Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König

Kapitel 17







Kapitel 17: White Album



Auferstehungswetter!
Strahlender Sonnenschein begrüßte mich, als ich am Ostersonntag die Haustür hinter mir schloß. Die Müdigkeit, die mir nach unruhiger Nacht noch in den Gliedern steckte, wurde von der frischen morgendlichen Brise augenblicklich vertrieben. In den Rinnsteinen glitzerten Wasserreste im Licht, und die vom Regen sauber gewaschenen Häuserwände leuchteten auf eine Stadt in Osterstimmung.

Dear Prudence, won't you come out to play
Dear Prudence, greet the brand new day
The sun is up, the sky is blue
It's beautiful and so are you
Dear Prudence, won't you come out to play?

Froh gestimmte Bürger kehrten vom morgendlichen Gottesdienst heim oder machten einen Spaziergang nach dem Frühstück. Ich mischte mich gut gelaunt mitten unter sie und ließ mich von ihnen durch die sonntäglichen Straßen treiben.
Die Hoffnung auf ein neues, besseres Leben, wie sie heute überall von den Kanzeln verkündet wurde, hatte wohl auch die Gemüter der Menschen erreicht und spiegelte sich in ihren Gesichtern und Bewegungen wider. Ganz Hornburg schien in einen gesunden Optimismus getaucht, der sogar die noch nicht restaurierten Häuser freundlicher dreinblicken ließ.
Jetzt wunderte es mich auch nicht mehr, daß gestern ebenfalls reichlich neue Zuversicht genährt worden war. Es paßte ins Bild.
So brauchte Lisa nicht mehr zu befürchten, verdächtig zu sein, wenn sich herausstellte, daß der Hintergrund für die Morde das Alchimistengeheimnis des Therocyklus gewesen war.
Aaron konnte offensichtlich davon ausgehen, daß Horst Wagner ihm in nächster Zeit nicht bei Lisa im Weg stehen würde.
Und mir blieb die Hoffnung, den Faust doch noch zu finden. Lisa glaubte daran, daß er noch nicht vernichtet war. Sie hatte diese Gewißheit von Horst, der davon ausging, daß Nicolai gestorben war, bevor er seine zerstörerischen Pläne verwirklichen konnte. Er war sogar überzeugt, daß Nicolai das Gesuchte noch nicht gefunden hatte. Und er war sich seiner Sache so sicher, daß er jetzt selber danach suchte. Was es war, hatte er ihr nicht sagen wollen, aber es mußte ziemlich wichtig sein, weil er sonst nicht seinen Job bei der Zeitung aufgegeben hätte.
Mir kam es allerdings seltsam vor, daß er dann nicht hier war, um seine Suche fortzusetzen. Angeblich war er nach einem Streit mit Lisa nach Braunschweig gefahren.
Vielleicht mußte er dort noch weiteren Hinweisen nachgehen?
Von solchen Hinweisen wußte ich nichts. Meine Spur wies deutlich ins Weghaus, und ich hätte natürlich gerne schon gestern dort nachforschen wollen. Lisa hatte das aber verhindert. Sie meinte, Diana müßte erst auf diesen Besuch vorbereitet werden. Nach den ganzen Ereignissen hätte ihre Cousine Angst vor Fremden und fühlte sich ständig bedroht. Deshalb hatten wir uns für heute morgen wieder verabredet.
Aaron war allerdings noch da geblieben. Ich war nach Hause gefahren, weil ich die beiden nicht weiter stören wollte.
Irgendwie war mir diese Beziehung immer noch nicht richtig geheuer.
Aaron hatte sich in den letzten Tagen deutlich verändert. Seine Bemerkungen über Horst waren immer bissiger geworden. Er unternahm große Anstrengungen, mir plausibel zu machen, daß Horst Ephraim sein müßte. Und, was mich am meisten wunderte: Seine Neugierde auf den Faust war wie weggeblasen. Anfänglich hatte er meine Aufregung und die Begeisterung bei der Suche geteilt, jetzt war davon gar nichts mehr zu spüren.
Sollte das wirklich daran liegen, daß er mit seinen Gedanken ausschließlich bei Lisa war? Sein Verhalten legte das nahe. Gestern war er gar nicht mehr vorbei gekommen, und heute war er auch schon vor mir losgefahren. Er hatte nur kurz Bescheid gesagt, ich sollte etwas später nachkommen.
Verliebte Jungs benehmen sich ja immer ein wenig seltsam, und Aarons Sprunghaftigkeit war mir auch früher schon aufgestoßen, aber jetzt erschien mir das alles doch ein bißchen unecht. Könnte es vielleicht sein, daß mein Freund doch anders in die Zusammenhänge verstrickt war, als er mir erzählt hatte?

