Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König
Kapitel 16
Kapitel 16: Draufgänger
Das Klopfen an der Tür wurde immer eindringlicher. Ich würde es nicht mehr lange ignorieren können. Da draußen war etwas, das hereinkommen würde, so oder so. Ich wußte nicht, was es war, aber es war böse. Es wollte zu mir. Und ich konnte ihm nicht entgehen. Lähmende Angst kroch in meinen Körper, brannte mir ihre Spuren in die Eingeweide. Verzweifelt kämpfte ich darum, einen klaren Gedanken zu fassen, aber mein Geist pulsierte nur noch im Rhythmus meines Bluts. „Lauf weg, lauf weg“, hämmerte es mir ins Hirn. Aber einen Fluchtweg gab es nicht.
Also nahm ich all meinen Mut zusammen und ging zur Tür, um mich der Bedrohung zu stellen. Mein Herz schlug bis zum Hals und übertönte beinahe das Klopfen. Es war jetzt zu einem ununterbrochenen Stakkato geworden und ließ das Holz vibrieren. Ich drückte die Klinke herunter, und das Böse schob sich mir entgegen.
Schweißgebadet wachte ich auf und sah mich um. Das Geräusch kam gar nicht von der Tür, sondern von der anderen Seite des Zimmers. Es war nur der Regen, der auf mein Dachfenster prasselte.
Erleichtert sank ich wieder in die Kissen. Mein Herzschlag war immer noch lauter als nötig, und die Angst saß fest in meinen Knochen. Nur langsam gelang es mir, sie zurück in ihr Versteck zu drängen.
Mechanisch griff ich zu meinem Tabakbeutel auf dem Nachttisch, um mir eine Zigarette zu drehen. Der Radiowecker erwachte mit einem Knistern zum Leben und Heinz Rudolf war zu hören:
Der Engel mit den tausend Augen wartet vor der Tür
er weiß daß ich zuhause bin ich weiß er will zu mir
ich bin dreitausend Jahre alt und schlafe nicht genug
warum hast du mich nicht erkannt als ich dein Zeichen trug
Sag mir wo ich hingehör
mach mir meine Fluchten schwer
zeig mir wo ich wirklich wohn
Der dichte Schleier des Regens ließ nur ein trübes Licht in mein Zimmer, und sein Trommelwirbel war auch das einzige Geräusch, das hereindrang. Draußen hatte ein weiterer Karfreitag angefangen, wie immer mit schlechtem Wetter.
Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Die Wasserstraße in Hornburg machte ihrem Namen alle Ehre. Der Regen hatte sich auf den Pflastersteinen zu Bächen formiert, die den Rinnsteinen zustrebten. Ansonsten bewegte sich dort nichts. Ein trostloser Anblick. Aber passend zu dem Tag. Mir fiel ein, daß heute außerdem noch der 13. war. Schöne Aussichten also.
Auch hinter Aarons Fenster war keine Bewegung zu sehen. Trotzdem zog ich mich an und ging hinüber.
Aaron war doch schon wach, aber beschäftigt. Zahlreiche Skizzen, Folien und Pläne füllten den Fußboden in seinem Zimmer. Mein Freund arbeitete an seinem diachronen Stadtplan und ließ sich auch nicht durch meine Anwesenheit dabei stören. Ich stand zunächst ein wenig irritiert herum. Dann machte ich mich bemerkbar:
„Hör mal, du weißt schon, daß wir jetzt eigentlich was vorhaben?“
„Wieso? Was denn?“
„Die Sömmerings besuchen, du Töffel!“
„Sömmerings? Ach so, ja. Hat das nicht noch Zeit?“
„Junge! Bist du denn überhaupt nicht neugierig?“
„Auf Verwandte von Nicolai? Nee! Sollte ich?“
Ich war baff. Aaron hatte offenbar vollkommen die Bedeutung des Namens 'Sömmering' vergessen. Dabei war er es doch selbst gewesen, der die Lebensgeschichte von Therocyklus ermittelt hatte. Ich erinnerte ihn daran, daß 'Sömmering' der bürgerliche Name des Alchimisten war. Sehr beeindruckt zeigte er sich trotzdem nicht.
„Du meinst, das mag etwas bedeuten?“
„Na klar! Therocyklus, Faust, Sömmering. Das hängt doch alles zusammen. Und die Sömmerings von heute wissen vielleicht was darüber.“
„Ja, möglich. Sag mal, war das nicht auch der Name auf dem Grabstein, bei dem wir Nicolai am Sonntag getroffen haben?“
„Genau. Und den gehen wir uns jetzt als erstes einmal richtig ansehen.“
„Kay. Ein Besuch auf dem Friedhof. Paßt ganz gut zu dem Feiertag.“
„Und zu dem Wetter.“
Wir parkten in der Nähe des Kornmarkts. Die Straßen waren menschenleer. Der ganze Ort wirkte wie ausgestorben. Sogar die sonst überall gegenwärtigen Tauben hatten sich vor dem Regen in Sicherheit gebracht. Wir beide waren die einzigen Lebewesen hier. Die Trinitatiskirche und die Häuserzeilen der Reichsstraße sahen aus wie die verlassenen Kulissen eines Hollywoodfilms. Es hätte ein Film über dunkle Zeiten gewesen sein müssen, denn die ganze Szenerie war in ein diffuses, trübes Licht getaucht. Manchmal drang ein wenig Sonne durch die dichten Wolken und erzeugte dann einen beinahe surrealen Effekt.
Aaron hatte trotz des Regens seine lila Sonnenbrille aufgesetzt. Das paßte zu dem unwirklichen Eindruck, den die Umgebung auf mich machte. Anders als ich blieb er dagegen unempfindlich für die Atmosphäre. Er war immer noch in den Zusammenhängen von historischen Stadtplänen gefangen und plauderte munter drauflos. Er redete über den Bahnhof, der hier früher gewesen sein sollte. Ich hörte nicht richtig hin.
