Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König
Kapitel 21
Kapitel 21: ... Nothing like the sun
G. E. Lessing
Weiser, Dichter, Deutschlands Stolz
Einst
Der Musen und seiner Freunde Liebling
Er stand vor dem Denkmal im Vestibül der Bibliothek und fragte sich, wie er dort hingekommen war. Ihm war auch nicht bewußt, was er eigentlich hier wollte. Er blickte auf die großen, eckigen Buchstaben am Sockel der Statue. Starrte sie an und versuchte, ihren Sinn zu erfassen. Aber die Wörter schienen ein Eigenleben zu führen. Gruppierten sich ständig um. Bildeten neue Zusammenhänge und entzogen sich der Ordnung, die er gerade zu finden geglaubt hatte. An einem der Worte blieb er immer wieder hängen: „Einst“.
Das erschien ihm wie die Quintessenz des ganzen Textes. Es zeigte, daß etwas vergangen war, für immer gelöscht aus dem Gedächtnis der Welt. Wie der Faust. Hatten seine Mitmenschen es wirklich verdient, daß er sich abmühte, ihn aus dem Vergessen zurückzuholen?
„Deutschlands Stolz“. Er lachte höhnisch. So stolz waren sie hier auf ihren „Weisen“, daß sein Denkmal hatte versteckt werden müssen. Mußte in Sicherheit gebracht werden vor den ignoranten Bürgern, die sich jetzt in seinem Ruhm sonnen wollten. Für die lohnte es bestimmt nicht, die ganzen Anstrengungen auf sich zu nehmen.
Er sah auf das Relief des Dichters. Die Züge waren ihm vertraut, fast wie seine eigenen. Je länger er auf das Gesicht blickte, desto mehr glaubte er, sich selbst zu erkennen. Dann bewegte sich das Bild. Nahm die Züge von Johann Burckhardt an. Veränderte sich noch einmal, beinahe unmerklich, und wurde zu Georg Nicolai. Der blickte hochmütig aus dem Marmor auf ihn herunter. Ein Schwindel erfaßte ihn und ließ das Bild vor seinen Augen verschwimmen. Durch den Schleier hindurch glaubte er jetzt, Horst Wagner zu sehen. Der Schwindel wurde stärker und schüttelte ihn.
Er drehte sich um zu der Frau hinter dem Verkaufstisch. Sie blickte ihm mißtrauisch und besorgt zugleich entgegen. Er machte die paar Schritte hinüber und kaufte bei ihr eine Eintrittskarte. Dann betrat er die eigentliche Bibliothek. Er kannte sich hier aus, ging gleich in die Augusteerhalle und setzte sich auf einen der gepolsterten Stühle. Er schaute sich um. In den Regalen an den Wänden standen prunkvoll eingebundene Bücher. Hinter Glas waren sie geschützt vor allzu neugierigen Besuchern.
Er fühlte sich müde und ausgelaugt. Und er war längst nicht am Ziel. Eine Ruhepause konnte er sich eigentlich gar nicht erlauben. War es das, was er hier suchte? Hatte er geglaubt, die Gegenwart all dieser Bücher würde ihm Trost spenden?
If we seek solace in the prisons of the distant past
Security in human systems we're told will always always last
Emotions are the sail and blind faith is the mast
Den Glauben an die Geborgenheit, die von gesellschaftlichen Systemen überall versprochen wurde, hatte er lange verloren. Aber nicht sein Vertrauen auf die Macht der Worte. Und die Magie, die von ihnen ausgehen konnte. Hier war allerdings nichts davon zu spüren. In ihrem Gefängnis aus Glas hatten die Worte all ihre Kraft verloren.
Einst war es anders gewesen. Hatten Menschen hier geforscht, gesucht nach dem Schlüssel für eine bessere Zukunft. So lange, bis sie erkennen mußten, daß all ihr Streben zu nichts führte.
... we're getting nowhere fast
Sooner or later we learn to throw the past away
History will teach us nothing
Eine Frau betrat den Saal und unterbrach seine Gedanken. Er sah nicht zu ihr herüber, um nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Als sie gegangen war, dachte er an Amalia Jacobi, um die er sich als nächstes kümmern müßte.
Sie hatte Horst Wagner noch vor seinem Tod getroffen. Er würde mit ihr reden. Wenn sie nicht wußte, um was es ging, könnte er sie vielleicht überlisten. Die einfältige Frau war einfach zu beeinflussen. Er sollte leichtes Spiel haben.