„Peter! Kannst du nicht besser aufpassen?!“ schrie mir eine weibliche Stimme ins Ohr.

Erschreckt fuhr ich herum. Die Stimme gehörte einer Frau, die mich in ihrem grasgrünen Kostüm und mit der leuchtenden Kriegsbemalung, die sie aufgelegt hatte, spontan an ein Osterei erinnerte. Rundlich war sie außerdem. Sie hielt einen kleinen Jungen an der linken Hand, der fast ganz hinter einer Rieseneistüte verschwand. Die rechte Hand fummelte mir an der Kleidung herum.

„Sie müssen schon entschuldigen. Er ist sonst nicht so nachlässig mit Lebensmitteln. Zum Glück ist Ihre Jacke ja eh so bunt, daß man die Flecken praktisch gar nicht sieht.“

Jetzt, wo sie davon redete, bemerkte ich sie natürlich doch. Der kleine Junge versteckte sich schuldbewußt hinter seinem Eis.

Have you seen the little piggies crawling in the dirt
And for all the little piggies life is getting worse
Always having dirt to play around in

Ich wollte gerade sagen, daß der Schaden ja wirklich nicht schlimm war und sie sich nicht aufregen sollte, da sah ich, als ich über ihre Schulter blickte, in einem Hauseingang ein bekanntes Gesicht. Meine Worte blieben vor Erstaunen im Mund stecken, denn das war Horst Wagner!
Der sollte doch in Braunschweig sein. Und wenn nicht, was machte er hier in Hornburg? Oder hatte ich mich getäuscht?
Ich wollte das Osterei beiseite schieben, um bessere Sicht auf den Mann zu bekommen, aber das gelang mir nicht. Eine hausfrauliche Hand hielt mich fest in ihrem Griff, und auch die Eistüte kam wieder bedrohlich nahe.

„Wenn Sie einen Moment Zeit haben, wasche ich das auch eben aus.“

„Nein, nein. Ist schon gut. Lassen Sie mal.“

Ich sah wieder über ihre Schulter. Der Mann war nicht mehr da.

„Peter! Entschuldige dich bei dem Herrn“, sagte das Osterei.

Keine Reaktion von der Eistüte.

In their styes with all their backing
They don't care what goes on around

„Peter! Wirst du wohl!“

„Lassen Sie doch. Wir waren doch alle mal jung. Ist ja auch gar nichts passiert.“

Es gelang mir einfach nicht, die beiden loszuwerden.

In their eyes there's something lacking
What they need's a damn good whacking

Da sah ich den Mann wieder. Er war jetzt weiter weg und ging gerade um die nächste Ecke. Könnte wirklich Horst Wagner sein. Sicher war ich mir jedoch nicht.
Nachdem ich dann doch den Fängen des Ostereis entkommen konnte, ohne erneut in die Eistüte zu geraten, ging ich ihm schnell hinterher. Aber als ich um die Ecke kam, war er schon wieder verschwunden.



Im Auto dachte ich nicht mehr an Wagner. Sollte er sich doch herumtreiben, wo er wollte! Hauptsache, er kam mir nicht in die Quere.
Unterwegs wuchs meine Anspannung. Es war wie vor einem großen Fußballspiel. Nervosität, gepaart mit freudiger Erwartung. Endlich würde ich ins Weghaus kommen, wo vielleicht noch die Bücher aus Anton Ullrichs Kernbibliothek standen. Eines dieser Bücher könnte der Faust sein! Die Aussicht erzeugte ein Kribbeln in meiner Magengegend.
Wolfenbüttel war erreicht und schnell durchquert, kein Problem bei dem spärlichen Verkehr. Ich fuhr auf die Landstraße nach Norden. Auch hier gab es kaum andere Autos. In einer Kurve wäre ich beinahe auf der noch feuchten und rutschigen Straße ins Schleudern geraten.
Dann lag das Weghaus vor mir.
Ich stellte den Wagen am Straßenrand ab und ging auf das Haus zu. Aus dieser Richtung war Lessing früher auch gekommen. Seine Anreise zu Fuß war natürlich etwas beschwerlicher gewesen als meine. Aber das Haus hatte damals bestimmt schon ganz ähnlich ausgesehen. Ich versuchte, mir vorzustellen, mit welchen Gefühlen er hierher gekommen war. Sicher genauso erwartungsfroh wie ich jetzt. Für ihn war das ja ein Weg aus der Isolation in Wolfenbüttel gewesen, der ihn zum Zusammensein mit Freunden führen sollte. Hier war auch der Ort des gemütlichen Abends, als Lessing aus seinem Faust gelesen hatte, ein Ort der Geselligkeit und der Unterhaltung.
Als ich mich mit diesen Gedanken dem Haus näherte, bekam ich auch Gesellschaft. Rollo begrüßte mich wie einen alten Bekannten. Er sprang an mir hoch und bellte freundlich. Ich hielt ihn fest und streichelte ihn. Prompt legte er sich auf den Rücken und streckte mir seinen Bauch hin. Eine Weile ließ er es sich, wohlig knurrend, gefallen, gekrault zu werden, dann sprang er auf, lief ein paar Schritte weg und kehrte mit einem Stöckchen im Maul zurück. Ich tat ihm den Gefallen und warf den Stock, so weit ich konnte. Im Nu lag er wieder vor meinen Füßen, und das Spiel wiederholte sich.