Wir gingen durch die Kirche und überquerten den Herzogwall, um zum 'Stadtgraben' zu kommen. Auf den Wiesen waren die zahlreichen Osterglocken schon vorzeitig verblüht. Aber es gab außer uns keine Spaziergänger, die das hätte stören können. Kurz danach standen wir an dem Grabstein, der Nicolai interessiert hatte.
'Ewald Sömmering 1747 - 1781' lasen wir da.
Ein Vorfahre der heutigen Sömmerings also, und wie wir jetzt wußten, auch ein Vorfahre von Nicolai. Und ein Nachkomme von Therocyklus. Er hatte 200 Jahre später gelebt als der berühmte Alchimist.
Wir versuchten, die Inschrift auf dem Stein zu entziffern. Gemeinsam gelang es uns:
Ich bin, der ich war. Und ich werde sein, der ich gewesen.
Der Spruch gab uns Stoff zum Nachdenken auf der Fahrt in die Auguststadt, wo die Sömmerings unserer Zeit lebten. Ewald hatte wohl den Hang zum Okkulten von seinem berühmten Vorfahren geerbt. Oder sollte es zwischen den beiden noch eine andere Verbindung geben? Geheimnisvoll war ja auch Nicolai gewesen, der wiederum 200 Jahre später gelebt hatte. Und geheimnisvoll war er auch gestorben. Genau wie Therocyklus. Ewald Sömmering war auch nicht gerade alt geworden. Vielleicht ebenfalls ein gewaltsames Ende? Noch dazu in Lessings Todesjahr! Die Familiengeschichte der Sömmerings war jedenfalls nicht langweilig. Ich war gespannt, ob die noch lebenden Familienmitglieder genauso mysteriös waren wie ihre Vorfahren.
Wir kamen in die Schützenstraße und sahen das gesuchte Haus sofort. Es stand gleich neben der Brücke, die hier einen der zahlreichen Okerarme überquerte. Das Wasser schlängelte sich auf der anderen Straßenseite durch eine Kleingartenanlage. Auf mein Klingeln öffnete sich die Tür, und die vielleicht 70jährige Frau Sömmering stand vor mir und sah mich mißtrauisch an. Ich sagte ihr, daß wir ein paar Fragen zu ihrem Verwandten Georg Nicolai hätten, aber das machte keinen Eindruck auf sie.
„Und warum sollte ich Ihnen da antworten?“
„Nun, wir arbeiten mit der Polizei zusammen. Und wenn Sie jetzt nicht reden, kommen eben die Kriminalbeamten wieder.“
Da hatte ich wohl den falschen Knopf gedrückt. Jetzt wurde sie noch verschlossener. Komisch, in den Fernsehkrimis funktionierten solche Sprüche immer. Ich wollte mich schon mit einem kompletten Mißerfolg unserer Unternehmung abfinden, da mischte sich plötzlich Aaron ein.
„Entschuldigen Sie meine Neugier, Frau Sömmering, aber dieser Flußlauf neben ihrem Grundstück war doch früher noch nicht so befestigt, oder? Da haben Sie bestimmt Probleme bei Hochwasser gehabt.“
„Ganz recht, junger Mann. Das Grundstück ist früher Sumpfgebiet gewesen. Ursprünglich war das Haus sogar auf Stelzen gebaut.“
„Sagen Sie bloß! Ist davon noch etwas erhalten? Das interessiert mich sehr.“
Ich zog mich von der Türschwelle zurück und überließ Aaron das Feld, der die Frau sofort in eine angeregte Unterhaltung verwickelte. Ich drehte mir eine Zigarette und beobachtete die beiden. Nach einer Weile war ich mir nicht mehr sicher, ob Aaron nicht den Grund unseres Besuches vergessen hatte. Aber dann kam er schließlich doch noch zum Punkt. Er lenkte das Gespräch auf Nicolai, und wir erfuhren, daß er ein Neffe der alten Leute gewesen war, aber sie eigentlich nicht viel über ihn wußten. Auch warum er jetzt in Wolfenbüttel gewesen war, konnte die Frau nicht sagen. Allerdings könnte ihr Sohn da vielleicht etwas mehr wissen.
„Der Heinrich, der war immer ziemlich vertraut mit Georg. Die beiden hingen ja fast ständig zusammen.“
Leider konnten wir Heinrich Sömmering jetzt nicht sprechen, weil der in der nahen Natur unterwegs war. Er trainierte dort für einen bevorstehenden Laufwettbewerb. In zwei Wochen sollte der Herzog-Marathon stattfinden.
Mit der Aussicht, den aufstrebenden Sportler am Nachmittag im Garten antreffen zu können, verabschiedeten wir uns dann. Aaron nicht ohne Bedauern, denn er hätte das Haus noch gerne genauer besichtigt.
Am Nachmittag war das Wetter nicht besser geworden. Immerhin regnete es jetzt nur noch gelegentlich. Wir fuhren durch genauso leere Straßen wie am Vormittag, und die trübe Stimmung schien diesmal auch bis zu Aaron vorzudringen, oder ihn beschäftigte etwas. Ich äußerte eine Vermutung:
„Na, zerbrichst du dir schon den Kopf darüber, was wir Herrn Sömmering gleich fragen könnten?“
„Gar nicht. Nein. Ich denke nur, wir hätten vielleicht doch heute schon ins Weghaus fahren sollen. Ich glaub ja, die Frauen sind der Polizei nicht gewachsen.“
„Da hast du wohl hauptsächlich eine Frau im Sinn, oder?“
Ein leichter Anflug von Röte in Aarons Gesicht zeigte mir, daß ich nicht falsch getippt hatte.
