Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König

Kapitel 19





Kapitel 19: Sound off



Die Herzöge hatten Wolfenbüttel im 18. Jahrhundert den Rücken gekehrt. Wahrscheinlich war ihnen die Beschaulichkeit ihres Herrschaftssitzes auf die Nerven gegangen, und sie wollten gerne in etwas größerem Maßstab residieren. Ihre eigene Provinzialität im Vergleich zu den wirklich bedeutenden Höfen Europas hatten sie allerdings mitgenommen. So machten sie Braunschweig zu einem Wolfenbüttel im Großen: Die Straßen wurden breiter, die Gebäude höher und die Schlösser prunkvoller. Der Geist aber, der über allem herrschte, blieb kleingeistig und rückschrittlich. Braunschweig war deshalb letzten Endes genauso beschaulich wie die alte Residenz, nur eben größer.
Und das ist bis heute so geblieben.
Die Stadt wirkt ebenso verschlafen wie Wolfenbüttel und ist geprägt von demselben wehmütigen Festhalten an alter Herzogherrlichkeit, die einem überall im Stadtbild begegnet. Die Menschen sind nicht gerade unfreundlich, aber allem Fremden und Neuen gegenüber mißtrauisch und zurückhaltend. Aus ihrer Vergangenheit sind ihnen diverse Herzöge mit ihren seltsamen Doppelnamen in der Erinnerung geblieben, andere wirklich bedeutende Zeitgenossen haben dort keinen Platz. Lessings Sterbehaus ist längst abgerissen, nach dem bekannten Denkmal muß man suchen, und sein Grab scheint schon beinahe so „verschollen“ zu sein wie das von Eva in Wolfenbüttel.
Darum war ich nicht gerade begierig gewesen, da hinzufahren, aber es hatte wie die einzige Möglichkeit ausgesehen, Horst aufzutreiben. Lisa hatte noch am Sonntag versucht, ihn telefonisch zu erreichen, leider ohne Erfolg. Von seinen Freunden wußte keiner, wo er war, und in seiner Wohnung ging nur der Anrufbeantworter an den Apparat. Ich erzählte, daß ich ihn in Hornburg gesehen hatte, doch die beiden glaubten mir das nicht. Ich war mir ja auch selbst nicht ganz sicher gewesen. Nur, wo war er dann? Ich fürchtete, daß er sich vielleicht mitsamt dem Faust davongemacht haben könnte. Aber Lisa war überzeugt, daß er irgendwo in Braunschweig sein müßte. Und sie meinte, daß es am einfachsten wäre, ihn da zu suchen.
Aaron war von dem Plan auch nicht begeistert gewesen. Er hatte gemeint, wir sollten einfach abwarten, bis Horst wieder nach Wolfenbüttel kommen würde. Doch Lisa glaubte, das könnte dann schon noch eine Weile dauern. Der Streit der beiden war wohl so heftig gewesen, daß sie ihn nicht in den nächsten Tagen zurück erwartete.
Warten wollte ich nicht. Schon gar nicht lange. Darum war ich einverstanden gewesen, nach Braunschweig zu fahren. Aaron wurde also überstimmt und schloß sich widerwillig unserem Reiseplan an.