„Was meinst du, Rollo? Hat es damals wohl auch schon einen Hund hier gegeben? Mit dem Lessing erst spielen mußte, bevor er ins Haus durfte?“

Rollo bellte zustimmend, und ich konnte mir die Szene ebenfalls sehr gut vorstellen. Ich redete weiter mit dem Hund, erzählte ihm von Lessing und dem Faust, und er sah mich an, als ob er jedes Wort verstehen würde. Ich sagte „Und, wo ist der Faust jetzt?“, und er sprang tatsächlich hoch, lief voraus und forderte mich bellend auf, ihm zu folgen.
Ich ging hinterher, und er führte mich zu seiner Hütte. Jetzt war ich aber gespannt. Er wollte mir wohl etwas zeigen, aber der Faust würde es bestimmt nicht sein. Rollo ging hinein und kam wieder heraus mit einer Stoffkatze im Maul.
Vorsichtig legte er sie auf den Boden. Ich bückte mich und hob sie auf.
Bisher hatte ich immer gedacht, der Hund sähe ziemlich mitgenommen aus mit seinem schmutzig-grauen, zerzausten Fell, aber im Vergleich zu dieser Katze war Rollo ein echter Vorzeigehund. Das Stofftier war so abgeschabt, als ob Rollo es schon mehrfach durchgekaut hätte, ein Ohr hing nur noch am seidenen Faden, und ein Bein fehlte ganz. Außerdem mußte es am Bauch schon einmal völlig auseinandergefallen sein, denn dort hatte es jemand mit unbeholfenen, groben Stichen wieder zugenäht.
Meine Inspektion dauerte Rollo vermutlich zu lange, denn er bellte jetzt ungeduldig und schnappte nach der Katze. Ich gab sie ihm zurück, und er verschwand damit in seiner Hütte.
Ich blieb stehen und betrachtete den rückwärtigen Teil des Hauses. Hinter dem Hof waren ein paar Felder, die bis zu einem kleinen Wäldchen reichten. Von dort sah ich zwei Menschen kommen. Sie gingen offenbar Hand in Hand und kamen auf mich zu.

Desmond had a barrow in the market place,
Molly is the singer in a band.
Desmond says to Molly, 'Girl, I like your face'
And Molly says this as she takes him by the hand.

Als sie etwas näher heran waren, erkannte ich Aaron und Lisa. Wie zufällig entfernten sie sich jetzt ein wenig voneinander und hielten sich nicht mehr fest. Aaron winkte mir zu.
Ich sah zum Haus hoch. In einem der Fenster hatte ich eine Bewegung wahrgenommen. Richtig, da stand Amalia Jacobi hinter der Scheibe und musterte mich. Während Aaron und Lisa zu mir traten, glaubte ich zu erkennen, daß ihr Gesicht sich zu einer ärgerlichen Grimasse verzog.

„Na, altes Haus, was führt dich in unsere einsamen Gefilde? Immer noch auf der Suche nach dem Goldenen Vlies?“

Aaron hatte sich möglichst malerisch an die Hauswand gelehnt und grinste mich an.

„Unsere Verabredung führt mich her, und was ich hier suche, ist ja wohl auch kein Geheimnis.“

Um das seltsame Benehmen verliebter Jungs zu wissen, war eine Sache. Es am eigenen Leib ertragen zu müssen, eine andere. Aaron benahm sich wie eine Karikatur seiner selbst.

Obladi Oblada Life goes on, bra
La la, how the life goes on.

Jetzt tänzelte er wie ein Vogel Strauß um mich herum, vollkommen unbeeindruckt von meinem genervten Ton, und wäre dabei beinahe über Rollo gestolpert, der sich neugierig unserer kleinen Gruppe angeschlossen hatte. Die beiden waren vermutlich inzwischen notdürftig miteinander vertraut, denn weder schreckte Aaron deswegen auf, noch knurrte der Hund ihn an. Gute Freunde schienen sie aber auch nicht gerade zu sein. Rollo war nämlich schnell wieder an meiner Seite und sah aufmunternd zu mir herauf. Er wollte gerne weiterspielen. Lisa staunte:

„So schnell hat Rollo ja noch nie jemanden ins Herz geschlossen. Da kannst du dir aber was drauf einbilden!“

„Tu ich auch. Rollo ist nämlich ein besonders schlauer Hund, und ein guter Gesprächspartner obendrein.“

Aaron sah mich irritiert an, aber Lisa verstand, was ich meinte.