„Ja, weißt du, Lisa wird ja nicht nur von den Bullen verdächtigt und muß sich da wehren. Überdies hat sie doch auch noch den Schmierenjournalisten auf der Pelle.“
„Der hilft ihr doch bestimmt, gegen die Polizei.“
„Schon, aber das Schlimme ist ja gerade, daß sie ihm vertraut.“
„Warum soll sie nicht?“
„Du bist gut! Wagner hatte heimliche Kontakte zu Nicolai. Und er hat eine Verbindung zum Weghaus.“
„Was ihn noch lange nicht zum Mörder macht.“
„Aber ich hab nun mal so ein Gefühl. Und wenn mich das nicht trügt, dann ist Lisa in den Fängen eines skrupellosen ...“
„Was sollte der denn für ein Motiv haben?“
„Na, Geld.“
„Wieso? An das Erbe kommt er nur über Lisa Eschenburg.“
„Genau, das ist doch der Plan dieses Mitgiftjägers!“
„Aber dann mußt du ja keine Angst haben. Dann ist Lisa doch sicher, solange sie ihn nicht heiratet.“
„Stimmt eigentlich.“
Wir waren schließlich wieder in der Schützenstraße angekommen, wo Aaron gleich die Führung übernahm, weil Frau Sömmering ihm den Weg beschrieben hatte. Es ging auf die andere Straßenseite in die Gartenanlage. Erfreulicherweise schien es die typisch deutschen Vereinsvorschriften hier noch nicht zu geben, denn die Gärten waren überhaupt nicht genormt, sondern eher wild. Es gab sehr viele hohe und dichte Hecken, hier und da sogar sumpfiges Gelände, das gar nicht genutzt wurde. Aus einem Busch flog uns ein Eichelhäher entgegen.
Der Vogel erinnerte mich an etwas. Hieß nicht so die Kneipe des Nachbarn der Burckhardts, in der auch das Kaffeetrinken nach der Beerdigung gewesen war? Theo hatte den Namen erwähnt. Er hatte auch erzählt, daß sich dieser Kleist neuerdings auffällig für das Weghaus interessierte. Und früher war er Burckhardts Geschäftspartner gewesen. Vielleicht ja auch der von Nicolai?
Wir kamen zum Garten der Sömmerings. Heinrich Sömmering trainierte dort noch immer für seinen Marathon. Auf dem Rasen absolvierte er Liegestützen, sprang über Baumstämme und warf einen Medizinball durch die Gegend. Er trug dabei eine Turnhose, die ihm viel zu groß war, und ein ärmelloses Unterhemd, das auch schon bessere Tage gesehen hatte.
Wir waren so verblüfft, daß wir abrupt stehenblieben und ihn anstarrten. Beide hatten wir damit zu tun, uns das Lachen zu verkneifen, und so war keiner von uns in der Lage, etwas zu sagen.
Heinrich verbuchte unser Erstaunen als Bewunderung für die eigene athletische Leistung, was ihn dazu veranlaßte, seine Anstrengungen nur noch zu verstärken.
Er verausgabte sich bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Das Unterhemd war sicher nicht zum ersten Mal vollkommen durchgeschwitzt, denn es hatte von seiner ursprünglichen roten Farbe nur noch einzelne Flecken übrig. Der Rest war undefinierbar verfärbt. Das Gesicht hatte er vor den Schweißausbrüchen durch ein breites Stirnband geschützt, das gleichzeitig im Nacken seine langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenhielt.
Als er jetzt in unserer Nähe die Trainingsarbeit durch eine Auslaufphase beendete, sahen wir außerdem, daß er in seinem rechten Ohr einen dicken Ohrring trug. Ich hatte mich jetzt soweit an den Anblick gewöhnt, daß ich ihn ansprechen konnte:
„Alle Achtung. Sie sind ja schon ziemlich in Form für den Marathonlauf.“
„Na gut, ich sag mal, unter die ersten Fünfzig könnte ich wohl diesmal kommen.“
„Das ist ihr Ziel? Dafür strengen Sie sich so an?“
„Na gut, ich sag mal, der eigentliche Sinn ist natürlich, den inneren Schweinehund besiegen, nicht wahr?“
„Wann ist denn der Lauf?“
„Am 28., wollen Sie auch noch mitmachen?“
„Um Gottes willen! Nein!“
Mit einem Blick auf die Zigarette in meiner Hand sagte er:
„Ja klar. Das sieht man ja auch, daß Laufen nicht gerade Ihre Stärke ist.“
„Wir wollten von Ihnen gern etwas über Georg Nicolai erfahren.“
„Ich weiß schon. Ja, das war auch so einer. Machte keinen Schritt zuviel. Man sieht, wohin das führt, nicht wahr?“
„Sie meinen, er ist gestorben, weil er nicht fit genug war?“
„Ja klar. Durchtrainiert hätte er sich doch wehren können, nicht wahr? Oder weglaufen.“
Aaron hatte die ganze Zeit mir das Gespräch überlassen und nur gestaunt. Jetzt sagte er auch mal etwas:
„Ihre Mutter hat uns erzählt, daß Sie am ehesten über Nicolai Bescheid wissen.“
„Na gut, ich sag mal, er hat mir vertraut. Ja. Und gebraucht hat er mich, nicht wahr? Ich hab ihm doch geholfen bei seinen Nachforschungen.“
„Was hat er denn geforscht?“
„Na gut, ich sag mal, er hatte so einen Ahnentick. Immer in früheren Jahrhunderten unterwegs, der Georg.“
„Ging es da etwa um den bekannten Therocyklus?“
„Ach so, das wissen Sie schon?“
„Haben wir uns gedacht. Aber können Sie uns sagen, warum er so daran interessiert war?“
„Ja klar. Er dachte, dieser Therodingens hätte einen Schatz versteckt, oder irgendein Geheimnis. Hat sich eingebildet, daß er das finden könnte.“
„Gab's denn Anhaltspunkte dafür?“
„Na gut, ich sag mal, eigentlich war das ja alles dummes Zeug, nicht wahr?“
„Aber er hat es ernst genommen?“
„Ja klar, zuletzt war es richtig schlimm. Er war ganz aufgeregt, weil er etwas herausgefunden hatte.“
„Und was war das?“
„Wollte er mir gestern zeigen. Dazu ist es dann ja nicht mehr gekommen. Wird schon nichts Umwerfendes gewesen sein, nicht wahr?“
Er machte Anstalten, sein Training fortzusetzen. Ich konnte gerade noch eine Frage loswerden:
„Sagt Ihnen der Name 'Lessing' etwas?“
„Lessing? Nee. Startet der auch im Marathon?“
Mit diesen Worten lief er davon. Das Gespräch war für ihn beendet. Ich glaubte auch nicht, daß wir noch etwas Interessantes aus ihm herausbekommen hätten. Wir sahen uns an. Aaron sagte:
„Na gut, ich sag mal, das war ja großer Quatsch, nicht wahr?“
Ich mußte jetzt natürlich „Ja klar“ antworten, aber ich war mir da gar nicht so sicher. Aaron schon:
„Der Alchimisten-Blödsinn sieht Nicolai ja wohl nicht ähnlich. Er hat diesen Heinz bestimmt nur veralbert. Ist ja auch leicht.“
„Glaub ich nicht.“
„Was glaubst du denn? Nicolai hatte in Wirklichkeit eine okkulte Ader?“
„Das nun wohl nicht. Ich denke schon, daß die Sache einen ganz handfesten Kern hatte - und die Aussicht auf einen realen Gewinn.“
„Du meinst, Therocyklus hat echtes Gold gemacht?“
„Sicher nicht aus Eisen, aber vielleicht doch aus dem Aberglauben des Herzogs.“
Aaron blieb skeptisch.
