Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König
Kapitel 18
Kapitel 18: Replay
„Lächerlich“, dachte Karl Roland, „einfach nur lächerlich!“
Aber so war es immer. Wenn er sich hinterher den Anlaß ihres Streits in Erinnerung rief, war es immer nur eine Kleinigkeit gewesen. Genau wie diesmal. Ein Bild hatte sie umgehängt, im Arbeitszimmer, ohne ihn zu fragen. Eine Kleinigkeit.
Er hätte die Aktion einfach rückgängig machen können, ohne es an die große Glocke zu hängen. Aber es war die dahinterstehende Absicht, die ihn so aufbrachte. Sie wußte genau, daß er dieses Bild liebte, daß es immer da gehangen hatte und auch dort bleiben sollte. Außerdem war das Arbeitszimmer sein Reich, in das sie eingedrungen war.
Sie hatte ihn damit ganz gezielt ärgern wollen. Und es war ihr gelungen. Er vermißte das Bild natürlich sofort. Aber auch wenn das nicht so gewesen wäre, hätte der unerwartete Anblick ihn früher oder später irritiert. Veränderungen in seiner Arbeitsumgebung konnte er nämlich nicht ertragen. Besonders wenn er nachdachte, mußten alle Dinge an ihrem vertrauten Platz sein. Er brauchte das als Folie für seine Gedanken, die dann ungestört wandern konnten auf Pfaden, die eben nicht vertraut waren.
In der Erinnerung spürte Karl wieder den brennenden Schmerz in seiner Magengegend. Ihre Boshaftigkeit konnte ihn noch jedesmal treffen. Und wenn er die Verletzungen runterschluckte, sammelten sie sich an. Tief in seinen Eingeweiden wuchsen sie zu einem Berg unterdrückter Wut.
Gelegentlich mußte er einfach etwas von dieser Wut herauslassen. So war es diesmal gewesen. Er hatte sich gewehrt. Das Ende ihres Streits war dann wieder einmal, daß er die Nacht im Gästezimmer verbracht hatte.
Dort hatte er nur schlecht schlafen können, und deshalb war er auch schon so früh aufgewacht. Der Begegnung mit ihr am Morgen war er aus dem Weg gegangen, indem er das Haus dann sofort verlassen hatte. Jetzt war er im Park unterwegs.
Mißmutig verscheuchte er die Enten, die sich um ihn versammelt hatten. Keine Fütterungszeit. Er hatte nicht einmal für sich selbst etwas zu essen mitgenommen. Er ging weiter auf dem Weg an der Oker entlang. Die Sonne war noch nicht lange zu sehen, und die frische Morgenluft durchschauerte ihn. Vielleicht kam diese Kälte, die ihn gepackt hatte, aber auch aus seinem Inneren. Plötzlich fiel ihm ein, daß er sich auf einem Osterspaziergang befand.
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Die Zeilen, die er noch aus der Schulzeit kannte, ließen ihn an die Eisschicht denken, die über seinem Leben lag. Er sah für sich keinen Frühling kommen, der ihn daraus befreien würde. Das mußte er schon selbst tun.
Karl blickte auf die Oker, die hier beinahe zugewachsen war und sich, versteckt hinter dichtem Gebüsch, durch den Park schlängelte. Sie war nicht gefroren gewesen, oder er hatte es diesmal gar nicht bemerkt. Eigentlich war er sich überhaupt nicht sicher, daß dies hier wirklich die Oker war. Er hatte sich angewöhnt, so ziemlich alles, was in Wolfenbüttel floß, mit diesem Namen zu belegen. Ganz falsch war das wohl auch nicht. Sogar der Graben um das Schloß wurde irgendwie unterirdisch von ihr gespeist. Glaubte er.
Das Gebäude lag noch halb verborgen hinter den großen Bäumen des Parks zu seiner Rechten. Es sah wirklich eindrucksvoll aus. Die Entfernung legte sich wie ein Weichzeichner über die Spuren des Verfalls an den Wänden. Ein altes Lied kam ihm in den Sinn.