Montag vormittag waren wir dann aufgebrochen.
Braunschweig erwies sich nicht nur als genauso reizlos, wie ich es erwartet hatte. Es war auch vollkommen wagnerlos. Lisa kannte viele Orte, an denen wir nachsehen, viele Menschen, die wir fragen konnten; aber alles führte zu nichts. Horst blieb unauffindbar.
Einige seiner engsten Freunde, meist frühere Kollegen, konnten wir jedoch nicht erreichen. Lisa war sich sicher, daß sie am Abend in die Stadt zurückkommen würden: Abgabetermin für die Zeitung von morgen. Deshalb entschlossen wir uns, trotzdem dazubleiben. Bis zum Abend war aber nichts mehr zu tun. Und so wollte ich einige Orte aufsuchen, die in Lessings Leben eine Rolle gespielt hatten. Lisa und Aaron hatten andere Pläne und ließen mich alleine losziehen.
Ich ging zum Ägidienmarkt und danach in die Breite Straße, wo ein Treffpunkt des Freundeskreises um Lessing gewesen war, das meist 'Club' genannte Hotel D'Angleterre. Das Mauerwerk rund um die Eingangstür sah noch aus wie früher, aber das war auch das einzige, was von dem ursprünglichen Haus erhalten war. Es wirkte in der Gesamtfassade wie ein Fremdkörper.
Später setzte ich mich für eine Weile in ein Café an der Magnikirche. Ich beobachtete die Passanten und dachte nach. Bisher hatte ich doch wenigstens noch eine relativ handfeste Vorstellung davon gehabt, wo der Faust sich befinden könnte. Im Weghaus war er ja auch sicher gewesen. Wenn Horst ihn aber jetzt mit nach Braunschweig genommen hatte, stand ich wieder ganz am Anfang. Hier kannte ich mich nicht aus, ich hatte keine Ahnung, wo ich suchen sollte. Mir blieb eigentlich nur zu hoffen, daß Lisa ihren Ex-Verlobten finden würde, und er mit sich reden ließ.
Es war immer noch Zeit bis zu unserem Treffen am Abend, also machte ich noch einen längeren Spaziergang zum Magni-Kirchhof, um Lessings Grab zu besuchen.
Auf dem entlegenen Friedhof angekommen, war ich wie bei meinem vorigen Besuch der einzige, der sich dort bewegte. Der Straßenlärm war nur gedämpft aus der Ferne zu hören, sonst war es wohltuend still. Hier hatten die Toten wirklich ihre Ruhe. Ich suchte meinen Weg quer durch die ungepflegte Anlage, vorbei an vielen alten verwitterten Grabsteinen. Ging auf zugewachsenen Wegen und über Wiesen, auf denen noch das Laub des letzten Jahres lag. Barmherzige Bäume, ebenso alt wie die Gräber, die sie säumten, breiteten ihren trostreichen Schatten über die allgegenwärtigen Spuren von Verfall. Ihr kraftvoller Wuchs erinnerte mich daran, daß in der Natur letztlich alles Sterben ein Teil des großen Kreislaufs ist und gleichzeitig immer der Beginn von neuem Leben. Vergehen und Entstehen gibt es lediglich für das beschränkte menschliche Denken. In der Natur existiert nur ein ewiges unantastbares Gleichgewicht.
Diese Gedanken vermittelten mir einen inneren Frieden, der mich auch noch gefangenhielt, als ich an Lessings Grab stand. Die Jahrhunderte waren auch an diesem Ort nicht spurlos vergangen, und bei anderer Gelegenheit hätte ich mich wieder darüber aufgeregt, daß ihrer zerstörerischen Kraft nicht genug entgegen gearbeitet wurde. Hätte den beginnenden Mooswuchs auf dem Grabstein gesehen und das wuchernde Grün beklagt.
Aber in der heutigen Stimmung kamen mir solche Gedanken kleinlich vor. Gemessen an der mächtigen Natur, die weiterlebte über Jahrhunderte hinweg, unangetastet sogar durch die destruktiven Anstrengungen der modernen Welt, mußte das Leben eines einzelnen Menschen unbedeutend erscheinen, mochte dieser Mensch auch in seinem Maßstab noch so viel geleistet haben. Und wenn schon das Leben eines Menschen so unwichtig war, um wieviel unbedeutender war dann die Pflege seiner letzten Ruhestätte.
Ich sah auf das Grab rechts neben Lessings. Da konnte allerdings von Pflege überhaupt keine Rede sein. Ich wußte, daß dort Lessings Stiefsohn Fritz lag, erkennen konnte man es nicht mehr. Der kleine Grabstein war vollkommen zugewachsen.
Nach ein paar Schritten weiter nach links kam ich zu den Resten des Eschenburg-Grabs. Lisas Vorfahre war ganz in Lessings Nähe beigesetzt worden. Auch hier bedeckte die Natur inzwischen schon die letzten Spuren gärtnerischer Anstrengung, und das ehemals eindrucksvolle Grabmal alterte unaufhaltsam der Vergänglichkeit entgegen.
Ob Eschenburg wohl in Ruhe hatte sterben können wie sein Freund? Oder hatte ihn das nicht erfüllte Vermächtnis bis zuletzt belastet? Ich dachte daran, wie er erst hätte leiden müssen, wenn er gewußt hätte, daß sein Versagen so viele Jahre später zum Anlaß werden sollte für zwei brutale Morde.
Aber verantwortlich für diese Morde war Eschenburg natürlich nicht. Das waren andere, die von Habsucht und Gier getrieben wurden. Motive, die Burckhardt und Nicolai beherrscht hatten. Deshalb taten die beiden mir auch nicht leid. Sie mußten gewußt haben, worauf sie sich einließen. Ihr Untergang war unausweichlich gewesen. Unausweichlich und letzten Endes auch sinnvoll, denn so war der Faust ihrem Zugriff entzogen worden. Und die Vorsehung, die über Jahrhunderte hinweg dieses Werk vor der Zerstörung bewahrt hatte, würde auch dafür sorgen, daß es irgendwann der Öffentlichkeit zugeführt wurde. Die Zeit dafür schien jetzt gekommen, und ich wollte unbedingt dabei sein. Ich würde dabei sein! Seltsam, wie dieser Friedhofsbesuch mich wieder optimistisch gestimmt hatte. Doch auf dem Weg zurück zu unserer Verabredung war ich bester Laune.