„Wenn sogar dieser Heinz das für einen Tick gehalten hat, kann ich mir nicht vorstellen, daß Nicolai die Sache ernst gewesen ist.“
„Ich glaub schon, daß er Heinrich den Tick vorgespielt hat, damit der nicht ahnt, worum es wirklich geht. Aber Therocyklus muß tatsächlich etwas versteckt haben, was Nicolai finden wollte.“
„Wenn das stimmt, dann waren wir ja die ganze Zeit auf dem falschen Dampfer!“
„Eben. Der Faust paßt da nicht so richtig ins Bild.“
„Dann war Nicolai gar nicht hinter dem Faust her?“
So sah es aus. Und das war das eigentlich Verwirrende. Alle Spuren hatten doch darauf hingedeutet. Mußten wir jetzt vollständig umdenken?
* | * | * |
Er lag auf seinem Bett und hielt die Augen fest geöffnet. Etwas Schlaf hätte ihm sicher gut getan. Bevor er nachher wieder los mußte. Und Zeit wäre auch noch reichlich gewesen. Aber er wagte es nicht einzuschlafen. Er fürchtete sich vor den Träumen, die ihn ganz sicher wieder heimgesucht hätten. Sie kamen fast jede Nacht und quälten ihn. Dann konnte er erst am Morgen, wenn die aufgehende Sonne die Dunkelheit allmählich zurückdrängte, eine meist viel zu kurze Erholung finden.
Jetzt, mitten in der Nacht, durfte er nicht auf Ruhe hoffen.
Er hatte es auch mit Autogenem Training versucht, doch immer, wenn er kurz davor gewesen war, in die schwere und warme Entspannung hinabzusinken, hatten ihn die Gedanken an seine bevorstehende Aufgabe wieder an die Oberfläche zurückgeholt.
Nicolai und Burckhardt tauchten vor seinem inneren Auge auf. Er sah ihre Gesichter ganz deutlich. Fratzen waren es, verzerrt vor Gier, die schließlich zu ihrem Untergang geführt hatte.
U n g l a u b l i c h diese menschliche Rasse
diese Trägheit der Masse
und keiner hebt den Schatz
U n g l a u b l i c h diese Stumpfheit von Schafen
diese Sehnsucht nach Strafen
kennt nicht die eigne Kraft
Er bedauerte sie nicht. Sie hatten beide ihr Schicksal verdient. Und ihre Habsucht war mit dem Tod verschwunden. Aber der Gegenstand dieser Gier war noch da, irgendwo da draußen. Im Gartenhaus. Und deshalb mußte er dahin zurück. Er stand auf, um sich die Ausrüstung für seine Unternehmung bereitzulegen. Eine sonderbare Sammlung wanderte da in seine Tasche: eine Fleischwurst und Handschuhe, Transportklebeband und eine Sperrholzplatte. Außerdem Schraubenzieher, Taschenlampe, Zange und Messer. Und eine Teleskop-Antenne, an der ein Widerhaken befestigt war.
Später stand die Tasche im Auto geöffnet neben ihm auf dem Beifahrersitz. Immer wieder vergewisserte er sich, daß er nichts vergessen hatte.
Er fuhr auf der Landstraße. Um diese Zeit war niemand sonst unterwegs. Er war allein auf der Welt. Von draußen drang kein Geräusch in das Innere des Wagens. Auch kein Licht. Die Straße war nicht beleuchtet, und Mond oder Sterne waren nicht zu sehen. Die einzigen Lichter waren die Reflexe seiner eigenen Scheinwerfer, die nur schwer diese totale Finsternis durchdringen konnten.
Er mußte sich sehr konzentrieren, um den Verlauf der Straße nicht aus den Augen zu verlieren. Trotzdem hätte er beinahe eine plötzliche Kurve übersehen. Der Wagen geriet leicht ins Schlingern. Sofort ging er vom Gas und fuhr jetzt noch langsamer und vorsichtiger. Zum Glück. Denn sonst hätte er sicher das Reh zu spät bemerkt, das da mitten auf der Straße stand und ihm entgegenstarrte. Er bremste noch weiter ab und schaltete die Scheinwerfer kurz aus. Das Reh wurde aus seiner Erstarrung befreit und lief zurück in den Wald.
Jetzt müßte er gleich angekommen sein. Da konnte er auch schon das Haus sehen. Er schaltete den Motor aus und ließ den Wagen am Straßenrand ausrollen. Die letzten Meter ging er zu Fuß.
