichen. Über all dem lag eine süßliche Obernote, die sie an Honigkerzen erinnerte, aber viel intensiver war.
Sie ging einen Schritt in den Raum und blinzelte in das leichte Dämmerlicht, das drinnen wegen der verdreckten Fensterscheiben herrschte. Das erste, was sie wahrnahm, war das viele Blut, das sich am Boden gesammelt hatte. Dann sah sie verstreute Papiere, zum Teil auch mit Blut bedeckt, und ein umgeworfenes Glas, aus dem eine andere Flüssigkeit gelaufen war.
Etwas weiter hinten im Raum saß Herr Nicolai auf einem Lehnstuhl. Seine Arme hingen rechts und links herunter. Sie waren geöffnet, als ob er sie willkommen heißen wollte. Nur wenig von seiner rechten Hand entfernt lag eine altertümliche Pistole, die ihm entglitten zu sein schien. Herr Nicolai war tot.
Malchens Herzschlag drohte auszusetzen. Ihr stockte der Atem. Aber sie konnte nicht weglaufen, sondern mußte den Blick heben und in sein Gesicht sehen. Viel war davon nicht mehr zu erkennen. Die Kugel war durch sein rechtes Auge in den Kopf gedrungen und hinten wieder ausgetreten. Der ganze Kopf und die Lehne des Stuhls waren voll Blut.
Mit einem lauten rasselnden Geräusch, das sie zuerst bei dem Toten vermutete, kehrte ihre Atmung wieder. Aber auch jetzt konnte sie nicht weglaufen. Sie mußte bleiben und wurde auf einmal ganz ruhig. Sie wunderte sich selbst darüber. Gleichsam unbeteiligt sah sie sich weiter im Raum um. Auf dem Tisch stand eine Flasche Wein, und ein Buch lag aufgeschlagen daneben. Sie konnte am Kopf der Seiten den Namen 'Lessing' lesen. Unter dem Buch lagen weitere Papiere. Ihr Blick wanderte wieder zurück zu dem Toten. In seinem Schoß lag auch ein Papier. Sie traute sich nahe genug an die Leiche heran, um es aufzunehmen. Seltsamerweise war es von dem Blut, das sonst beinahe überall hingespritzt war, verschont geblieben.
Sie ging mit dem Blatt hinaus vor die Tür. Rollo hatte sich etwas weiter entfernt und schien sich langsam zu beruhigen. Sie sah auf das Blatt und las:
Ach Gott! die Kunst ist lang,
Und kurz ist unser Leben.
Mir wird, bei meinem kritischen Bestreben,
Doch oft um Kopf und Busen bang.
Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben,
Durch die man zu den Quellen steigt!
Und eh' man nur den halben Weg erreicht,
Muß wohl ein armer Teufel sterben.
Amalia faltete den Zettel so lange zusammen, bis er nicht größer war als ein Streichholzheftchen. Dann steckte sie ihn in ihre Jackentasche.
Weiter mit Kapitel 14