Lisa und Aaron warteten schon auf mich, und Lisa schleppte uns dann kreuz und quer durch die Stadt von einer Kneipe zur anderen, auf der Suche nach den Leuten, die etwas über Horst wissen konnten. Zwischendurch sahen wir sogar in der Redaktion der BZ vorbei. Niemand konnte etwas über Horst sagen. Alle waren ihm seit langem nicht mehr begegnet. Er hatte also wohl keinen seiner Freunde ins Vertrauen gezogen. Das war schon die ganze Zeit meine Befürchtung gewesen, und ich hatte deshalb nicht mehr viel erwartet.
Lisa blieb bis zuletzt zuversichtlicher als ich, und sie war mit einer Begeisterung dabei, die mich schon ein bißchen wunderte. Aaron dagegen hätte wohl alles andere lieber gemacht, als so durch die Stadt zu streifen. Am Ende unserer Suche wurde er jedoch wieder froher gestimmt. Ob er sich freute, endlich nach Hause zu kommen? Mir ging es jedenfalls so, denn der Tag war schon sehr anstrengend gewesen.
Als wir dann aber wieder am Auto standen, stellte sich heraus, daß Lisa andere Pläne hatte. Zu dieser Zeit könnte sie Diana nicht mehr mit ihrer Rückkehr erschrecken. Wir müßten wohl die Nacht über in Braunschweig bleiben und in ihrer Wohnung übernachten. Aaron erklärte sich sofort einverstanden, und ich war mir sicher, daß er von Anfang an auf diese Möglichkeit spekuliert hatte.



Am nächsten Morgen fuhren wir auf direktem Weg zurück nach Wolfenbüttel. Ich saß am Steuer, Aaron und Lisa hatten es sich zusammen auf den Rücksitzen gemütlich gemacht. Verstohlen beobachtete ich die beiden. Wenn wir Horst doch noch finden sollten, würde es für Lisa einiges zu erklären geben. Oder für Aaron. Aber vielleicht hatte Lisa ja auch schon in Goslar endgültig mit Horst gebrochen. So genau wußte ich das nicht. Jedenfalls war Aaron wohl nicht interessiert daran, mit dem Journalisten zusammenzutreffen. Deshalb war er auch gestern nicht mit ganzem Herzen bei der Sache gewesen. Ich sagte:

„Lisa, jetzt haben wir doch alle Leute in Braunschweig gefragt, die Horst kennen. Wo kann er denn jetzt noch sein?“

Aaron kam ihrer Antwort zuvor:

„Wenn er das Buch hat, wie ihr glaubt, dann ist er damit längst über alle Berge.“

„Das glaube ich nicht. Er wird sich bestimmt früher oder später bei mir melden.“

„Warum?“

„Er hat seinen Presseausweis in meinem Auto vergessen. Ohne den fühlt er sich nicht richtig wohl.“

„Apropos 'Ausweis', hast du eigentlich einen gültigen Reisepaß?“

„Muß ich ins Ausland?“

„Mußt nicht, aber wäre es nicht schön, für eine Weile hier wegzukommen? Die ganze Aufregung zu vergessen?“

Ich dachte, was Aaron wirklich meinte, war, daß sie von Horst wegkommen sollte, um ihn zu vergessen. Darüber war ihm unser Projekt, den Faust zu finden, inzwischen vollkommen unwichtig geworden. Bei Lisa war das anders.

„Ich will jetzt wissen, was Horst mit dem Faust gemacht hat! Mir wird er das schon sagen, wenn ich ihn direkt frage.“