In meinem alten Kinderkopf
sind siebentausend Fragen
doch keiner will sie hören,
alle wollen selbst was sagen
Sein Weg führte ihn direkt zu der Hundehütte. Rollo hatte davor gelegen und geschlafen. Beim Geräusch des sich nähernden Autos war er hochgesprungen, und jetzt stand er aufrecht mit gespitzten Ohren und leicht gesträubtem Fell da.
Er ging auf den Hund zu, ohne seine Unsicherheit zu zeigen. Er sah, daß auch das Tier unsicher war und ihn mit unmerklich wedelndem Schwanz, aber auch mit einem leisen Knurren begrüßte.
Er griff in seine Tasche und nahm die Wurst heraus. Das beendete Rollos Unschlüssigkeit. Das Wedeln wurde stärker, und das Knurren verstummte. Er warf die Wurst möglichst weit in die Hundehütte. Als Rollo ihr gefolgt war, legte er die Sperrholzplatte vor den Eingang und befestigte sie mit dem Klebeband. Der Hund schien zwar keine Schwierigkeiten zu machen, doch er konnte bei seiner Arbeit weder ein böses, noch ein freundliches Gebell brauchen. Er hoffte, der Hund würde lange genug mit der Wurst beschäftigt sein und nicht versuchen, wieder herauszukommen. Im Moment blieb er jedenfalls ruhig.
Dieses Problem war also gelöst. Das ganze Anwesen lag still und friedlich da. Er ging jetzt hinten um das Haus herum zum Bach. Das Gartenhaus war in der dunklen Nacht kaum zu erkennen. Hier war es ebenfalls still, aber ein Ort des Friedens war das nicht. An der Tür sah er das Siegel der Polizei. Ein höhnisches Lächeln glitt über sein Gesicht. Wie konnten sie nur annehmen, daß ihn das aufhalten würde.
Er hantierte eine Weile im Schein der Taschenlampe an dem Schloß, bevor die Tür sich knarrend öffnete. Drinnen lag noch alles wild durcheinander. Auch die Blutflecken hatte noch niemand entfernt, wenn sie auch inzwischen eingetrocknet waren und deshalb gar nicht mehr echt wirkten.
Er sah sich kurz in dem Raum um und begann dann gleich neben der Tür mit seiner methodischen Suche. Er betrachtete jeden Zentimeter genau. Kein Gegenstand blieb unberührt. Alles wurde aufgehoben, gewendet, begutachtet. Mit dem Teleskopstab stocherte er im Kamin. Mit Schraubenzieher und Zange entfernte er Verkleidungen an der Wand und öffnete verschlossene Truhen und Kisten.
Nichts lenkte ihn von seiner sorgfältigen Arbeit ab. Doch je länger er ohne Erfolg blieb, desto aufgebrachter wurde er. Das gab es nicht! Es mußte hier irgendwo sein! Auf einmal hörte er ein Geräusch von draußen. Er löschte das Licht und sah zur Tür,
die er nur zugezogen, jedoch nicht verschlossen hatte. Sie öffnete sich jetzt einen Spalt, aber niemand kam herein. Er packte die Taschenlampe fester und erhob den Arm, um notfalls zuschlagen zu können.
So verharrte er unbeweglich, bereit, dem Eindringling zu begegnen. Aber der kam nicht. Er wurde ungeduldig. Lange würde er seine Spannung nicht mehr halten können. Doch da bewegte sich die Tür wieder. Sie wurde noch etwas weiter aufgeschoben, und - Rollo erschien im Zimmer. Er mußte sich inzwischen befreit haben und war wohl der Fährte seines Gönners gefolgt.
Seine Anspannung löste sich nur langsam. Er blieb einen Augenblick weiter unbewegt stehen und beobachtete den Hund. Der trabte sofort quer durch den Raum, wobei er es sorgsam vermied, auf die dunklen Stellen am Fußboden zu treten. Der Hund schien hier auch etwas zu suchen. Er ging bis in die hinterste Ecke, schob mit der Schnauze einen Weidenkorb beiseite und drehte sich dann mißtrauisch zu dem Menschen um. Der beobachtete ihn gespannt und sah, daß unter dem Korb eine kleine Vertiefung im Fußboden war, die aber leer zu sein schien. Rollo kroch, soweit es sein Körper zuließ, in diese Vertiefung hinein und fischte mit den Vorderpfoten unter die Bodenbretter.
Was würde er da herausholen? War dies etwa das Versteck, das bisher alle übersehen hatten?
Rollo füllte die Bodenvertiefung jetzt ganz aus, so daß man nicht sehen konnte, was er da zu packen bekam. Schließlich kam er triumphierend wieder heraus.
In seinem Maul hielt er - sehr vorsichtig - eine kleine Stoffkatze.
* | * | * |
Der Samstag begann, wie der Freitag geendet hatte: mit Regen. Trotz dieses wenig einladenden Wetters waren wir schon früh unterwegs. Wir mußten beide vor den Feiertagen noch etwas einkaufen. Und wir waren nicht die einzigen. Die kleine Stadt schien aus allen Nähten zu platzen. Jemand mußte im ganzen Landkreis die Parole ausgegeben haben: Auf nach Wolfenbüttel zum Ostereinkauf! In der Menge, die sich durch die Einkaufszone wälzte, waren heute sogar ein paar Touristen auszumachen. Die würden jetzt ein ganz falsches Bild von der „beschaulichen Residenz“ bekommen. Aaron kannte sich bei den Geschäften natürlich besser aus als ich, und deshalb ging er voraus und lotste mich durch das Gewühl. So hatte ich Zeit, noch einmal über die geänderte Lage nachzudenken.