Und dann würde er zu den Mächtigen gehören, die der Zeit ihren Stempel aufdrückten.
The sordid and the powerful, the architects of time
The mother of invention, the oppression of the mild
The constant fear of scarcity, aggression as its child
History will teach us nothing
* | * | * |
Ich saß auf meiner Lieblingsbank hinter dem Lessinghaus. Über dem Dach konnte ich den Turm des Schlosses sehen. Ich dachte an Horst Wagner, der dort drüben seinen Tod gefunden hatte.
Auch schon wieder drei Tage her! Und der Polizei war nichts anderes eingefallen, als Malchen zu verhaften. Obwohl ich auch das nicht sicher wußte. Ich hatte seit Dienstag nichts Neues mehr erfahren, als ich Aaron im Weghaus zurückgelassen hatte. Er war dann auch gestern den ganzen Tag nicht wieder nach Hornburg gekommen. Es sah aus, als ob er inzwischen im Weghaus eingezogen war. Wieder wurde mir unwohl dabei, meinen Freund so nahe bei Lisa zu wissen. Aber andererseits konnte ich dann leichter zurück ins Haus gelangen, wenn das nötig sein sollte, und eventuell auch erfahren, was die Polizei unternahm. Ich hatte gestern überlegt, einfach wieder nach Wolfenbüttel zu fahren, um zu sehen, ob sich da etwas ergeben hatte. Aber dann war ich doch lieber in Hornburg geblieben.
Nach dem ganzen Hin und Her zwischen Weghaus und Braunschweig und den erfolglosen Bemühungen der letzten Tage konnte ich eine Ruhepause gebrauchen. Und Aaron hatte sich auch nicht gemeldet. Erst heute morgen bekam ich einen kurzen Anruf. Er lud mich ein, nachmittags ins Weghaus zu kommen. Er hätte Neuigkeiten für mich.
Ich war nicht sehr gespannt darauf. Was konnte das schon Großes sein? Langsam glaubte ich nicht mehr so recht daran, daß ich dem Faust noch auf die Spur kommen würde. Der Mörder war uns einfach immer einen Schritt voraus.
Gestern hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wer alles davon wußte, daß Horst das Buch gehabt hatte.
Lisa natürlich - und Aaron. Aber vielleicht auch Malchen. Sie war ja am Sonntag ständig in unserer Nähe gewesen und könnte uns im Gartenhaus belauscht haben. Möglicherweise hatte sie dann jemandem davon erzählt.
Es war auch vorstellbar, daß Horst noch einen Komplizen gehabt hatte. Dieser geheimnisvolle Ephraim war er ja wohl nicht selbst gewesen. Wieder fiel mir der Nachbar Kleist ein, der sich so auffällig für Haus und Grundstück interessiert hatte. Und jetzt bemühte er sich auch noch um Malchen. War Kleist Ephraim? Oder doch ein Unbekannter, den wir alle nicht auf der Rechnung hatten?
Nach vielen nutzlosen Überlegungen war gestern abend ein ganz anderer Gedanke unmerklich in meinen Kopf geschlichen: Könnte nicht vielleicht sogar Aaron Ephraim sein? Er hatte von Anfang an Kontakt zu Nicolai und Burckhardt gehabt. Erst sollte ich ganz dringend nach Wolfenbüttel kommen, und dann war mir nicht mehr so recht klar geworden, wofür er mich eigentlich gebraucht hatte. Zunächst war er ganz begeistert gewesen von den Zusammenhängen zwischen Faust und Therozyklus, Lessing und Goethe. Und auf einmal schien ihm das alles gleichgültig zu sein, und er kümmerte sich ausschließlich um Lisa.
Ich verwarf den Gedanken wieder. Wahrscheinlich war ich nur auf diese Idee gekommen, weil mir Aarons Teilnahmslosigkeit auf die Nerven ging und diese Fixierung auf Lisa. Sollte ich am Ende sogar eifersüchtig sein? Ich mußte grinsen. Nein! Dafür kam wohl eher ein anderer in Frage.
Theo Schneider war bestimmt auch nicht froh darüber, daß Aaron jetzt im Weghaus wohnte. Ich könnte ihn ja mal anrufen. Wäre vielleicht ganz lustig, mit ihm zusammen über Aaron herzuziehen. Bei der Gelegenheit konnte ich auch gleich erfahren, was die Polizei inzwischen wußte und ob sie bei Horst etwas gefunden hatten.