„Ja, manchmal kann man mit Tieren wirklich besser reden als mit Menschen. Bei Hunden gelingt mir das allerdings nicht so leicht. Ich bin ja eher ein Katzenmensch.“

Aaron mußte ihr natürlich zustimmen:

„Ich auch, Li, ich auch. Wieso gibt's eigentlich hier keine Katzen?“

Rollo sah mich an, als ob er eine Antwort auf diese Frage wüßte. Bevor Lisa ihm aber widersprechen konnte, öffnete sich das Fenster, hinter dem ich vorhin schon Frau Jacobi entdeckt hatte, und sie rief herunter:

„Was steht ihr denn da vor der Tür herum? Kommt doch rein. Und laßt den Hund in Ruhe. Ihr macht ihn noch ganz konfus, gewissermaßen. Und dann muß Diana sich wieder aufregen.“

Lisa sah zu ihr nach oben, um zu antworten, doch da war sie schon verschwunden.

„Dumme Pute! Wenn die sich mehr um sich selbst kümmern würde, hätten wir alle weniger Ärger.“

„Wieso? Was hat sie gemacht?“

„Ach, das Gartenhaus war doch versiegelt. Malchen hat gestern abend bemerkt, daß das Siegel beschädigt war. Da hatte sie nichts besseres zu tun, als gleich die Polizei anzurufen.“

„Oh, die waren schon wieder da?“

„Ja, haben das Gartenhaus noch mal durchsucht, aber auch nichts gefunden. Und dann muß Malchen ja noch so dumm daher reden. Von wegen, sie hätte vorgestern nacht Geräusche im Haus gehört.“

„Geräusche? Gibt's die sonst nicht?“

„'Verdächtige Geräusche', hat sie gesagt, genauer beschreiben konnte sie's nicht. Aber jetzt denkt die Polizei natürlich, einer von uns wäre da zum Gartenhaus geschlichen, um das Siegel aufzubrechen.“

Aaron hatte sie inzwischen bestimmt schon genug für dieses neue Ungemach bedauert. Trotzdem setzte er jetzt wieder eine mitleidige Miene auf.

„Das Haus bringt euch irgendwie kein Glück.“

„Ja, ein richtiges Unglückshaus!“

Dem mußte ich widersprechen:

„Zumindest früher war es das aber nicht.“

„Du meinst, als es noch 'Weghaus' hieß? Als Lessing und seine Freunde hier verkehrt haben?“

„Ach, das weißt du? Hast du denn auch eine Antenne für Lessing?“

„Frag mal meine Schüler. Die rollen mit den Augen, wenn du nur den Namen 'Lessing' erwähnst. Manchmal nerve ich sie wohl ganz schön damit.“

„Aaron sagt, du bist ja sogar mit einem Freund Lessings verwandt?“

„Johann Joachim, ja. Seit damals ist es in unserer Familie anscheinend Tradition, sich für Lessing zu interessieren. Obwohl, das Verhältnis war nicht bei allen Eschenburgs so ganz ungestört.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Mein Opa hat es überhaupt nicht gern gesehen, wenn sich Vater mit Lessing beschäftigte. Weiß ich noch aus meiner Kindheit. „

„Hatte das vielleicht etwas mit Anton Ullrich zu tun?“

„Komisch, daß du das sagst. Mit den Ullrichs gibt es einen alten Familienstreit. Der hat meinen Vater auch interessiert.“

„Sag bloß!“

„Meine Oma wollte ihren Sohn eigentlich Ulli nennen, aber Opa hat das nicht erlaubt. Er sagte immer, dieser Name wäre 'von Übel'. Das hat Vater dann später neugierig gemacht, als er davon erfuhr.“

„Kann ich mir denken.“

„Ja, er wollte rauskriegen, was es mit dem Streit auf sich hatte. Aber aus Opa war wohl nichts herauszubekommen.“

„Dann hast du gar keine Ahnung, worum es da ging?“

„Nein, aber du guckst so, als ob du was darüber weißt. Kann das denn sein?“

„Ja, tatsächlich. Ich glaube, es war so: Eschenburg hatte von Lessing ein Manuskript bekommen, das er nach dessen Tod veröffentlichen sollte.“

„Ja und?“

„Dummerweise hat er es dann an Anton Ullrich ausgeliehen, und der hat es nicht mehr zurückgegeben. Seitdem ist es verschollen.“