Wir betraten einen Supermarkt. Auch hier war es ziemlich voll. Das aufgeregte Geplapper der Einkäufer wurde von der Musikberieselungsanlage des Marktes kaum noch übertönt:
Ich kann nicht wie ich möchte
und ich mag nicht was ich kann
die Kinder sprechen sächsisch
und mein Boxer knurrt mich an
Was das Leben betrifft, sind wir alle Amateure,
blutige Laien und Anfänger
doch du hast die Wahl der Qual,
wenn auch nur das eine Mal
Draufgeher oder Draufgänger
Es sah jetzt also so aus, als ob der Faust gar nicht die Verbindung zwischen Lessing und Nicolai gewesen war. Nicolais Nachforschungen hatten wohl doch hauptsächlich Therocyklus gegolten. Aber aus dem Tagebuch von K.A.Schmidt wußte ich, daß Lessing sich auch für diesen Alchimisten interessiert hatte. Sein Leben war eine Quelle für den Faust geworden. Vielleicht hatte er bei dieser Arbeit ja etwas herausgefunden, was auch für Nicolai von Bedeutung war. Und vielleicht war das in den Text des Manuskripts eingeflossen. Dann wäre Nicolai gar nicht an dem Schriftstück an sich interessiert gewesen, sondern nur an seinem Inhalt. Und Nicolais Mörder suchte dann sicher auch nach diesem Hinweis auf das Alchimistengeheimnis.
Wir standen in der Gemüseabteilung, als ich mit meinen Gedanken so weit gekommen war und Aaron davon erzählte. Er war gerade dabei, mehrere Kohlköpfe zu untersuchen, unterbrach seine Expertise jetzt, behielt aber zwei Köpfe in den Händen. Ich mußte befürchten, er würde anfangen, damit zu jonglieren, denn diese Wendung der Dinge schien ihn zu freuen:
„Dann sind die Frauen ja wohl aus dem Schneider.“
„Wieso? Ist Alchimie Männersache?“
„Nein, nein, aber die waren doch alle schon ihr ganzes Leben in dieser Gegend. Da hätten sie Gelegenheit genug gehabt, Therocyklus nachzuspüren.“
„Ja, das stimmt wohl.“
„Siehst du!“
Ich nahm ihm die Kohlköpfe aus der Hand, legte einen zurück, den anderen in den Korb, und schob Aaron dann weiter zum Brotstand. Er war gar nicht mehr bei der Sache:
„Das müssen wir sofort Lisa erzählen!“
„Jetzt erledigen wir erst mal unseren Einkauf. Nachher fahren wir doch sowieso ins Weghaus. Für uns ist ja auch eigentlich egal, warum Nicolai nach dem Faust gesucht hat. Die Frage ist doch nur: War er erfolgreich?“
„Ja, ja. Aber Lisa ist jetzt nicht mehr in Verdacht. Das muß sie unbedingt wissen.“
„Oder hat der Mörder ihn umgebracht, bevor Nicolai ihn gefunden hatte?“
„Den Mörder?“
„Den Faust! Du Torfkopp!“
„Ich könnte auch schon mal Theo anrufen. Damit er Bescheid weiß.“
„Was hat denn jetzt Theo damit zu tun? Der glaubt doch gar nicht, daß es den Faust überhaupt gibt.“
„Nicht deshalb! Wegen Lisa.“
„Es kann natürlich auch sein, daß der Mörder jetzt den Faust hat, und wir zu spät kommen.“
„Oder meinst du, ich sollte gleich mit dem Kommissar sprechen?“
Anscheinend redeten wir aneinander vorbei. Wir waren beide sehr aufgeregt, ich wegen des Fausts, Aaron aber wegen Lisa. Ich merkte, daß ich im Moment nicht zu ihm durchdringen konnte, und gab es vorläufig auf. Vielleicht war er später ja wieder ansprechbar. Jetzt konnte er wohl nur an Lisa denken. Also sagte ich:
„Hast du eigentlich bei der Frau richtig ernste Absichten?“
„Ich weiß nicht. Ja. Vielleicht.“
„Und du bist dir im klaren darüber, daß sie bald steinreich ist?“
„Daran muß ich ja die ganze Zeit denken. Paßt mir gar nicht in den Kram.“
„Nicht?“
„Nein! Mein Leben lang bin ich von niemandem abhängig gewesen. Ich bin schon zu alt, um das jetzt noch zu ändern.“
„Muß ja nicht so sein, daß sie dir ihr Geld aufdrängt.“
„Macht sie doch aber schon! Ich hab ihr von meinem Projekt 'Stadtsemiotik' erzählt und daß ich das so quasi hinter dem Rücken meines Brotherren mache. Hat sie mir sofort angeboten, in die Arbeit zu investieren, falls ich meinen Job verliere.“
„Na toll!“
„Ja schon. Aber dann wäre ich eben abhängig von ihr.“
„Als Lohnarbeiter bist du ja auch nicht gerade unabhängig.“
„Das mache ich sowieso nicht mehr lange. Eigentlich wird's auch Zeit, daß ich mal für eine Weile die Tapeten wechsele.“
„Oha! Und soll's dann weiter weg gehen?“
„Ja, wenn, dann schon. In die Karibik zum Beispiel.“
„Da könntest du eine reiche Freundin doch gut gebrauchen.“
„Sag mal, willst du mir eigentlich einreden, daß ich hinter Lisas Geld her bin?“
„Da sei der Herr vor!“
„Ich wär nämlich froh, wenn sie überhaupt kein Geld hätte. Würde sie doch gar nicht erst in Verdacht geraten.“
„Apropos Geld, guck mal nach, ob du auch was eingesteckt hast. Ich glaub, ich hab gar nicht genug dabei.“
Wir standen nämlich inzwischen schon an der Kasse und legten unseren Einkauf auf das Transportband.