Ich ging zur nächsten Telefonzelle am Schloßplatz und wählte Theos Nummer. Er freute sich, mich zu hören und fragte natürlich gleich nach Aaron. Ich sagte ihm, daß ich genau darüber gern in Ruhe mit ihm reden wollte, und er war sofort interessiert. Wir verabredeten uns für seine Mittagspause.
Bis dahin war noch Zeit, und so spazierte ich ein wenig durch die Straßen. Über den Kleinen Zimmerhof kam ich auf die Lessingstraße und sah dann die Bibliothek wieder vor mir. Ich blickte auf den klobigen Steinbau. Hier gab es auch genug wertvolle Bücher. Einige wurden sogar in einem Tresor aufbewahrt. Mir kam der Gedanke, daß diese Bücher wie in einem Gefängnis gehalten und bewacht wurden. So eingesperrt waren sie eigentlich nutzlos. Ihrer wichtigsten Funktion entfremdet und ihrer Macht beraubt.
Aber vielleicht sollten ja auch wir vor ihnen geschützt werden. Wenn der Faust auch hier lagern würde, hätte es seinetwegen nicht die ganzen Morde gegeben.
Ich bog auf den Schloßwall ein und kam so wieder zum Schloß. Ich blieb stehen und sah auf die Statuen, die vor dem Graben aufgereiht waren. Sie wirkten wie steinerne Soldaten, die Wache hielten.
Why are the soldiers here
Their faces fixed like stone?
I can't see what it is that they despise
Früher hatten hier wirkliche Soldaten gestanden und exerziert, Wache gehalten und Paraden veranstaltet. Sicher war das ein eindrucksvolles Schauspiel gewesen. Aber es hatte auch Zeiten gegeben, als sie zwangsrekrutierte Landeskinder zusammengetrieben hatten, weil der Herzog, den die obrigkeitshörigen Wolfenbütteler Bürger noch heute verehrten, sie nach Übersee verkauft hatte.
Ich stellte mir auch diese Szene vor. Sah die Frauen, die still weinten um ihre Väter, ihre Söhne, ihre Männer. Der Schmerz wiegte sie im Takt der marschierenden Soldaten. Sie tanzten einen einsamen Tanz.
They dance with the invisible ones
Their anguish is unsaid
They're dancing with their fathers
They're dancing with their sons
They're dancing with their husbands
They dance alone They dance alone
* | * | * |
Vor dem Meißnerhaus stand eine Gruppe Männer. Sie kamen wohl von einem Treffen in der Akademie. Alle trugen dunkle Anzüge, weiße Hemden und Krawatten. Alle, bis auf einen. Der hatte eine helle Cordhose an und eine etwas dunklere Jacke aus demselben Stoff. Er stach nicht nur wegen seiner Kleidung aus der Gruppe hervor. Er war auch sonst auffällig. Als einziger hatte er den Kopf hoch erhoben und blickte gleichmütig freundlich in die Runde. Die anderen redeten lautstark aufeinander ein. Er kannte diesen Mann. Es war Herr Bertold aus dem Staatsarchiv.
Er blieb stehen und beobachtete die Gruppe. Obwohl die Männer so formell gekleidet waren, machten sie den Eindruck einer aufgescheuchten Schar von Kindern. Lediglich Herr Bertold wirkte erwachsen. Unbeeindruckt von den kleinlichen Aufregungen des Alltags. Seine Bewegungen waren spärlich und überlegt, und als sich alle jetzt langsam von dem Haus entfernten, schien er auch eher zu schreiten als zu gehen.
Takes more than combat gear to make a man
Takes more than a license for a gun
Confront your enemies, avoid them when you can
A gentleman will walk but never run
Er bewunderte Herrn Bertold dafür, daß er seine überlegene Ruhe bewahren konnte inmitten dieser Horde von Ignoranten. So wäre er selbst gerne gewesen. Leider hatte er es bisher nicht geschafft, diese Gelassenheit für sich zu erreichen. Ignoranz und kleinkariertes materielles Denken regten ihn noch immer auf. Aber er war auf dem Weg, das zu ändern.
It takes a man to suffer ignorance and smile
Be yourself no matter what they say
Er drehte sich um und ging zur Fußgängerzone.