„Ja schon, aber ...“

„Und selbst wenn ich weg wollte, im Augenblick geht's doch gar nicht.“

„Wieso nicht?“

„Na, die Testamentsklausel hält mich doch hier fest.“

„Welche Klausel?“

Lisa erzählte es uns. Sie sagte, Diana und Malchens Interessen an dem Erbe liefen so ziemlich auseinander. Und bis jetzt hätten sie noch keine Zeit gefunden, um in Ruhe darüber zu reden. Solange es da keine Entscheidung gegeben hatte, konnte sie wirklich schlecht in Urlaub fahren. Das mußte Aaron dann auch einsehen, wenn es ihm auch nicht gefiel, was er uns auf dem Rest der Fahrt deutlich zeigte.
Schließlich kamen wir ans Weghaus.
Ich parkte den Wagen und stieg aus, um mir die Beine zu vertreten. Wir hatten eigentlich vor, Lisa nur abzusetzen, um dann weiter nach Hornburg zu fahren. Aber Lisa wollte Aaron auf einmal überreden, mit ins Haus zu kommen. Erstaunlicherweise war der gar nicht einverstanden damit. Oder er wollte sich bitten lassen.
Weil die beiden mit ihrem Geplänkel nicht fertig wurden, ging ich aufs Grundstück, um Rollo 'Hallo' zu sagen. Es wunderte mich, daß er uns noch gar nicht entgegen gekommen war. Seine Hütte war leer, und hören konnte man ihn auch nicht. Ich ging am Haus vorbei nach hinten und fand ihn schließlich im Rübenfeld. Er mußte mit etwas Wichtigem beschäftigt sein, denn er kümmerte sich noch immer nicht um mich. Auf mein Rufen drehte er sich zwar zu mir um, ließ aber nicht das gewohnte Begrüßungsbellen hören. Das ging auch nicht, er hatte das Maul nämlich voll. Wieder einmal seine Stoffkatze. Als ich bei ihm war, legte er sie hin. Sie sah noch erbarmungswürdiger aus als sonst, vollkommen verdreckt und ganz schwarz vor Erdklumpen, die an ihrem zerschlissenen Fell klebten. Anscheinend war sie hier vergraben gewesen. Rollo sah mich aufmunternd an. Ich verstand das als Aufforderung, sein Lieblingsspielzeug sauber zu machen, und tat ihm den Gefallen. Nachdem die Katze so einigermaßen gesäubert war, packte er sie wieder und rannte vor mir her zu seiner Hütte, wo er sie sicher verstaute.
Erst danach hatte er Zeit, um mit mir ein angemessenes Wiedersehen zu feiern. Aaron und Lisa waren sich immer noch nicht einig, und so tobte ich ein wenig mit Rollo herum. Wir liefen über den Rasen und waren dabei ziemlich laut. Das mußte wohl Diana Burckhardt gehört haben. Sie kam aus dem Haus und bedachte uns beide mit einem mißbilligenden Blick. Mich brachte der sofort zur Ruhe, aber Rollo war nicht so leicht zu beeindrucken. Er bellte munter weiter. Diana schrie ihn an:

„Rollo! Still!“

Jetzt reagierte der Hund. Aber er dachte wohl, Diana wollte mitspielen. Er lief zu ihr hinüber und sprang an ihr hoch. Diana wehrte ihn ab, packte ihn dann im Nacken und schüttelte ihn. Diese Behandlung war Rollo nicht gewohnt. Beleidigt kam er zu mir zurück und setzte sich neben mir ins Gras.
Diana schien schwer um Fassung zu ringen. Auf ihrem Gesicht zeigten sich nacheinander die unterschiedlichsten Emotionen. Ich erkannte Ärger über Rollo (und mich) und Mißtrauen gegen Aaron, der ihr wohl zu vertraut mit Lisa zusammenstand. Aber da war auch so etwas wie Angst oder Schrecken.
Lisa merkte schließlich auch, daß mit ihrer Cousine etwas nicht stimmte, und sah sie fragend an. Diana blieb noch eine Weile stumm. Sie suchte sichtlich nach den passenden Worten für die Situation, war aber offenbar damit überfordert. Denn schließlich platzte es einfach aus ihr heraus:

„Lisa! Um Gottes Willen! Wo warst du bloß? Die Polizei hat dich gestern überall gesucht!“

„Wieso das denn? Haben sie etwa endlich was herausgefunden?“

„Ja. Nein. Ach Gott!“

Sie warf einen feindseligen Blick auf Aaron und versuchte, Lisa von ihm wegzuziehen. Als die sich wehrte, schaute sie hilfesuchend auf mich, aber ich wußte auch nicht, was eigentlich los war.

„Lisa, du mußt jetzt ganz stark sein.“

Es war etwas Schreckliches passiert. Das wurde uns allen schlagartig klar. Lisa packte ihre Cousine und schüttelte sie.