It's been a long long long time
How could I ever have lost you
When I loved you
So many years I was searching
So many tears I was wasting
Oh oh
Karl sah auf das Schloß und dachte dabei an sein Leben. Aus der Ferne mußte seine Ehe auch eindrucksvoll wirken. Er war der erfolgreiche Geschäftsmann, der es ganz nebenbei zu einigem Renommee als Schriftsteller gebracht hatte. Und die Frau an seiner Seite schien die ideale Ergänzung zu sein. Sie spiegelte durch ihre Erscheinung, die sie gewissenhaft pflegte, seine Bedeutung wider. Gab ihrer Beziehung den äußeren Glanz, während er die inneren Werte beisteuerte. Deshalb waren sie auf den Empfängen der Wolfenbütteler Gesellschaft überall gerne gesehen. Und sie liebte es, sich dort in seinem Ansehen zu sonnen. Aber in den eigenen vier Wänden sah es anders aus. Dort machte sie keinen Hehl daraus, daß sie seine kreative Arbeit für bloße Zeitverschwendung hielt.
„Nie machst du etwas!“, warf sie ihm oft vor. Dabei erschuf er eine ganze Welt in seinen Romanen, während sie nur scheinbar geschäftig hin und her wuselte. Und wenn alles geputzt war, mußte eben umgeräumt werden.
Sie hatte kein Verständnis für die Dinge, die ihn interessierten. Ständig zwang sie ihn zu irgendwelchen Aktivitäten, die ihm eigentlich zuwider waren. Um des lieben Friedens willen gab er dann oft nach, aber auch das befriedigte sie nicht wirklich.
Wieder sah Karl zum Schloß. War die Fassade nicht neulich erst renoviert worden? Das Gebäude selbst fand er zwar ganz reizvoll, aber er liebte es nicht, sich durch die Touristen zu wühlen. Hier gingen immer alle zuerst hin. Außerdem war da inzwischen eine Schule eingerichtet worden. Das bedeutete, daß Horden von Kindern mit ihren Fahrrädern sich dort herumtrieben. Auch etwas, das er nicht liebte.
Karl Roland hatte keine Kinder. Vielleicht war das ja der Grund dafür, daß es ständig Streit mit seiner Frau gab. Sie hätte wohl gerne welche gehabt. Er hatte immer neue Ausreden gefunden, bis es dann irgendwann zu spät gewesen war. Er fragte sich, ob er das jetzt bereute. Nein! Kinder wären nur eine weitere Störung in seinem Tagesablauf gewesen. Etwas, das ihn daran hindern würde, sich in seiner Welt zu bewegen. In seinen Romanen. Und da konnte er Kinder erschaffen, soviel er wollte - wenn er es wollte.
Ohne es zu merken, war er auf das Schloß zugegangen. Heute, am Ostermontag, würden dort keine Kinder sein, für Touristen war es auch noch ein bißchen früh. Also vielleicht eine Gelegenheit für ihn, das Gebäude mal wieder aus der Nähe anzusehen.
* | * | * |
Er hatte die neue Fährte schon gestern aufgenommen und sie den ganzen Tag über verfolgt. Diese Mühe hatte zwar zu keinem Ergebnis geführt, doch die Vermutung, daß der Journalist auf derselben Suche war wie er selbst, war jetzt zur Gewißheit geworden. Und das erleichterte seine Aufgabe. So konnte er zwei Dinge gleichzeitig erledigen.
Aber welche Motive trieben seinen neuen Gegenspieler? Habgier nicht. Das konnte er sehen. Aber ehrenhaft waren seine Beweggründe auch nicht. Er wirkte irgendwie besessen. Genau wie die beiden anderen.
Heute wäre er ihm beinahe entwischt. Er hatte nicht damit gerechnet, daß Wagner schon so früh auf den Beinen sein würde. Dann war er ihm gefolgt bis in die verschlafene Innenstadt. Zu dieser frühen Stunde des Feiertags gab es nur wenige Menschen auf der Straße. Wo hätten sie auch hingehen sollen? Die Kneipen und Cafés blieben genauso geschlossen wie die Geschäfte.
Was könnte Horst Wagner zu diesem zeitigen Aufbruch veranlaßt haben? Wollte er etwas tun, was keine Zeugen vertrug? Jemanden treffen, der nur jetzt unbemerkt in die Stadt kommen konnte? Ein Osterspaziergang war dies jedenfalls nicht. Soviel stand fest.