„Und Johann Joachim fühlte sich verantwortlich dafür.“

„War er ja wohl auch.“

„Aber der eigentlich Schuldige war doch dieser Ullrich. Warum hat der das denn gemacht?“

„Ich glaube, er wurde gezwungen. Aber ich glaube auch, er hat das Buch nicht vernichtet, sondern nur versteckt.“

„Ach so, und dieses Buch suchst du jetzt.“

„Genau!“

„Und warum hier?“

Eigentlich wollte ich ja gar nicht, daß Lisa so genau erfahren sollte, was wir herausgefunden hatten. Aber sie wußte jetzt schon so viel - ganz abgesehen davon, was Aaron ihr vielleicht inzwischen erzählt hatte - , daß ich meine Zurückhaltung aufgab. Ich berichtete ihr von dem Testament Anton Ullrichs, das ich gefunden hatte.
Davon, daß Ullrichs Kernbibliothek, in der ich den Faust vermutete, an seinen Enkel gegangen war. Und daß dieser Enkel auch das Weghaus geerbt hatte. Schließlich noch, wie Burckhardts Vater das Haus - wahrscheinlich mitsamt den Büchern - gekauft hatte.

„Dann sind diese Bücher also noch heute in unserer Bibliothek?“

„Gut möglich.“

„Und dein Faust auch?“

„Lessings Faust, ja, das hoffe ich. Allerdings hat Nicolai wohl auch diese Zusammenhänge herausgefunden. Und er war ja schon vor mir in eurer Bibliothek.“

„Soweit ich das mitgekriegt hab, war da aber immer Onkel Hannes dabei.“

„Dann haben wir ja noch eine Chance. Können wir vielleicht jetzt mal nachsehen?“




Ich wurde langsam ungeduldig. Lisa ging dann auch mit uns hinein. Wir kamen in eine Halle, die zu einem Herrschaftshaus vergangener Zeit gepaßt hätte, aber wohl eher ein Teil des ehemaligen Gasthofs war. An den unterbrochenen Stuckverzierungen der Decke konnte man sehen, daß einige Wände neu gezogen waren, um zusätzliche Räume entstehen zu lassen. In einen dieser Räume im linken Teil des Hauses führte uns Lisa. Es war wohl eine Art Wohnzimmer. Drinnen saß Amalia Jacobi an einem Tisch, auf dem eine Kanne Kaffee und ihre gefüllte Tasse standen.
Die hob sie uns jetzt begrüßend entgegen und fragte mich, ob ich auch eine wollte. Aaron und Lisa fragte sie nicht. Wahrscheinlich hatten die ihr Frühstück schon beendet.
Etwas unschlüssig stand ich herum. Ich war eigentlich nicht zum Kaffeetrinken gekommen. Aber Lisa machte keine Anstalten, in die Bibliothek zu gehen. Sie verzog sich mit Aaron zur Polstergarnitur im hinteren Teil des Zimmers, so daß ich allein bei Malchen blieb. Die zeigte auf einen Stuhl neben sich und nickte mir zu. Also setzte ich mich erst mal. Malchen sagte:

„Hier haben wir also gewissermaßen den Freund von Herrn Schmitt. Sind Sie auch so ein seltsamer Semantiker?“

„Semiotiker? Nein. Ich arbeite ein wenig literaturwissenschaftlich. Manchmal unterrichte ich auch und schreibe ein bißchen.“

„Ehrlich? Also ein Lehrer, wie unser Sonnenschein, was?“

Ich folgte ihrem Blick zu der Sitzgruppe. Aber weder von meinem Zeichentheoretiker noch von seinem Sonnenschein war Hilfe für mich zu erwarten.

Honey Pie, you are making me crazy,
I'm in love but I'm lazy,
So won't you please come home.

Die beiden plauderten angeregt und halblaut. Anscheinend ging es über die Beatles. Ich hörte Bruchstücke wie „John“, „Yoko“ und „Abbey Road“. Ich war also Frau Jacobi hilflos ausgeliefert. Die fragte mich weiter aus. Nach meiner Arbeit und dem Verdienst, den das so mit sich brachte, nach Dortmund und meiner Beziehung zu Aaron. Dabei rückte sie immer näher und legte mir beiläufig ihre Hand auf den Arm.
Ich versuchte, den Abstand zwischen uns so groß und meine Antworten so kurz wie möglich zu halten. Mir war unbehaglich bei der Situation. Aber ganz verärgern wollte ich sie auch nicht. Wenn Aaron und Lisa nicht mehr an die Bibliothek dachten, müßte ich ja vielleicht dafür sorgen, daß Frau Jacobi mir den Zugang ermöglichte.

„Was treibt Sie denn nun gewissermaßen in unsere abgelegene Einöde“, fragte sie gerade.