„Red endlich! Was ist los?“

„Horst. Es ist Horst.“

„Was ist mit Horst?“

„Er ist tot! Ermordet! Genau wie Vater!“

Horst ermordet! Ich schämte mich sofort hinterher dafür, aber im selben Augenblick dachte ich: „Und der Faust? Was ist mit dem Faust?“ Lisa war natürlich mit anderen Gedanken beschäftigt. Der Schreck über die Nachricht hatte ihre Züge verzerrt. Die Mundwinkel zuckten, und sie zitterte am ganzen Körper. Jeden Moment würde sie anfangen, hysterisch zu werden. Doch da mischte sich noch ein anderer Ausdruck in ihr Gesicht. Sicher hatte ich mich getäuscht, aber ich glaubte, so etwas wie Erleichterung zu erkennen. Aaron nahm sie in den Arm und versuchte, sie zu beruhigen. Allerdings war er selbst so erschrocken, daß er keine Worte fand. Sein Gesicht erschien mir irgendwie schuldbewußt. Auch hier konnte ich mich natürlich täuschen. Wahrscheinlich war es so. Ich wunderte mich über mich selbst, daß ich überhaupt ohne innere Anteilnahme so nüchtern beobachten konnte. Aber mir wurde klar, daß ich unbewußt wohl mit dieser Möglichkeit gerechnet hatte. Aaron hatte jetzt die Sprache wiedergefunden. Er redete ganz leise auf Lisa ein, die ihn jedoch nicht zu hören schien. Diana stand alleine und sah sich um, als ob sie erwartete, daß doch irgend jemand kommen müßte, um ihr zu helfen. Dann ging sie mit gesenktem Kopf ins Haus zurück. Wir anderen folgten ihr. Nur Rollo blieb verwirrt draußen. Er konnte mit der Situation wohl noch weniger anfangen als wir.

Drinnen ließ sich Lisa weder von Aaron noch von Diana aufhalten und lief geradewegs nach oben in ihr Zimmer. Sie wollte jetzt alleine sein. Aaron war sehr besorgt und wäre am liebsten hinterher gegangen. Aber er traute sich dann doch nicht. Eigentlich war er ja auch der Falsche zum Trösten. Schließlich hatte er doch Horst alles Schlechte gewünscht. Und das war jetzt in Erfüllung gegangen. Diese Erkenntnis war wohl auch verantwortlich für seine Schuldgefühle. Andererseits merkte ich deutlich, daß er sich eine klammheimliche Freude darüber, bei Lisa jetzt der einzige Bewerber zu sein, auch nicht verkneifen konnte. Und das verunsicherte ihn zusätzlich. Ich konnte richtig sehen, wie er unter der Situation litt. Richtig wohl fühlte ich mich in unserer Lage auch nicht, und ich machte Anstalten, mich mit Aaron zurückzuziehen.
Aber Diana war jetzt plötzlich doch froh, daß wir da waren und sie dem Ganzen nicht mehr alleine gegenüberstand. Vielleicht hatte sie auch vergessene Gastgeberpflichten wiederentdeckt, da wir nun mal unter ihrem Dach waren. Jedenfalls nötigte sie uns ins Wohnzimmer und war erst zufrieden, als wir Platz genommen hatten. Dann begann sie, hektisch und ungeordnet von gestern zu berichten, als die Polizei beinahe direkt an ihren Frühstückstisch gekommen war. Durch gelegentliche Zwischenfragen gelang es mir, das Chaos ihrer Erzählung ein wenig zu ordnen. Aaron saß nur ziemlich abwesend da und wäre lieber woanders gewesen.
Nach und nach erfuhr ich weitere Details. Horst war im Innenhof des Schlosses gefunden worden, erschlagen mit einem stumpfen Gegenstand, vielleicht einem Stein. Der Mann, der die Polizei verständigt hatte, war den Burckhardts bekannt. Er war wohl einmal mit Malchen zusammen zur Schule gegangen. Als Diana das erwähnte, war es, als ob sie sich plötzlich an neues Unglück erinnerte.

„Oh Gott. Das hab ich Lisa ja gar nicht gesagt!“

„Ist doch nicht so wichtig, wer den Mord gemeldet hat.“

„Nein, nein, das mein ich nicht. Karl hat der Polizei ja auch erzählt, daß er Malchen im Park getroffen hat.“

Das war natürlich für die Polizisten interessant gewesen. Auf ihre Fragen, wo sie den Morgen verbracht hätte, hatte Malchen ihren Spaziergang nicht erwähnt. Als der Kommissar sie dann mit der Zeugenaussage konfrontierte, war sie zusammengebrochen und hatte gar nichts mehr gesagt. Das veranlaßte die Beamten, sie mitzunehmen, und bis heute war sie nicht wieder zurückgekommen. Sah aus, als ob sie verhaftet war.
Ich überlegte. Malchen war mir zwar sehr resolut erschienen, und neugierig natürlich. Aber konnte man ihr einen Mord zutrauen? Ich glaubte nicht. Ich fragte Aaron nach seiner Meinung, aber der war noch immer nicht richtig ansprechbar. Schließlich wollte er sich doch äußern, aber da ging die Tür auf, und Lisa kam zurück.
Aaron war sofort bei ihr, und sie ließ sich von ihm zu einem Sessel führen. Ich beobachtete Lisa. Ihr Gesicht sah verheult aus. Vielleicht hatte ihr Horst doch noch näher gestanden, als ich dachte. Oder war dieser Eindruck gewollt, und sie hatte die Zeit alleine gebraucht, um sich dafür zu präparieren?