Als er am Pavillon der Braunschweiger Zeitung vorbei kam, erinnerte er sich an den Journalisten. Das Buch hatte der nicht bei sich gehabt. In seiner Wohnung war es nicht, und das Weghaus hatte die Polizei ja auch schon durchsucht. Aber wo sonst konnte Wagners Versteck sein? Klar war, daß er das Buch an einem sicheren Ort hatte. Was kam da in Frage?
Er war inzwischen auf die Herzogstraße eingebogen und stand vor dem einzigen Steinhaus aus dem 17. Jahrhundert. Damals war das die herzögliche Apotheke gewesen. Heute residierte hier eine Privatbank.
Eine Bank! Natürlich! Gab es einen noch sichereren Platz?
Und einen Schließfachschlüssel konnte man auch viel leichter verstecken als ein Buch. Plötzlich kam ihm eine Idee, und er setzte seinen Weg mit neuem Schwung fort. Er bewegte sich jetzt viel eleganter als eben. Geschickt umkurvte er eine Frau mit Kinderwagen, und als er von einem jugendlichen Skateboard-Fahrer angerempelt wurde, ging er ganz gelassen weiter, ohne sich darüber aufzuregen.
Vor einer Tierhandlung blieb er stehen und ging dann hinein. Als er wieder herauskam, trug er eine kleine Tüte in der Hand und ein Lächeln auf dem Gesicht. Er ging, leise vor sich hin summend, weiter.
I'm an alien - I'm a legal alien
I'm an Englishman in New York
* | * | * |
Ich fand mich wieder im Café am Stadtmarkt.
Die Kellnerin sah mich an mit einem Gesichtsausdruck, der Mitleid und Unverständnis widerspiegelte. Hatte ich denn etwas Außergewöhnliches bestellt?
„Sind Sie sicher?“, fragte sie.
„Aber ja!“
Ich war immerhin der Kunde. Das sah sie wohl auch ein und ging, um wenig später mit zwei Kännchen Kaffee wiederzukommen. Na, so ungewöhnlich war das ja nun doch nicht! Schließlich würde Theo bestimmt gleich kommen.
Wie auf Befehl tauchte er tatsächlich auf. Er wunderte sich gar nicht darüber, daß sein Kaffee schon bereit stand, nahm gleich einen Schluck und fragte dann sofort nach Aaron. Ich erzählte ihm, daß mein Freund anscheinend ins Weghaus eingezogen war. Theo erschrak.
„Good God! Weiß er denn, worauf er sich da einläßt?“
„Ja, mir ist auch nicht ganz wohl dabei. Ich weiß aber gar nicht, warum.“
„Frag mich! Weil es da gefährlich ist, natürlich!“
„Ihr glaubt, der Mörder könnte noch in der Nähe sein?“
„Nicht nur in der Nähe! Wir denken, er wohnt sogar da. Genauer gesagt: sie.“
„Du meinst Malchen? Die habt ihr doch verhaftet.“
„Könnte auch genauso gut Frau E. sein. Mein Chef ist jedenfalls dieser Ansicht.“
Ich überlegte. Irgendwie konnte ich Lisa genauso wenig als Mörderin sehen wie Malchen. Aber was war, wenn ich mich täuschte? Dann wäre Aaron in Gefahr! Theos Besorgnis war jedenfalls echt, und ich fing auch langsam an, mir Gedanken zu machen.
Be still my beating heart
It would be better to be cool
It's not time to be open just yet
A lesson once learned is so hard to forget
Nein, ich würde mich nicht in Aarons Beziehungsgeschichten einmischen! Das hatte ich einmal getan, vor vielen Jahren, und es hatte beinahe zum Bruch unserer Freundschaft geführt.