Ein einsames, älteres Ehepaar begegnete ihm. Sie waren die einzigen Spaziergänger auf diesem Teil der Langen Herzogstraße. Die Frau betrachtete ihn mißtrauisch, weil er anscheinend grundlos vor der Bäckerei stand. Langsam gingen sie an ihm vorbei. Die Frau sah ihn dabei interessiert an.
She's not a girl who misses much
Er drehte sich zum Schaufenster. Beobachtete die beiden im Spiegel der Scheibe. Die Frau blieb stehen und musterte ihn abschätzend. Wahrscheinlich fragte sie sich, was er hier trieb.
She's well acquainted with the touch of the velvet hand,
Like a lizard on a window pane
Jetzt blickte sie auch in das Glas. Schien die Auslagen zu begutachten. Ihre Augen begegneten sich. Für einen Moment wurde er unsicher. Er löste seinen Blick von ihr und starrte konzentriert auf ein Preisschild im Fenster.
Lying with his eyes while his hands are busy working overtime
Ihr Mann zog an ihr. Ihm war die Begegnung offenbar peinlich. Er wollte weiter.
I need a fix 'cause I'm going down
Fast hätte er den Journalisten aus den Augen verloren. Der ging inzwischen schon auf das Kaufhaus zu. Er mußte die Verfolgung wieder aufnehmen.
Mother Superior jump the gun
Er hatte die Worte auf den Asphalt gespuckt und so noch einmal das Interesse der Frau geweckt, die sich wieder nach ihm umdrehte. Er beachtete sie jetzt nicht mehr.
Wagner bog in den Großen Zimmerhof ein. Er ging ihm mit reichlich Abstand hinterher. In der kleinen Straße gab es zum Glück Baugerüste, die ihm Deckung boten. So blieb er weiter unbemerkt. Am Ende der Straße überquerte Wagner die Oker, wandte sich dann nach rechts und ging den Schulwall entlang. Hier war es nicht so leicht, ihm zu folgen. Auf der breiten und leeren Straße mußte jeder Fußgänger sofort auffallen, und nur einzelne Bäume und Hauseingänge versprachen Schutz.
Sie kamen in die Nähe des Eingangs zum Schloßpark. War dies das Ziel des Journalisten? Er ging darauf zu und hinein. Oder? Nein! Doch nicht. Aus der Entfernung hatte es getäuscht. Wagner war in einem Haus neben dem Eingang verschwunden. Das mußte die alte öffentliche Toilette sein. Stehenbleiben konnte er hier nicht, also ging er weiter und versteckte sich auf der anderen Straßenseite in der Auffahrt zum Parkhaus. Von da aus beobachtete er das Gebäude.
Sollte dies ein geheimer Treffpunkt sein?
Da kam Wagner schon wieder heraus. Für ein Treffen wäre das eher kurz gewesen. Er sah genau hin. Trug der Journalist etwas bei sich, was er vorher nicht gehabt hatte? Nein. Er war auch zu leicht gekleidet, als daß es in einer Tasche verschwunden sein konnte. Also wohl eher nicht.
Außerdem hätte er dann ja umkehren müssen. Er ging aber genauso zielstrebig weiter wie vorher. Jetzt sah es so aus, als ob er zum Schloß wollte.
* | * | * |
Karl Roland kam auf seinem Weg zum Schloß an einer Bank vorbei, auf der eine jüngere Frau saß. Sie war ziemlich auffällig farbenfroh gekleidet. Besonders ihr großer Hut sprang ins Auge. Ein alter Schlapphut, wie er ihn noch von seinem Großvater kannte. Allerdings war er modisch aufpoliert worden, mit Straß und bunten Stickereien verziert. Außer diesem Hut nahm er die Gestalt der Frau gar nicht richtig wahr. Er wunderte sich zwar, daß sie um diese Zeit hier alleine im Park saß, beachtete sie aber nicht weiter.
Als er jedoch schon beinahe vorbeigegangen war, bewegte sich der Hut, und eine Stimme, die ihm irgendwie bekannt erschien, rief ihm zu:
„Na, wenn das nicht Karl Roland ist!“
Karl blieb stehen und drehte sich zu der Bank um. Er wußte nicht, wo er die Frau hinstecken sollte. Sie hatte dieses Problem wohl nicht.