„Ach, du Arme!“

Diana war aufgestanden, um Lisa zu trösten. Aber auf halbem Weg merkte sie, daß diese Position schon von Aaron besetzt war. Sie ging zu ihrem Sessel zurück und blickte dabei auf ihre Hände, die sich nervös bewegten. Nach einer Weile sah sie wieder auf:

„Was mag jetzt bloß aus Malchen werden?“

Lisa war verblüfft.

„Was hat denn Malchen damit zu tun?“

„Die ist verhaftet worden! Aber das glaubst du doch nicht, oder? Nein, das glaubst du nicht! Malchen ist das nicht gewesen.“

„Wie kommen sie nur darauf? War die denn nicht die ganze Zeit hier bei dir?“

„Ich weiß es doch auch nicht. Ich hab ja gestern lange geschlafen, wegen der Tablette. Aufgewacht bin ich erst, als Malchen sich mit Rollo gestritten hat. Die beiden haben einen Höllenlärm veranstaltet. Da war ich ganz alleine im Haus. Du warst auch weg. Wo bist du denn überhaupt gewesen?“

„Hab ich dir doch gesagt, daß wir nach Braunschweig wollten. Wir haben Horst überall gesucht, aber der ist einfach nicht zu finden, der -“

Sie hatte für einen Augenblick vergessen, daß Horst da ja schon tot gewesen war. Einen Moment lang sah es so aus, als ob sie anfangen würde zu weinen, aber die Tränen wollten nicht so recht kommen.

„Jedenfalls warst du nicht da, und die Polizei hat sie mitgenommen. Ich hab Gustav angerufen, der wollte sehen, was er tun kann. Einen Anwalt besorgen, hat er gesagt.“

„War das denn nötig? Der schon wieder!“

„Du warst doch nicht da. Und ich wußte mir nicht zu helfen.“

Ich dachte auch: „Schon wieder dieser Kleist“. Es war langsam richtig auffällig, wie der sich in alles einmischte. Ob der Polizei wohl bekannt war, daß er seine Nase überall reinsteckte? Sie hatten sich jetzt ja Malchen vorgenommen. Aber was wußten sie wirklich? Wir mußten dringend mit Theo Schneider sprechen, aber im Moment kam ich an Aaron gar nicht heran. Er war immer noch mit Lisa beschäftigt und redete leise mit ihr. Diana lief im Zimmer auf und ab und plapperte auch pausenlos.
Es war wirklich das reinste Chaos der Gefühle, das hier herrschte. Nur ich war nicht betroffen und konnte ruhig Überlegungen anstellen. Ein bißchen schämte ich mich wieder, weil mich die seelischen Nöte der anderen so gar nicht interessierten. Doch ich mußte nachdenken. Was bedeutete der neue Mord für meine Suche nach dem Faust? Ob er wohl bei Horst gefunden worden war? Unwahrscheinlich. Wenn Horst ihn gestern bei sich gehabt hatte, dann war er jetzt im Besitz des Mörders. Und wer war das? Wirklich Malchen? In dem Fall könnte das Buch hier auf dem Grundstück sein. Oder vielleicht Lisa? Vor unserem Aufbruch nach Braunschweig? Aber das hätte man ihr doch anmerken müssen. Ich vielleicht nicht, so gut kannte ich sie ja nicht, aber Aaron hätte doch sicher etwas gemerkt. Nein, Lisa auch nicht. Dieser Kleist vielleicht. Den sollten wir unbedingt einmal näher unter die Lupe nehmen.
Ich müßte jetzt erst mit Aaron reden und dann versuchen, Theo Schneider zu erreichen. Ich bemühte mich, Aaron Zeichen zu geben, daß ich hier weg wollte, aber er sah nicht zu mir her. Gerade wollte ich etwas sagen, als lautes Gebell von draußen einen weiteren Besucher ankündigte.
Diana ging, um zu öffnen, und kam mit ihm zurück: Wie auf Bestellung war Theo Schneider erschienen.
Er war überrascht, Aaron und mich hier anzutreffen, kommentierte es aber nicht. Mich bedachte er nur mit einem kurzen Nicken, denn sein Blick wurde festgehalten von dem, was er im hinteren Teil des Zimmers sehen mußte. Dort hatte Aaron sich auf der Lehne des Sessels niedergelassen, in dem Lisa zusammengekauert hockte. Aarons rechte Hand lag auf Lisas Schulter, mit der anderen hielt er sich am Sessel fest, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Das Ganze hatte schon etwas Rührendes. Andererseits wirkte es auch reichlich komisch, wie Aaron so versuchte, Trost zu spenden, während er gleichzeitig angestrengt balancierte.
Auf Theo Schneider machte die Szene allerdings wohl einen völlig anderen Eindruck, denn er runzelte die Stirn und zögerte zunächst, näher zu gehen. Dann tat er es doch, sprach aber Lisa direkt an, wobei er sich bemühte, an Aaron vorbeizusehen.