Später im Auto auf dem Weg zurück nach Hornburg sagte Aaron:
„Was meinst du denn jetzt, wer Nicolai ausgeknipst hat?“
„Ist mir eigentlich ganz egal, aber dieser Ephraim wird's wohl gewesen sein.“
„Glaub ich auch. Und das ist Horst Wagner.“
„Ja klar, jetzt wo der dir bei Lisa im Weg ist, findest du ihn verdächtig.“
„Ach was. Hab ich immer schon gesagt. Er ist doch der einzige, der seine Finger überall drin hat: bei Burckhardt, bei Nicolai, im Weghaus.“
„Und bei Lisa.“
„Ja, Mensch! Das macht mich doch so nervös. Das muß doch irgendwann bedrohlich für sie werden, wenn der immer in ihrer Nähe ist.“
„Hast du auch schon mal die andere Möglichkeit überlegt?“
„Was meinst du?“
„Na, wenn Horst wirklich hinter dem Ganzen die Drähte zieht, könnte es doch gut sein, daß Lisa seine Komplizin ist.“
Da hatte ich etwas gesagt. Aaron wurde richtig wütend. Ich brauchte ziemlich lange, um ihn auch nur halbwegs wieder zu beruhigen. Schließlich gelang es mir notdürftig, aber er blieb auf der ganzen Fahrt stumm und zog ein beleidigtes Gesicht.
Eigentlich hatten wir zusammen kochen wollen, aber in dieser Stimmung war mir die Lust dazu vergangen. Vielleicht konnte ja auch eine Einladung zum Essen die Atmosphäre wieder bereinigen.
In der einzigen Gastwirtschaft, die in Hornburg geöffnet hatte, entspannte sich mein Freund dann tatsächlich wieder. Wir überlegten, wie wir später im Weghaus vorgehen wollten. Aaron hätte am liebsten überfallartig Lisa da rausgeholt und in Sicherheit gebracht. Aber wir konnten schließlich nicht wie ein Sondereinsatzkommando dort einfallen. Außerdem ging es mir gar nicht darum, schnell wieder zu verschwinden. Ich wollte ja gerade in das Haus hinein und nach Spuren von Anton Ullrichs Kernbibliothek suchen.
Also beschlossen wir, zunächst mal Aarons Funktion als Stadtangestellter auszunutzen und so zu tun, als ob er ein 'öffentliches' Interesse an dem Haus hätte. Da Lisa Eschenburg ja schon mit Aarons Vorliebe für alte Häuser vertraut war, würde sie ihm das sicher abnehmen. Dann könnten wir so langsam von dem Haus im allgemeinen auf die Bibliothek im besonderen zu sprechen kommen. Und dann konnten wir nur hoffen, daß wir eingeladen würden, die Bibliothek selbst zu untersuchen. Genaugenommen war das im Augenblick allerdings nur meine Hoffnung. Aaron dachte ja immer noch mehr daran, wie er Lisa von Wagner fernhalten könnte.
Am Weghaus angekommen, waren wir nicht der einzige Besuch. Ein älterer Mann ging direkt vor uns auf das Haus zu. Eine ziemlich markante Erscheinung von 1,80 Größe mit kurzen schwarzen Haaren. Sein Gang war forsch, doch auf mich wirkte er ein wenig gewollt dynamisch. Man sollte ihn wohl für jünger halten, als er wirklich war.
Als er das Grundstück betrat, kam der Hund des Hauses um die Ecke gerannt. Er blieb in sicherer Entfernung vor dem Mann stehen und bellte ihn an. Gleichzeitig öffnete sich die Haustür, und eine jüngere Frau erschien. Sie war deutlich kleiner und zierlicher als der Mann und machte einen sehr lebendigen Eindruck. Ihre Kleidung bestand aus einer hellblauen Cordhose und einem schwarzen T-Shirt. Von ihren Ohren baumelten verspielte Ohrringe, die aber nicht so recht zu ihren derben Gesichtszügen passen wollten.
Die Frau wies erst den Hund zurecht, der sich daraufhin ein wenig weiter zurückzog, jedoch vorsichtshalber noch knurrte. Dann wandte sie sich dem Besucher zu. Wir hielten uns weiter im Hintergrund, waren aber nahe genug, um zu hören, was sie sagte:
„Herr Kleist. Was für ein seltenes Vergnügen! Sie möchten doch sicher meiner Schwester Ihre Aufwartung machen. Hab ich recht?“
„Mach dich nur lustig, Malchen. Diana weiß das schon zu schätzen, daß ich mich um sie kümmere. Außerdem erwartet sie mich. Wo ist sie denn?“
„Gehen Sie mal wacker ums Haus herum. Diana ist im Garten.“
Herr Kleist machte das, und Rollo überlegte kurz, ob er ihm folgen sollte. Dann entschied er sich doch lieber dafür, uns genauer zu inspizieren. Er kam herangelaufen, und Aaron versteckte sich wieder hinter mir. Ich hielt dem Hund meine Hand zur Begrüßung hin. Nachdem er an mir geschnüffelt hatte, ließ er sich das zerzauste Fell kraulen. Die Frau nahm uns erst jetzt richtig wahr. Sie sagte:
„Und was ist mit Ihnen? Wollen Sie auch zu meiner Schwester?“
„Guten Tag. Nein. Wir würden gern Frau Eschenburg sprechen. Ist sie da?“
„Tut mir leid, da haben Sie Pech gehabt. Frau Eschenburg ist mit ihrem Verlobten verreist. Gestern schon.“
Darauf warf sie noch einen erstaunten Blick auf Rollo, der sich zu meinen Füßen niedergelassen hatte, und ging ins Haus zurück. Ich drehte mich um zu meinem Freund. Dem war diese Nachricht ganz schön in die Glieder gefahren. Er vergaß sogar vorübergehend seine Angst vor dem Hund und kam wieder näher. Dabei stammelte er:
„Aber - das - das geht doch nicht. - Das kann sie doch nicht machen.“
„Hat sie doch schon.“
„Aber sie weiß nicht, was sie tut.“
„Nun reg dich nicht so auf. Wir können ja morgen noch mal kommen. Vielleicht sind die beiden dann wieder da.“
Wir gingen zurück zum Auto. Rollo verabschiedete sich und machte sich auf den Weg in den Garten, um ein wachsames Auge auf Herrn Kleist zu werfen.