Ich wollte etwas über die 'Spuren Lessings' erwidern, da ging die Tür des Zimmers auf und eine weitere Frau kam herein. Das mußte Frau Burckhardt sein. Lisa hatte mit ihrer Fürsorge wohl recht gehabt, denn sie wirkte tatsächlich noch sehr mitgenommen. Und was sie hier in ihrem Wohnzimmer sah, schien ihren Zustand nicht gerade zu verbessern. Nach einem kurzen Nicken für mich fauchte sie in Lisas Richtung:

„So sehen also die 'Nachforschungen' aus, die du mit 'auswärtigen Wissenschaftlern' unternehmen mußt! Da hätten wir ja auch zum Gottesdienst fahren können.“

Lisa sprang auf und sagte:

„Du weißt genau, daß ich nur in Notfällen in die Kirche gehe. Hättest ja Herrn Kleist fragen können. Der hängt doch sonst immer hier rum. Außerdem wollten wir gerade in die Bibliothek und anfangen.“

Sie bewegte sich auf die andere Tür des Zimmers zu. Aaron trottete sofort hinterher, und ich beeilte mich auch, aus den Fängen von Malchen zu entkommen. Die hatte jetzt anscheinend einiges mit ihrer Schwester zu bereden, denn man hörte ihre Stimmen dann noch durch die geschlossene Tür des anderen Zimmers.
Das war also die Bibliothek des Weghauses!
Der Raum hätte gemütlich ausgesehen, wenn er nicht so überladen gewesen wäre. Er quoll buchstäblich über vor Büchern. Nicht nur die Regale waren richtiggehend vollgestopft damit, auch auf jeden anderen freien Platz waren sie unordentlich, hinter- und übereinander, gestapelt. Nur auf dem Schreibtisch und überall auf der Erde lagen Landkarten und topographische oder andere Pläne. Die erregten sofort Aarons Neugier. Er begann, sie zu begutachten und hatte jetzt zum ersten Mal seit langem Lisa wieder vergessen. Sie war an der Tür stehen geblieben und sah mich entschuldigend an.

„Ich fürchte, hier herrscht ein ziemliches Durcheinander. Wird nicht so einfach sein, da etwas zu finden.“

Leider hatte sie recht.
Die Fülle der Bücher war nicht nur sowieso schon unüberschaubar, viele von ihnen waren auch noch in Schutzumschläge gehüllt, so daß man Titel oder andere Angaben erst suchen mußte.
Bei anderer Gelegenheit wäre es sicher ein Vergnügen gewesen, in diesem Gewühl zu stöbern. Aber so stöhnte ich leise auf. Aaron war beschäftigt und fiel als Hilfe wohl aus. Deshalb informierte ich Lisa, worauf sie achten sollte: Bücher mit Anton Ullrichs Signaturen, die also zu seiner Kernbibliothek gehörten.
Wir teilten uns die Arbeit auf und begannen an verschiedenen Seiten. Einen Teil des Zimmers räumten wir leer, um hier die schon untersuchten Werke abzulegen.
Bald waren wir emsig beschäftigt. Verschwunden hinter Bergen aus Büchern, die sich nach und nach auflösten und an anderer Stelle neu aufgebaut wurden. Diese Sammlung war wirklich eine Fundgrube! Ich entdeckte nicht nur mehrere Lessingausgaben, auch Leibniz war hier zu finden, die Shakespeare-Übersetzungen von Eschenburg, sogar einige Bücher über Alchimie.
Ich hatte leider nicht die Zeit, näher hinzusehen, denn ich mußte befürchten, daß wir die Arbeit sonst nicht bewältigen würden. Wenn Lisa mir nicht geholfen hätte, wäre es gleich von vornherein unmöglich gewesen.
Bald tauchten die ersten Bücher mit Anton Ullrichs Signaturen auf. Sie wurden an einen besonderen Platz gelegt, um später genauer betrachtet zu werden. In diejenigen, die ich fand, sah ich natürlich schon mal kurz hinein. Aber keines war der Faust.
Zwischendurch mußte ich einmal laut lachen. Lisa blickte irritiert von ihrer Arbeit hoch.