It's not healthy to run at this pace
The blood runs so red to my face
Theo Schneider hatte weitergeredet. Ich bemühte mich, wieder zuzuhören. Er sprach über Horst Wagner. Anscheinend gab es da etwas in seiner Vergangenheit, das ihn verdächtig machte. Es hatte irgendwie mit finanziellen Transaktionen zu tun. Theo beschwerte sich darüber, daß das Bankhaus Seeliger der Polizei keine Auskünfte geben wollte. Ich sagte:
„Horst ist ja nun tot. Was bringt es da noch, Dinge über ihn herauszufinden? Oder habt ihr etwa das Buch entdeckt?“
„Welches Buch? Ach so, wieder eure Spinnerei mit dem Alchimisten-Doktor. Nein. Das nicht. Aber irgendwer hat Herrn Wagner schließlich ermordet, nicht wahr? Ziemlich wahrscheinlich, daß es sein früherer Komplize war. Und da sind die beiden Frauen natürlich unsere heißesten Kandidaten.“
„Malchen auch?“
„Ja, wir haben ermittelt, daß Wagner und Frau E. in Goslar einen schweren Streit hatten. Und offenbar ging es da um Amalia Jacobi. Wie's aussieht, war dieser Journalist ein Teflon-Typ. Hat nicht viel anbrennen lassen.“
„Wie? Er hat auch was mit Malchen gehabt?“
„Wir glauben, ja. Kommen also beide Frauen als seine Komplizen in Frage. Und außerdem könnte sich jede von ihm betrogen gefühlt haben. Voilà! Noch ein Motiv für den Mord.“
„Ein Eifersuchtsdrama würde aber nicht die anderen Morde erklären!“
„Das ist auch nur ein weiterer Grund. Hauptsächlich geht es natürlich um die Erbschaft. Der Mord an Burckhardt ist der zentrale Schlüssel. Alles andere waren nur Folgen.“
„Streit unter Komplizen.“
„Oder das Beseitigen von Mitwissern. Kann sein, daß die Frau die Morde an Burckhardt und Nicolai nicht selbst verübt hat. Aber für Wagner hatte sie dann keinen Helfer mehr. Den Mord hat sie alleine begangen.“
„Von welcher Frau redest du jetzt?“
„Ich fürchte, Kommissar Widemann hat recht, und es ist Frau E. Deshalb hab ich ja auch Angst um Aaron.“
„Wenn das stimmt, dann hat sie gerade einen Komplizen verloren und könnte vielleicht einen neuen gebrauchen.“
„Genau. Und wenn Aaron erstmal mit drinhängt, ist er seines Lebens nicht mehr sicher! Können wir ihn nicht irgendwie da wieder rausholen?“
„Das dürfte nicht leicht werden. Ich bin nachher im Weghaus. Ich kann ja mal sehen, was sich machen läßt.“
Theo war froh, daß ich für seine Sorge ein offenes Ohr hatte. Am liebsten wollte er mitkommen und selbst auf Aaron einreden, doch ich konnte ihn überzeugen, daß ich alleine wohl bessere Chancen hätte. Während wir über meinen bevorstehenden Besuch im Weghaus redeten, und Theo mir immer neue Ratschläge gab, wie ich Aaron von der drohenden Gefahr überzeugen könnte, dachte ich nach. Der Zusammenhang von Mitwisser- und Komplizenschaft, den die Polizei annahm, war natürlich genauso gut möglich, wenn man als auslösendes Moment nicht die angestrebte Erbschaft, sondern die Suche nach dem Faust annahm. Ich sagte das Theo. Er meinte nur:
„Theoretisch, ja. Aber das müßte doch schon ein Verrückter sein, dem ein einziges Buch so wichtig wäre. Apropos 'Verrückter'. Habt ihr mit dieser neuen 'Botschaft' etwas anfangen können, die wir bei Wagner gefunden haben?“
„Ja, mir ist inzwischen eingefallen, daß der Text auch aus Goethes Faust ist. Die Frau, um die es da geht, ist Gretchen.“
„Die von der gleichnamigen Frage?“
„Genau. Gretchen hat sich mit Faust eingelassen, und ihr Bruder macht ihr jetzt Vorhaltungen.“
„Und was soll uns das sagen?“
„Ist ein Hinweis auf den nächsten Mord, fürchte ich.“
„Dann glaubst du, der Mörder schreibt die ganzen Zettel?“
„Wer könnte sie sonst immer so am Tatort plazieren?“
„Aber das macht keinen Sinn! Überleg doch mal! Ganz gleich, ob es jetzt um die Erbschaft geht oder um euer geheimnisvolles Buch. Der Mörder ist immer sehr geschickt vorgegan-gen, jedenfalls so, daß wir ihm bisher nichts beweisen konnten. Und dann soll er Hinweise geben? Warum denn? Das kann doch nur ein Verrückter machen. Und wenn der Mörder ein Psychopath ist, wie paßt das dann wieder zu seinem überlegten Handeln?“
Ich wußte darauf keine Antwort. Die Motive des Zettelschreibers waren mir auch nicht klar. Ich hatte nur das ganz bestimmte Gefühl, daß alle diese Botschaften direkt an mich gerichtet waren. Schließlich war ich es, der alle bisherigen Nachrichten entschlüsselt hatte. Und mich interessierten die Morde ja eigentlich gar nicht wirklich. Ich suchte nach dem Faust. Waren die Botschaften dann vielleicht als Hilfe für diese Suche gedacht?