Beim Einsteigen beobachtete ich meinen Freund. Aaron war immer noch ziemlich durcheinander. Aber als er dann nach meinem Tabak griff, war ich doch überrascht. Eigentlich hatte er sich gerade wieder einmal das Rauchen abgewöhnt. Ich sprach ihn darauf an, und er sagte:
„Nur die eine. Diese Dreherei ist mir sowieso viel zu kompliziert.“
Ich schaltete das Radio ein:
Verlaß dich nicht drauf
daß der Schlüssel noch paßt
verlaß dich nicht drauf
daß die Nummer noch gilt
verlaß dich nicht drauf
daß du mehrere hast
verlaß dich nicht drauf
auf dein Führerscheinbild
verlaß dich nicht drauf
Gerade wollte ich losfahren, da hielt ein Micra, der genauso aussah wie meiner, vor dem Haus an. Im Auto saß die Frau, die ich schon mit Aaron im Schloßpark gesehen hatte, und sie war allein. Das schien Aaron sehr zu gefallen. Seine Miene hellte sich auf. Nachdem Lisa Eschenburg aus dem Auto gestiegen war, strahlte er über das ganze Gesicht, als wollte er die Sonne ersetzen, die am wirklichen Himmel nicht schien.
Lisa freute sich wohl auch, Aaron zu sehen, denn sie lächelte ihn an. Eine Weile standen beide so, ohne daß einer von ihnen etwas sagte. Das gab mir Gelegenheit, die Frau näher zu betrachten. Sie war groß und schlank und wirkte sehr sportlich. Sie trug fast dieselben Kleidungsstücke wie Frau Jacobi, aber an ihr wirkte alles ganz anders. Es kam mir vor wie das Original zu der Kopie, die wir vorhin gesehen hatten. Auch die Ohrringe fehlten nicht, doch sie verschwanden teilweise unter den langen blonden Haaren. Ihre Augen wurden durch ein geschicktes Make-up hervorgehoben, das sie in einem leuchtenden Grün erscheinen ließ. Diese Augen blickten jetzt auf mich. Da erst schien Aaron zu bemerken, daß ich auch noch da war, und er stellte mich vor. Ich wollte gleich den Anlaß unseres Besuchs erklären und hatte mir die Worte schon genau zurechtgelegt. Aber anscheinend war das gar nicht nötig, denn Lisa sagte:
„Das ist aber schön, daß ihr vorbeigekommen seid. Tut gut, mal ein paar freundliche Gesichter zu sehen.“
„Sie haben in den letzten Tagen ja auch nun wahrlich nichts zu lachen gehabt.“
„Das kannst du wohl sagen. Die Aufregung war ein bißchen viel. Ich mußte einfach mal hier weg. Aber so richtig zur Ruhe gekommen bin ich trotzdem nicht.“
„Wo waren Sie denn?“
„In Goslar, aber können wir nicht 'du' sagen? Hab ich mit Aaron auch gleich gemacht. Und dich kenn ich ja schon ganz gut. Aaron hat von dir erzählt.“
Aaron sah verblüfft auf. Das war ihm offenbar entgangen. Aber er mühte sich jetzt, das Gespräch nicht vollkommen an sich vorbeilaufen zu lassen.
„Na, wenigstens hast du jetzt Ruhe vor der Polizei. Die sind ja nun erst mal abgezogen.“
Das war ein Stichwort für Lisa. Sie schimpfte auf Theo und seinen Chef, und Aaron teilte ihre Empörung, als er erfuhr, wie die beiden ihr zugesetzt hatten.
„Wie kann man nur glauben, daß du etwas mit Nicolai, diesem zweifelhaften Charakter, zu tun hattest.“
„Ich kannte ihn praktisch gar nicht. Aber er hat ja wohl irgend etwas hier gesucht. Und deshalb sind jetzt alle verdächtig, die zum Haus gehören.“
„Weiß die Polizei denn inzwischen, was er hier wollte?“ fragte Aaron, und ich fügte hinzu:
„Haben sie nichts gefunden?“
„Nein. Sie haben ja auch gar keine Ahnung, wonach sie suchen sollen.“
Ich wollte jetzt noch nicht mit unserem ganzen Wissen herausrücken und sagte:
„Muß jedenfalls sehr wertvoll sein.“
„Nein, nicht das, was Nicolai gesucht hat. Das wollte er doch zerstören.“
Wir blickten sie beide überrascht an.
„Ja, weiß ich von Horst. Nicolai hat etwas gesucht, aber er wollte es vernichten, wenn er es gefunden hatte.“
Aaron war total verblüfft.
„Warum das denn jetzt?“
Ich konnte es ihm erklären:
„Hab ich dir schon heute morgen zu erzählen versucht. Für Nicolai war nicht das Manuskript selbst wertvoll, sondern nur sein Inhalt. Dieses Alchimistengeheimnis. Und das sollte dann wohl kein anderer kennenlernen.“
„Dann hat er von Anfang an seinen Auftraggeber an der Nase herumgeführt?“
„Beide Auftraggeber. Burckhardt und Ephraim, wenn es den denn wirklich gibt.“
Lisa wußte natürlich nicht, wovon wir sprachen. Jetzt mußten wir ihr wohl oder übel etwas mehr sagen. Es war mir zwar nicht recht, aber ich erklärte ihr dann doch oberflächlich, worum es unserer Meinung nach bei alledem ging. Aaron betonte besonders, daß sie danach nicht mehr verdächtig wäre.
Bei der Vorstellung, Nicolai könnte es noch vor seinem Tod gelungen sein, das Manuskript nicht nur zu finden, sondern auch zu vernichten, wurde ich ganz verzweifelt. Überraschenderweise konnte Lisa mich aber beruhigen.
„Ich glaube nicht, daß er das geschafft hat. Nein. Ganz bestimmt nicht.“
Weiter mit Kapitel 17