„Frau Eschenburg, tut mir leid, Sie in Ihrer Trauer stören zu müssen. Kommissar Widemann will Sie dringend sprechen. Würden Sie bitte mitkommen?“

Aaron verlor beinahe das Gleichgewicht vor Empörung. Er sprang auf und machte einen Schritt auf Theo zu.

„Was fällt dir ein, so rücksichtslos zu sein! Könnt ihr Lisa nicht in Ruhe lassen?“

„Sorry, bei Mord hört unsere Rücksichtnahme auf. Gleich gar, wenn es schon der dritte ist.“

„Aber Lisa kann euch überhaupt nichts sagen. Sie war gestern die ganze Zeit mit uns zusammen in Braunschweig.“

Theo sah mich an. Ich nickte.

„Das Alibi kann ich bestätigen.“

„Aha, und ab wann kannst du das?“

„Wir sind so um 11 losgefahren und heute erst wiedergekommen.“

„Tja, that's not enough. Der Mord ist schon früher verübt worden. Frau Eschenburg, wo waren Sie vor 11 Uhr?“

„Na, hier natürlich. Ich hab mich für die Fahrt fertig gemacht.“

Die Tränen, die vorhin nicht hatten kommen wollen, flossen plötzlich heftig. Diana eilte zu ihrer Cousine und besetzte den Platz, den Aaron eben frei gemacht hatte. Der drehte sich kurz um, als ob er mit Diana um das Privileg kämpfen wollte, an Lisas Seite zu sein, entschied sich dann aber dafür, weiter Theo zu attackieren. Er sprach von Willkür und zweifelhaften Polizeimethoden, während Theo Schneider jetzt ganz den formellen Gesetzeshüter gab und etwas von 'Behinderung der Ermittlungen' und 'nötigen Zwangsmaßnahmen' murmelte.
Ich versuchte, eine weitere Eskalation zu verhindern:

„Aaron, jetzt halt mal die Luft an! Und Theo: Frau Eschenburg hat gerade erst erfahren, daß ihr Verlobter tot ist. Vielleicht kannst du ihr noch ein bißchen Zeit lassen, sich zu fassen, bevor du sie mitnimmst.“

„No problem, lassen wir die Frauen eine Weile alleine. Wir können uns ja ein paar Minuten in die Bibliothek setzen, und ihr erzählt mir schon mal, was das für eine Fahrt nach Braunschweig war.“

Das machten wir. Theo berichtete uns im Gegenzug, was er von dem Mord wußte. Genauer gesagt, erzählte er es mir. Aaron behandelte er so, als sei der gar nicht anwesend, was nicht weiter schwer war, denn Aaron benahm sich auch so. Er saß in einer Ecke und brütete vor sich hin. Aber ich war neugierig:

„Habt ihr vielleicht am Tatort irgendein Buch gefunden?“

„Nope. Meinst du nicht, daß das auch nur in eurer Phantasie existiert?“

„Oh nein, das gibt es! Bestimmt! Wahrscheinlich hat es jetzt der Mörder.“

„Wer weiß. Der bedauernswerte Ex-Verlobte hatte zwar kein Buch bei sich. Dafür aber das hier. Das interessiert dich sicher auch!“

Er nahm einen Zettel aus der Tasche, der aussah wie die beiden anderen mit den rätselhaften Botschaften!

„Eine neue Nachricht vom Mörder!“

Aaron erwachte aus der Lethargie und kam aus seiner Ecke heraus. Gemeinsam lasen wir den Text:

Geschehn ist leider nun geschehn.
Und wie es gehn kann, so wird's gehn.
Du fingst mit Einem heimlich an,
Bald kommen ihrer mehre dran,
Und wenn dich erst ein Dutzend hat,
So hat dich auch die ganze Stadt.

„Kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich weiß jetzt nicht... Aaron, was meinst du?“

„Gelesen hab ich das schon mal. Aber im Moment könnte ich auch nicht sagen, wo.“

„Auf jeden Fall ist es vom selben Schreiber. Genauso ein Zettel wie die anderen.“

„Und der Text ist auch wieder sonderbar.“

Ich begann, laut zu überlegen:

„Wenn stimmt, was wir uns bisher dazu gedacht haben, -“

„- daß nämlich jedesmal ein Mensch angesprochen wird, der in sehr großer Gefahr ist, -“

„- dann müßte das hier auch so sein.“

„Und mit dieser neuen Botschaft haben wir einen Hinweis auf die Person, -“

„- die für den nächsten Mord in Frage kommt!“

Jetzt mischte Theo sich ein:

„Ihr spekuliert schon wieder um die Wette, und ihr versteigt euch dabei, wie immer.“

„Wieso? Die zweite Nachricht war ein Hinweis auf Nicolai, und der wurde dann ermordet.“

„Ach wirklich? Und wo ist dann die Nachricht, die diesen neuen Mord angekündigt hat?“

„Stimmt, die fehlt. Bei Nicolai habt ihr ja nichts gefunden.“

„Allerdings, und hier weiß man doch auch nicht. Vielleicht hat Horst Wagner den Zettel ja sogar selber geschrieben.“

Ich versuchte, Theo Schneider davon zu überzeugen, das Ganze ein wenig ernster zu nehmen. Aber er weigerte sich hartnäckig, meinen Argumenten zu folgen. Während dessen hatte sich Aaron den Zettel immer wieder durchgelesen. Jetzt sah er mich mit ernster Miene an:

„Hör mal. Hier wird doch ganz offensichtlich eine Frau angesprochen.“

„Kann wohl sein.“

„Ja. 'Du fingst mit Einem heimlich an'. Um Gottes Willen! Wenn damit nun Lisa gemeint ist!“

„Und der 'Eine' bist du?“

„Kann doch sein, oder?“

Aaron war wirklich erschrocken und machte sich Sorgen. Ich überlegte noch mal angestrengt, woher ich das Zitat kannte. Der Zusammenhang könnte uns ja vielleicht weitere Hinweise geben. Unbemerkt von uns war die Tür aufgegangen und Diana Burckhardt hereingekommen. Sie ging auf Aaron zu und sagte vollkommen überrascht:

„Wo habt ihr denn den Zettel her? Der lag doch eben noch in der Küche!“

Verwundert sahen wir sie an. Sie griff nach dem Blatt und mußte dann zugeben, daß sie sich geirrt hatte. Aber jetzt waren wir natürlich neugierig geworden. Theo ging in die Küche und kam mit einem Blatt Papier wieder, das tatsächlich dem anderen glich. Eine weitere Botschaft des Zettelschreibers! Aaron meinte:

„Das muß die Nachricht sein, die zu dem Nicolai-Mord gehört. Der Zettel, den ihr bei seiner Leiche nicht gefunden habt.“

Theo Schneider fragte Diana, woher sie das Blatt hatte. Sie druckste ein wenig herum und wollte nicht so recht mit der Sprache heraus. Schließlich erklärte sie, daß sie es in der Wäsche gefunden hätte.

Theo wollte wissen: „Und in welchem Kleidungsstück?“

„Es war in der Jacke. Eigentlich lag die ja gar nicht in der Wäsche, aber ich dachte, Malchen hat bestimmt nur vergessen, sie reinzulegen. So dreckig, wie die war.“

Malchen Jacobi! Sie hatte Nicolais Leiche entdeckt und war dabei im Gartenhaus alleine gewesen. Sie mußte den Zettel dort weggenommen haben. Theo Schneider hatte das Blatt inzwischen auseinandergefaltet:

Ach Gott! die Kunst ist lang,
Und kurz ist unser Leben.
Mir wird, bei meinem kritischen Bestreben,
Doch oft um Kopf und Busen bang.
Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben,
Durch die man zu den Quellen steigt!
Und eh' man nur den halben Weg erreicht,
Muß wohl ein armer Teufel sterben.

Dieses Zitat erkannte ich sofort.

„Das ist aus Goethes Faust.“

Aaron nickte heftig:

„Genau. Und hier spricht dieser Schüler von Faust. Wie heißt der doch gleich?“

Ich war erstaunt, daß Aaron den Faust so gut kannte. Aber er hatte recht. Und der Schüler von Faust, der hier redete, war: Wagner!

„Na, wenn das kein erstklassiger Hinweis ist!“

„Nach dem Nicolai-Mord wurde also doch schon das nächste Opfer angekündigt: Horst Wagner.“

„Aber das heißt ja ...“

Aaron war schockiert. Und er hatte schon wieder recht. Wenn wir die Nachricht gleich nach dem Nicolai-Mord bekommen hätten, wäre es möglich gewesen, das Opfer zu warnen.
Horst Wagner könnte dann vielleicht noch leben!






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