Das würde ja bedeuten, daß mir die Frau, für die hier Gretchen stand, sagen konnte, was aus dem Faust geworden war. Malchen oder Lisa. Das wäre möglich. Beide hatten Kontakt zu Wagner gehabt und wußten vielleicht von ihm, wo er das Buch versteckt hatte.
Wer war Gretchen? Ich überlegte hin und her, kam aber zu keinem Ergebnis. Zuletzt wurde ich so verwirrt, daß sich alles um mich zu drehen schien.
I sink like a stone that's been thrown in the ocean
My logic has drowned in a sea of emotion
Stop before you start
Be still my beating heart
* | * | * |
If blood will flow when flesh and steel are one
Drying in the colour of the evening sun,
Tomorrow's rain will wash the stains away
But something in our minds will always stay
Die Nachmittagssonne schaffte es nicht, das Blut zu trocknen. Es floß heftig aus der Wunde an seiner Hand. Ärgerlich über sein eigenes Mißgeschick wickelte er ein Taschentuch um den verletzten Finger. Es färbte sich sofort rot. Er streckte die Hand nach oben, um den Blutfluß aufzuhalten. Sein ausgestreckter Finger zeigte wie anklagend in den Himmel. Eine einzelne, einsame Wolke war dort gerade dabei, sich vor die Sonne zu schieben.
Er hätte doch auf dem Weg bleiben sollen! Dann hätte er nicht über den Stacheldraht steigen müssen. In der Ferne sah er jetzt das Haus vor sich. Aus der Wolke fielen die ersten Regentropfen. Als er dann die Eingangstür der Gastwirtschaft erreicht hatte, schien sich das Ganze zu einem Platzregen auszuweiten, der den ansonsten blauen Himmel verdunkelte.
On and on the rain will fall
Like tears from a star - like tears from a star
Er ging hinein.
Trotz der Abgeschiedenheit des Hauses war der Schankraum fast bis zur Hälfte gefüllt. Er suchte nach einem Tisch in der Ecke und setzte sich. Sein Finger hatte jetzt aufgehört zu bluten.
Er sah sich um. Eine Goldgrube war das bestimmt nicht gerade, aber Herr Kleist hatte ja auch noch genug andere Eisen im Feuer. Wie das Weghaus, zum Beispiel. Das ließe sich vielleicht ausnutzen. Kleist hatte nicht nur Verbindung zu Diana Burckhardt, sondern auch zu Amalia Jacobi. Und die kannte Wagners Versteck!
Er müßte nur erst einmal den Kontakt herstellen. Erspüren, wo die Schwachstellen des Alten waren. Unter Umständen konnte er ihn dann zu seinem Gehilfen machen. Und wenn nicht, so war es sicher auch von Nutzen, einen möglichen Gegner besser kennenzulernen.
Er sagte der Bedienung, daß er eine Verabredung mit dem Chef hatte. Wenig später war Herr Kleist an seinem Tisch. Ohne Einleitung kam er gleich zur Sache.
„So, Sie interessieren sich also für das Anwesen Burckhardt?“
„Ja, ich könnte mir vorstellen, dort meinen Ruhestand zu verbringen. Wenn es in der Gegend so friedlich bleibt, wie es jetzt ist, heißt es. Sie wissen nicht zufällig, ob da irgendwelche Straßenbaupläne existieren?“
„Zufällig nicht. Sondern ganz absichtlich. Hab einen guten Freund im Bauamt der Stadt. In der Gegend gibt es keine Pläne für gar nichts. Das bleibt alles still und friedlich. Ein ausgezeichneter Platz zum Ausruhen.“
Herr Kleist erwärmte sich an seiner Aufgabe, die Vorzüge des Weghauses zu beschreiben. Ihm schien an dem Geschäft sehr gelegen zu sein, und es machte ganz den Eindruck, als ob er schon über das Haus verfügen könnte.
Schließlich verabredeten beide einen Termin für eine Besichtigung. Der Regen trommelte jetzt gleichmäßig auf das Dach.