„Ich dachte gerade, daß Ostern ist. Und wir suchen hier wie die Kinder nach Eiern.“

„Nur, daß die Kinder öfter mal welche finden. - Aaron! Du könntest uns eigentlich helfen! Sonst werden wir ja nie fertig.“

Aaron tauchte kurz aus seinen Papieren auf:

„Ach was, ihr macht das schon. Das hier ist wirklich interessant. Alles Dinge, die ich für meine Diachronie-Pläne gebrauchen kann.“

Lisa und ich sahen uns an. Es war wohl sinnlos, Aaron noch einmal zu stören. Also arbeiteten wir weiter. Je höher der Stapel mit Büchern aus der Kernbibliothek wuchs, desto aufgeregter wurde ich. Jetzt mußte ich doch ganz nahe am Ziel sein!
So versunken in meine Arbeit war ich, daß ich nicht merkte, wie Malchen ins Zimmer kam. Ich sah erst hoch, als Lisa sagte:

„Amalia, läßt du wohl die Finger von den Büchern!“

Zielstrebig war Malchen gleich zu den Bänden mit der Kernbibliothek gegangen. Sie
hatte ein Buch in der Hand gehabt, das sie jetzt aber wieder hinlegte.

„Was macht ihr denn da bloß? Ist es gewissermaßen ein Geheimnis?“

„Für dich schon. Laß uns in Ruhe!“

Widerwillig ging sie hinaus. Wir suchten weiter. Ich vergaß die Zeit, aber es muß schon einige Stunden gedauert haben, bis wir endlich fertig waren. In einer Ecke des Zimmers lagen fein säuberlich aufgebaut etwa 30 Bücher: Anton Ullrichs Kernbibliothek!
Wir sortierten sie nach den Original-Signaturen. Dabei wurde, was ich die ganze Zeit schon befürchtet hatte, zur traurigen Gewißheit: Drei Bücher fehlten!
Das mußte noch nichts besagen. Der Faust konnte immer noch unter den anderen Büchern sein, die hier vor uns lagen. Aber ich war doch schon ziemlich mutlos.
Natürlich betrachtete ich jetzt trotzdem alle Bücher der Reihe nach sehr genau. Das Manuskript konnte ja auch zwischen die Seiten eines anderen Buches geklemmt oder geklebt worden sein. Lisa sah mir gespannt zu. Der Stapel der untersuchten Bücher wurde größer und der andere immer kleiner, bis er schließlich aufgebraucht war.
Der Faust war nicht dabei.
Verzweifelt sah ich Lisa an. Die schien etwas zu überlegen.

„Warte mal, mir fällt gerade ein, daß Horst hier auch schon mal alleine eine ganze Weile rumgestöbert hat. Ich meine, danach ist er mit ein paar Büchern unter dem Arm wieder rausgekommen.“

Meine Hoffnung stieg ein bißchen:

„Was hat er damit gemacht?“

„In den Garten gegangen. Ich hab gedacht, um draußen darin zu lesen.“

„Überleg genau, hast du gesehen, wie er wiederkam? Hat er sie da noch gehabt?“

„Laß mich nachdenken. ... Ich glaube, ... nein. Nein, ich bin mir sicher. Im Haus hatte er die Bücher nicht mehr.“

„Das Gartenhaus! Er hat sie ins Gartenhaus getragen!“

„Dann los! Laß uns nachsehen.“

„Dürfen wir denn da überhaupt rein?“

„Na klar! Das haben sie ja nun wohl genug durchsucht. Jetzt ist auch kein Siegel mehr dran. - Komm, Aaron! Wir gehen!“

Wie aus einer Trance erwacht, schreckte Aaron hoch. Ungläubig blickte er im Raum umher und staunte über die Veränderung. Mit demselben ratlosen Blick sah er dann auf Lisa.
Ich kannte Aaron gut genug, um zu wissen, daß man ihn aus diesem Zusammenhang jetzt nicht losreißen konnte. Ich hatte es auch inzwischen aufgegeben, ihn wieder für den Faust zu interessieren. Lisa versuchte es trotzdem, hatte aber keinen Erfolg. Also gingen wir ohne ihn los.
Draußen gesellte sich wieder Rollo zu uns. Er merkte gleich, daß ich keine Zeit hatte, mit ihm zu spielen, folgte uns aber trotzdem. Offensichtlich bewegten wir uns in seinem Territorium, und er mußte aufpassen, daß alles seine Richtigkeit hatte.
Auf dem Hof war noch jemand, der sich für unsere Aktivitäten interessierte. Malchen fragte ohne große Umschweife, wo wir hinwollten. Lisa sagte nur:

„Zum Gartenhaus. Aber nur, wenn's recht ist.“

„Ehrlich? Da dürft ihr nicht hin! Das würde Kommissar Widemann gar nicht mögen.“

„Blödsinn. Das Gartenhaus ist nicht mehr versiegelt, weißt du doch am besten.“

„Aber was wollt ihr denn da? Ist doch total gruselig, gewissermaßen!“

„Dann bleib du mal hier. Wir können dich da sowieso nicht gebrauchen.“

Malchen betrachtete das als Aufforderung mitzukommen. Sie spazierte neben uns her und machte noch weitere Versuche, uns von unserem Vorhaben abzuhalten. Dabei benahm sie sich beinahe hysterisch. Lisa beachtete sie nicht weiter. Am Gartenhaus angekommen, schob sie mich hinein, kam hinterher und schlug Malchen die Tür vor der Nase zu. Rollo war aber noch mit hineingeschlüpft. Vermutlich gehörte das Gartenhaus auch zu seinem Revier.
Drinnen lag alles wild durcheinander. Die Polizei hatte bei ihrer Spurensicherung ganze Arbeit geleistet und keinen Winkel ausgelassen. Sogar die Verkleidungen von den Wänden waren entfernt worden, und vor dem Kamin zeugte ein Rußhaufen ebenfalls von dieser gründlichen Durchsuchung.