„Sag bloß, du kennst mich nicht mehr! Denk mal an deine Schulzeit zurück!“
Jetzt fiel es ihm ein. Natürlich. Malchen Jacobi. Sie waren ein Jahr in dieselbe Klasse gegangen, bevor sie sitzengeblieben war. Danach hatten sie sich nur noch selten und zufällig getroffen. Und jetzt schon sehr lange überhaupt nicht mehr. Er konnte nicht sagen, ob ihn dieses Zusammentreffen freute, oder ob er lieber schnell vorbeigehen sollte. Aber Malchen ließ ihm gar keine Wahl. Sie war von der Bank aufgesprungen und begrüßte ihn überschwenglich. Daß sie ihn nicht umarmte, war alles. Karl wich ein wenig zurück. So vertraut war ihr Verhältnis doch eigentlich nie gewesen. Malchen hatte da anscheinend andere Erinnerungen. Jedenfalls ließ sie ihn nicht mehr entkommen und zog ihn zurück zu der Bank, wo sich beide dann hinsetzten.
Karl fühlte sich unsicher in der Situation, und aus purer Verlegenheit fragte er sie, wie es ihr in letzter Zeit ergangen war.
„Nicht so berühmt. In unserer Abgeschiedenheit ist es ja eher eintönig. Obwohl: Zuletzt ist doch einiges bei uns passiert. Die Dinge ändern sich, gewissermaßen.“
Er mußte jetzt natürlich nach diesen auffälligen Ereignissen fragen, und Malchen berichtete ihm lang und breit von den Vorkommnissen im Weghaus. Das Ganze kam ihm vor wie eine seiner Romanhandlungen. Irgendwie nicht wirklich. Besonders nicht im Zusammenhang mit Malchen Jacobi, die er immer für unscheinbar und langweilig gehalten hatte.
Aber sie hatte sich inzwischen offenbar verändert. Dinge änderten sich eben. „Für mich nicht“, dachte er und ertappte sich dabei, daß eine Spur von Neid in ihm aufstieg, als er Malchen so wortreich erzählen hörte. Sie sparte nicht mit grausigen Details, besonders des zweiten Mords. Den Knalleffekt aus ihrer Sicht, nämlich ihr unerwartetes Erbe, hob sie sich bis zuletzt auf. Aber bevor sie noch dazu kommen konnte, wurde sie von Karl unterbrochen:
„Du liebe Güte! Das ist ja alles kaum zu glauben! Und da sagst du, dein Leben ist eintönig!“
„Je nun, die Dinge ändern sich.“
„Für mich nicht“, sagte er, diesmal laut. „Bei mir gibt es so etwas Aufregendes nur in meinen Romanen.“
„Du schreibst Romane?“
Jetzt staunte Malchen. Karl erzählte ein bißchen, fast schüchtern, von seinen bescheidenen literarischen Erfolgen, und sie sah ihn beinahe ehrfurchtsvoll an.
„Daß du sowas kannst! Ist das nicht gewissermaßen unheimlich schwer? Allein sich das alles zu merken, damit du nicht durcheinander kommst!“
„Ach, halb so wild.“
„Na, hör mal! Ich hab schon Schwierigkeiten, alles im Kopf zu behalten, wenn ich Diana mal ein bißchen anflunkere. Und du erfindest Geschichten, die hundert Seiten lang sind!“
„Eher 500“, sagte er mit einem leichten Lächeln.