* | * | * |
Rollo kam mit einem Freudengebell angelaufen und sprang übermütig an mir hoch. Eigentlich wollte ich schnell zu Aaron, und der Regen machte einen weiteren Aufenthalt im Freien auch nicht gerade attraktiv, aber Rollo ließ keinen Zweifel daran, daß ich mich zuerst noch ein wenig mit ihm beschäftigen mußte.
Also hockte ich mich hin und öffnete meine Arme. Der Hund stemmte mir seine Vorderpfoten an die Brust und versuchte, mein Gesicht zu lecken. Lachend wehrte ich mich und begann, ihn zu streicheln. Er ließ von mir ab und legte sich hin. Mit einem leichten Schwung rollte er auf den Rücken und streckte alle Viere in die Luft. Ich kraulte ihm seinen Bauch. Da Rollo keine Katze war, konnte er nicht schnurren, doch dieses wimmernde Gejaule, das er jetzt hören ließ, sollte wohl auch sein Wohlbehagen ausdrücken.
Nach einer Weile hatte er genug davon, drehte sich wieder um und schnüffelte an meiner Jackentasche. Als ich nachsah, was ihn da so interessierte, entdeckte ich einen Hundekuchen darin. Ich konnte mich gar nicht erinnern, ihn eingesteckt zu haben. Rollo war das egal. Er schnappte ihn und kaute sofort darauf herum.
Wir waren beide inzwischen vom Regen ziemlich durchgeweicht, aber Rollo wollte mir noch etwas zeigen. Er führte mich zu seiner Hütte und holte seine Stoffkatze heraus. Er legte sie vor mich hin und bellte.
Ich wußte nicht, was das sollte, nahm jedoch die Katze in die Hand und betrachtete sie. Sie sah noch genauso mitleiderregend aus wie beim letzten Mal. Ein undeutlicher Gedanke suchte einen Weg in mein Bewußtsein.
That nothing comes from violence
and nothing ever could
For all those born beneath an angry star
Lest we forget how fragile we are
Ich schaute Rollo an und er mich. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, ich könnte mitten in sein Herz sehen. Ich spürte eine Verletzlichkeit, die mich traurig machte. Wer weiß, was Rollo in seinem kurzen Leben schon alles mitgemacht hatte. Bestimmt nicht weniger als sein ramponiertes Spielzeug. Der Regen prasselte jetzt auf seine Hütte.
On and on the rain will say
How fragile we are - how fragile we are
„Was für ein Trauerspiel führt ihr denn da auf?“
Aaron brach abrupt in unser stimmungsvolles Miteinander ein. Ich war zwar gekommen, um mit ihm zu sprechen, doch jetzt hatte ich eher das Gefühl, daß er nur störte.
Rollo ging es auch so. Er fing leise an zu knurren, packte dann seine Katze und verstaute sie wieder in der Hütte. Die einzelne Wolke am Himmel hatte sich wohl verausgabt, denn jetzt hörte es ganz plötzlich auf zu regnen. Aaron sah erleichtert nach oben und kam dann freudestrahlend auf mich zu.
„Gut, daß du da bist. Ist doch bisweilen ganz schön anstrengend mit den beiden Frauen. Meinst du, der Regen ist vorbei? Dann können wir uns vielleicht ein bißchen in den Garten setzen.“
Er war anscheinend wirklich froh über mein Kommen. Und er sah mitgenommen aus. Das konnte nicht nur die Folge seiner neuen Lebensumgebung sein. Wahrscheinlich machte er sich Sorgen um Lisa. Oder er konnte Horsts Ermordung noch nicht verkraften. Schon am Dienstag hatte er sich ja benommen, als ob er selbst verantwortlich für Horsts Tod wäre, weil er ihm doch alles Schlechte gewünscht hatte.
Meine Vorbehalte, die ich noch früher am Tag gehabt hatte, verschwanden augenblicklich, und mein Freund tat mir leid. Am Ende war er nämlich auch nicht so widerstandsfähig, wie er immer gerne tat.