Now Rocky Raccoon, he fell back in his room
Only to find Gideons Bible
Gideon checked out and he left it no doubt
To help with good Rocky's revival.

Zumindest brauchten wir keine Ecken oder Schränke mehr zu durchwühlen. Alles, was es hier zu finden gab, lag schon offen herum. Deshalb sahen wir auch gleich die Bücher. Es waren allerdings nur zwei, und nicht drei, wie gehofft. Sofort schlug ich beide auf. Das erste war eine bekannte Biographie Lessings. Ich blätterte vorsichtshalber darin, um nichts zu übersehen. Das Kapitel über die vermutliche Entstehung des Faust war angekreuzt!
Na, immerhin. Das andere Buch handelte direkt vom historischen Doktor Faust und den verschiedenen bekannten literarischen Umsetzungen.
Nahe dran, so nahe dran! Und doch, nicht nahe genug.
Verzweifelt blickte ich auf Lisa. Sie war von meinem Fieber angesteckt worden und jetzt genauso enttäuscht wie ich. Ich bat sie, noch einmal nachzudenken, ob Horst damals zwei oder drei Bücher weggetragen hatte. Sie sagte:

„Tut mir leid. Mehr als eins war es, das weiß ich bestimmt. Aber ob es jetzt zwei oder drei gewesen sind, kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen.“

Ich nahm das letzte Buch noch einmal zur Hand. Im Inhaltsverzeichnis sah ich, daß es hier auch ein Kapitel zu Lessings Faust gab. Ich schlug die Seiten auf und suchte nach - ja, wonach eigentlich? Ich wußte es nicht. Beim Blättern stolperte ich an einer Stelle. Eine Seite war dicker als die anderen. Nein, es waren zwei Seiten, die zusammengeklebt waren!
Vorsichtig löste ich sie voneinander. Dazwischen lag ein weiteres Blatt, das einmal geknickt war. Gespannt falteten wir es auseinander. Es war ein Brief. Von Anton Ullrich an seinen Enkel.


Mein geliebter Anton,
daß du nunmehr diesen Brief liesest, bezeugt dein Interesse an einer Sache, die meinem ganzen Leben zu einer nimmer endenden Pein gereicht ist.
Ungezählt sind die Stunden, da ich vor Gram gebeugt nach einem Ausweg gesonnen. Wie sehr war ich bestrebt, das Vorgefallene ungeschehen zu machen! Immer wieder habe ich mir das Hirn zermartert, wie solches zu bewerkstelligen sei!
Allein, ich vermochte nicht zu tun, was du jetzo an Meiner statt vollbringen magst:
Nimm den Band, der diesem folgt, zur Hand. Entferne die Hülle, die aus dem Umschlag und einigen Dutzend Seiten am Anfang und am Ende besteht. Und hebe so das verborgene Werk aus dem Dunkel ans Licht der Welt.
Führe das Vermächtnis des edlen Verstorbenen seiner Bestimmung zu.
Übergebe den
Faust der geneigten Öffentlichkeit!
Und bete für die Seele
deines schuldbeladenen
armen
Großvaters
Anton Ullrich I.

Wir sahen uns an. Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Der Brief bedeutete eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute war, ich hatte mich nicht getäuscht. Ullrich hatte wirklich den Faust aufgehoben und versteckt, und zwar in seiner Kernbibliothek!
Die schlechte Nachricht war, genau dieser Band fehlte.
Vieles sprach jetzt dafür, daß Horst ihn hatte. Aber warum suchte er dann noch weiter danach? Vielleicht hatte er ja das Buch, wußte aber gar nicht, was es in Wirklichkeit war? Auf jeden Fall war es mir lieber, Horst hatte den Faust gefunden als Nicolai. Er würde ihn wenigstens nicht vernichten. Als Journalist mußte er doch eigentlich sogar an der Veröffentlichung interessiert sein. Oder verfolgte er etwa andere Pläne?
Es half gar nichts. Ich mußte jetzt selber mit ihm reden. Horst Wagner mußte her.
Aber wo war er?
Rollo sah mich verschwörerisch an und bellte wissend.




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