Malchens Bewunderung kannte keine Grenzen mehr. Ein richtiger Schriftsteller! Da kam Lisa mit ihrem komischen Gelehrten aber nicht mit. Die würde platzen, wenn sie das erst hörte. Karl genoß die Aufmerksamkeit. Bei seiner Frau konnte er auf sowas lange warten. Die machte seine Arbeit immer schlecht, blickte verächtlich auf seine 'Schreiberei' herab. Er erzählte Malchen bereitwillig, mit welchen Techniken er arbeitete, und wie er sich im Moment mit einem widerspenstigen Charakter seines neuen Romans herumschlagen mußte. Malchen hing an seinen Lippen. Dabei hörte sie gar nicht wirklich zu. Sie genoß es ihrerseits, daß ein berühmter Mann - in ihren Augen war jeder berühmt, von dem etwas gedruckt wurde - mit ihr über seine Arbeit redete. Das wäre früher bestimmt nicht gegangen. Dabei hatte sie noch nicht einmal das Geld erwähnt. Trotzdem mußte sie wohl eine deutliche Wirkung auf Karl Roland ausüben. „Dinge ändern sich“, dachte sie wieder und lächelte. Karl sagte:
„Wenn du willst, schenke ich dir ein Buch. Dann kannst du selber mal lesen und mir dann sagen, wie es dir gefällt.“
„Unbedingt! Alle deine Bücher muß ich unbedingt haben.“
„Na ja. Sind erst drei. Das neue nicht mitgerechnet.“
„Vier Bücher hast du schon geschrieben? Wo nimmst du bloß die Zeit dafür her?“
„Na ja, ich ...“
„Da ist deine Frau bestimmt mächtig stolz auf dich, was?“
„Ach nein, nicht wirklich.“
„Ehrlich? Das kann doch nicht sein!“
„Ist aber so. Weißt du, ich glaube, sie interessiert sich überhaupt nicht mehr so richtig für mich.“
„Ach, du Armer! Dann bist du ja gewissermaßen auch ziemlich einsam.“
„Ja, schon. Wenn ich nicht meine Bücher hätte.“
„Wir können ja mal was zusammen unternehmen.“
„Gerne. Wie wär's denn gleich heute? Am Abend ist doch auf dem Schloßplatz das große Osterfeuer. Hast du Lust, da hinzugehen?“
„Weiß ich noch nicht. Wenn ich's einrichten kann. Du kannst mich ja nachher anrufen. Dann sag ich dir Bescheid. Jetzt muß ich aber weiter.“
„Wo willst du denn hin?“
„Eine geschäftliche Verabredung gewissermaßen, aber nichts Besonderes.“
„Geschäftstüchtig bist du jetzt auch noch? Alle Achtung!“
„Die Dinge ändern sich.“
„Nicht für mich“, flüsterte Karl, nachdem sie schon ein paar Schritte weit weg war. Er blieb auf der Bank sitzen. Dann dachte er: „Wieso eigentlich nicht? Warum soll sich für mich nicht auch etwas ändern? So alt bin ich doch noch gar nicht.“
Als er Malchen hinterher sah, wie sie langsam aus seinem Blickfeld verschwand, kroch das Lied in ihm hoch. Er sang es erst leise, dann immer lauter.
Hold your head up you silly girl
Look what you've done
When you find yourself in the thick of it
Help yourself to a bit of what is all around you
Silly girl
Take a good look around you
Take a good look around to see
That you and me were meant to be
For each other
Silly girl
* | * | * |
Er stand vor dem Schloß und blickte auf den Platz, der in unbarmherziges Licht getaucht war. Die Pflastersteine glitzerten in der Morgensonne wie Eis. Ihre Kälte erfaßte ihn und kroch unter seine Kleidung. Gleichzeitig schloß die grelle Helligkeit ihm die Augen. Trotzdem konnte er alle Gebäude deutlich sehen.
Links von ihm das Lessinghaus und dahinter die Bibliothek. Rechts daneben begann das Zeughaus und zog sich an der Seite des Platzes in die Länge. Ihm gegenüber lag das Meißnerhaus, der Durchgang zu den Krambuden, dann die letzten einzelnen Häuser der ursprünglich geschlossenen Bebauung. Und ganz zu seiner Rechten das Kleine Schloß.
I look at you all
See the love there that's sleeping
While my guitar gently weeps
Er sah all diese Zeugen aus Stein und spürte ihren Schmerz. In Hunderten von Jahren hatten sie unzählige Erinnerungen gespeichert. Jahrmarkttreiben konnte er fühlen, Menschen, die ihr Leben vertändelten. Dann andere, denen es genommen wurde. Soldaten sah er, die stolz ihre Uniformen und Waffen zeigten, und solche, die zusammengetrieben wurden wie Vieh und darauf warteten, nach Übersee verschifft zu werden. So viele Menschen waren hier gekommen und gegangen.