For all those born beneath an angry star
Lest we forget how fragile we are
Rollo und ich beschlossen, ihn ein bißchen aufzumuntern. Wir folgten ihm ums Haus herum in den Obstgarten. Ich setzte mich mit Aaron auf die Bank, und Rollo erkundete die nähere Umgebung. Ich sagte:
„Was ist jetzt mit den Neuigkeiten, die du versprochen hast?“
„Ja, stell dir vor, wir haben in Horsts Sachen das Buch gefunden, das ihr gesucht habt.“
„Was??! Wo ist es?“
Ich war wie elektrisiert. Bevor Aaron wußte, wie ihm geschah, hatte ich ihn gepackt und schüttelte ihn. Er war ganz überrascht von meinem Gefühlsausbruch und beeilte sich festzustellen, daß es nur um die Hülle des Fausts ging, nicht um das Manuskript selbst. Meine Anspannung löste sich in Enttäuschung. Aber immerhin war damit sicher, daß Horst das Buch gehabt hatte!
Ich erzählte davon, was die Polizei über Horst ermittelt hatte und von ihren Vermutungen zu seinen Komplizinnen. Wie erwartet ließ Aaron die Möglichkeit, Lisa könnte etwas mit Horsts Tod zu tun haben, gar nicht erst gelten. Auch Malchen erschien ihm nicht gerade plausibel. Allerdings wußte er auch hier mehr als ich.
„Malchen hat inzwischen zugegeben, daß sie Wagner vor seiner Ermordung getroffen hat. Er hatte sie angerufen und zum Schloß bestellt.“
„Hat sie auch erzählt, warum?“
„Ja, sie sollte ihm etwas aus dem Weghaus besorgen.“
„Der Faust! Das muß der Faust gewesen sein!“
„Das hat sie nicht gesagt.“
„Aber bestimmt war es so! Und hat sie ihm gebracht, was er wollte?“
„Nein. Sie hat doch erst bei dem Treffen davon erfahren.“
„Warum hat Horst ihr nicht schon am Telefon gesagt, daß sie es mitbringen soll?“
„Hab ich mir auch überlegt. Vielleicht wollte er sich erst sicher sein, daß sie mitspielt, bevor er ihr das Versteck verrät.“
„Ja, könnte sein.“
Ich dachte nach. Wenn Malchen nicht gelogen hatte, dann müßte der Faust also doch noch im Weghaus sein. Oder zumindest auf dem Grundstück.
Rollo war von seiner Erkundung zurück und lag jetzt vor meinen Füßen. Ich hatte den Eindruck, er verfolgte unser Gespräch aufmerksam. Der unbestimmte Gedanke von eben versuchte wieder, sich Gehör zu verschaffen. Ich hatte etwas gesehen, das von Bedeutung war. Aber es gelang mir nicht zu erkennen, was es war. Aaron sagte:
„Ich weiß schon, was du denkst. Wir müssen uns wohl noch mal auf die Suche machen.“
„Und zwar gründlich! Das Buch muß hier irgendwo stecken!“
„Wir können natürlich auch Malchen fragen, falls sie wieder entlassen wird.“
„Wenn Malchen Horsts Komplizin war oder sogar seine Mörderin, dann wird sie uns sicher nicht das Versteck verraten.“
„Glaubst du wirklich, daß Malchen die Mörderin ist?“
„Wenn nicht, dann ist ja wohl Lisa am verdächtigsten.“
„Du spinnst. Lisa doch nicht! Sie könnte eher das nächste Opfer werden. Denk doch mal an den Zettel!“
„Ach ja, der Zettel. Du hattest recht. Es wird da von einer Frau gesprochen. Und zwar ist das Gretchen, die Geliebte von Faust.“
„Gretchen. Gretchen. Klingt so ähnlich wie 'Malchen'.“
„Malchen könnte natürlich auch mit dem Text gemeint sein. Theo denkt, sie hätte auch was mit Horst gehabt.“
„Ich weiß noch etwas ganz anderes von Malchen! Sie war früher wohl mal mit Kleist zusammen! Heimlich natürlich.“
„Sag bloß! Aber trotzdem, das ist alles immer noch zu vage. Gretchen ist immerhin schwanger geworden.“
„Malchen auch! Glaubt jedenfalls Lisa.“
„Und was ist aus dem Kind geworden?“
„Abgetrieben wahrscheinlich.“
„Gretchen soll ihr Kind ermordet haben. War vielleicht auch nur eine Umschreibung für eine Abtreibung.“
„Dann paßt das ja genau!“
„Sieht so aus, als könnte der Text tatsächlich eine Anspielung auf Malchen sein.“
„Na, zum Glück ist die zur Zeit ja bei der Polizei in Sicherheit!“
Weiter mit Kapitel 22