I look at the world
And I notice it's turning
While my guitar gently weeps
Abrupt drehte er sich um. Die Statuen vor dem Schloß blickten mit ihren seltsam toten Augen auf ihn herab. Ihre Schönheit war durch die Jahre zu einem Zerrbild geworden. Aber war sie denn jemals etwas anderes gewesen? Lebendige Bewegung erstarrt zu einem Abbild. In Stein festgehalten. Mit Gewalt bewegungslos gemacht, leblos, tot.
I look at you all
Still my guitar gently weeps
Er setzte sich auf die Bank an der Brücke. Fühlte den Stein unter sich und legte die Hände auf seine zerfaserten Oberflächen. Auch hier die Spuren von Gewalt. Menschlicher Wille hatte sich tief eingegraben in die ursprüngliche Natur. Unendliche Trauer breitete sich über ihn aus.
The eagle picks my eye
The worm he licks my bone
I feel so suicidal just like Dylan's Mister Jones
I'm lonely
Wanna die
Ein Geräusch holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Es war vom Schloß gekommen. Umsichtig holte er eine Zeitung aus seiner Tasche und versteckte sich dahinter. Aber die Frau, die jetzt aus dem Innenhof trat, hatte auch kein Interesse daran, erkannt zu werden. Sie zog sich ihren großen Schlapphut noch dichter ins Gesicht und hastete schnell an ihm vorbei.
Sie war lebendig, die einzige lebende Seele unter all diesen steinernen, toten Zeugen. Er beobachtete sie, wie sie schnell quer über den Platz auf die Leibnizstraße zuging. Ihre Bewegungen waren so geschmeidig und schnell, daß es aus einiger Entfernung aussah, als rollte sie dahin, wie von Schienen gehalten, die ihr die Richtung vorschrieben.
I feel so suicidal
Even hate my Rock 'n' Roll
Wanna die
Er überlegte, ob er ihr folgen sollte, konnte sich aber noch nicht entscheiden.
Über dem Turm des Schlosses kreisten Raben. Ihre Schreie hallten weit über den Platz.
If I ain't dead already
Girl, you know the reason why
* | * | * |
Karl Roland saß noch immer auf der Bank im Park. Die unerwartete Begegnung hatte ihn für eine Weile aus seiner Gedankenwelt gerissen und ihm die Wirklichkeit gezeigt.
Einen Moment lang hatte er geglaubt, in dieser Wirklichkeit gäbe es auch einen Platz für ihn. Jetzt war der Moment vorbei, und er war zurückgekehrt in seine Traumwelt. Zum Glück konnte er träumen. Das war eins ums andere Mal seine Rettung gewesen vor der Verzweiflung, die ihn sonst erfaßt hätte.
Außerdem waren seine Träume die Quelle für die erfundenen Welten in seinen Romanen. Gewohnheitsmäßig überlegte er, ob sich die Unterhaltung von eben literarisch verwerten ließ. Er klopfte sie ab auf Bilder oder Dialoge, die entlehnbar waren. So konnte er sich selbst in dieser Unterhaltung sehen aus der gebrochenen Distanz des Beobachters.
Hatte er sich eigentlich lächerlich gemacht? War ihm die unverhohlene Bewunderung der Frau zu Kopf gestiegen? Schon möglich. Aber eben war ihm das nicht so vorgekommen. Hatte sie mit ihm geflirtet? Er glaubte, ja. Und er war darauf eingegangen.
Karl mußte lächeln. Das war eigentlich gar nicht seine Art. Zumindest lange Zeit nicht mehr gewesen. Aber die Lust, wieder einmal das echte Leben zu spüren, war ihm in die Adern geschossen. Und die Neugierde. Es war eine Frage, die ihn schon lange beschäftigte: War er noch fähig zu fliegen? Nicht nur in Träumen, das war ja leicht. Nein, in der wirklichen Welt. Malchen hatte ihm diese Möglichkeit angeboten. Und heute abend auf dem Fest würde er weitersehen.
Aber warum so lange warten? Sie war zum Schloß gegangen. Da hatte er ja sowieso hin gewollt. Wenn er jetzt aufbrach, würde er sie bestimmt noch einmal treffen. Kurz entschlossen erhob er sich und setzte sich in Bewegung.
Als er auf den Platz vor dem Gebäude trat, war weit und breit niemand zu sehen. Schade. Vielleicht aber auch nicht. Er sollte ihr besser nicht zu offensichtlich hinterherlaufen. Lieber später anrufen! Und er durfte es nicht zu dringend machen. Sie sollte das Gefühl haben, er würde ihr einen Gefallen tun, mit der Einladung. Nicht umgekehrt.
In Gedanken blickte er auf das Schloß. Die Außenflächen waren tatsächlich in letzter Zeit renoviert worden, oder gesäubert. Es machte jedenfalls einen ordentlichen, gepflegten Eindruck.
„Sieht aus wie neu“, dachte er. Ganz anders aber die Statuen, die um die Mauer herum standen. Die wirkten so, wie sie auch waren: sehr alt. Der Zahn der Zeit hatte ihre einst glatte Oberfläche zerbröselt und ihnen teilweise groteske Verletzungen zugefügt.
Noch älter kamen ihm die Steinbänke an der Brücke vor. Unentschlossen ging er auf sie zu. Weil er dabei an der Fassade hochsah zu den unzähligen Fenstern, wäre er beinahe gefallen, als sein Fuß an einen großen Stein stieß, der dort mitten im Weg lag. Er hob ihn auf, um ihn beiseite zu räumen.
Wahrscheinlich hatten die Kinder ihn hierher getragen. Ein Wunder, daß sie der Versuchung widerstanden hatten, ihn in eine der neuen Fensterscheiben zu werfen. Für die Entfernung war er ja vielleicht auch zu groß. Nachdenklich blickte er auf den Stein, so als ob er jetzt selbst diese Möglichkeit erwog.
Da entdeckte er die dunklen Flecken, die noch frisch waren. Konnte das Blut sein? Er grinste. Bestimmt war es eher Ketchup, der den Kindern aus ihrem Fast-Food-Essen getropft war.
Karl warf den Stein in den Schloßgraben.
Wo er jetzt schon einmal hier war, könnte er doch auch einen Blick in den Innenhof werfen. Er überquerte die Brücke und trat durch das Tor. Die alte Kanone hatte einen frischen Anstrich bekommen. Ebenso wie die Säulen der Arkadengänge. Die Wände dahinter waren naturbelassen, aber sauber. Er staunte. Bei so vielen Kindern, die hier ständig ein- und ausgingen, hätte er Schmierereien an den Wänden erwartet. Die gab es aber nicht.
In der Mitte des Hofes drehte er sich um sich selbst. Ein schöner Ort, obzwar von einer leicht düsteren Atmosphäre geprägt, die er sich gar nicht erklären konnte. Vielleicht kam es daher, daß hier jegliches Leben fehlte. Das Schloß hatte heute keine Bewohner und außer ihm auch keine Besucher.
In der hintersten linken Ecke lag ein Bündel Kleidungsstücke. Das störte die Ordnung, die hier sonst herrschte, doch erheblich. Eine unbestimmte Neugier zog ihn in diese Richtung. Aus der Nähe bemerkte er, daß das Bündel in Wirklichkeit ein Mensch war. Wohl ein Obdachloser, der sich hier ein Lager gesucht hatte.
Karl fühlte sich peinlich berührt, wie wenn er unversehens und unbeabsichtigt zu jemandem in dessen Schlafzimmer getreten wäre. Er wollte sich schnell umdrehen und gehen, als ihn der Blick des Mannes festhielt. Es war ein Blick aus stummen Augen, seltsam starr in die Ferne gerichtet. Der Mann war tot!
Alles in seinem Innern trieb ihn dazu wegzulaufen, und doch ging er statt dessen noch näher heran. Da sah er das Blut, das aus dem Hinterkopf des Mannes geflossen war. Als ob Karl erst jetzt wirklich glauben konnte, daß der Mann tot war, nachdem er die Wunde gesehen hatte, durchfuhr ihn der Schrecken mit seiner ganzen Gewalt. Er drehte sich um und floh von diesem Ort. Wie irrsinnig stolperte er dabei fast über die eigenen Beine. Er wollte nur noch weg. Trotzdem nahm er noch ein Detail wahr, ohne zu wissen, warum ihm gerade das aufgefallen war:
Aus der Jackentasche des Toten schaute eine gefaltete Tageszeitung hervor. Es war ein Exemplar der Braunschweiger Zeitung.
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