Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König

Kapitel 22





Kapitel 22: tatort



Theo Schneider trat vor den Kaffeeautomaten. Wie so oft wollte der einfach nicht tun, wozu er aufgestellt war. Theo hatte es mit verschiedenen Geldstücken versucht, mit Reiben der Münzen und mit gutem Zureden. Alles vergebens. Schließlich hatte der Automat zwar sein Geld genommen, weigerte sich aber nun hartnäckig, dafür Kaffee abzugeben.
Es war Freitag vormittags. Eine ereignisreiche – und für die Polizei erfolglose – Woche ging zuende, und noch war nicht sicher, daß auch für die beiden ermittelnden Beamten morgen das Wochenende beginnen würde. Diese schlechten Aussichten hatten ihm schon die Stimmung verdorben, und die blöde Maschine trug auch nicht gerade dazu bei, Theos Laune zu verbessern. Er trat noch einmal zu und fluchte wütend:

„Scheiß-Automat! Genauso widerspenstig wie Amalia Jacobi.“

Die hatte lange konsequent geschwiegen. Erst nach endlosen Verhören gab sie wenigstens zu, daß sie am Tatort gewesen war. Nur den Mord wollte sie einfach nicht gestehen.
Zuletzt mußte sie dann gestern abend freigelassen werden. Ihr Anwalt hatte keine Ruhe gegeben, bis der Untersuchungsrichter die Entlassung anordnete. Wenn er nur daran dachte, sträubten sich Theos Haare. Er war beim Haftprüfungstermin gewesen, weil Kommissar Widemann sich raushalten wollte. Wie da dieser Zacharias mit ihm umgegangen war! Als wäre Theo ein dummer Junge, hatte er ihn gar nicht beachtet, und nur den Richter direkt angesprochen. Dieser aufgeblasene Angeber mit seinem juristischen Getue! Und was er erst mit der deutschen Sprache veranstaltete! Theo schüttelte sich.
Die Erinnerung an Dr. Z. ließ den nächsten Tritt gegen den Automaten noch heftiger ausfallen. Plötzlich rührte sich da etwas. Die Maschine gab tatsächlich ihr kostbares Getränk preis. Theo grinste erleichtert. Von der anderen Ecke des Raumes kam der Kommentar eines uniformierten Kollegen:

„Aber Theo! Schon wieder brutale Polizeigewalt gegen einen hilflosen Apparat? Mit Gefühl mußt du den Automaten behandeln, wie deine Freundin. Oder kannst du das etwa auch nicht?“

Was wußten die Kollegen schon von seinem Gefühlsleben! Genau genommen hatte er gar keines mehr. Wenn es für Theo im Moment eine Beziehung gab, so war das die zu Albert Widemann. Theo stöhnte. Bei der ganzen Aufregung blieb überhaupt keine Zeit für die schönen Dinge des Lebens! Die Arbeit erlaubte ihm auch nicht, sich um Aaron zu kümmern, so wie er es gerne getan hätte.
Aaron war in Gefahr. Das wußte er. Wie konnte er ihn nur aus dem Weghaus herausholen? Er mußte sich dringend etwas einfallen lassen. Grübelnd balancierte Theo Schneider seine beiden Kaffeebecher zurück ins Büro.



Kommissar Widemann kaute auf einer kalten Pfeife und hörte seinen Fernsehkollegen zu, deren 'Goody Goody' aus dem alten Kassettenspieler tönte. Normalerweise hätte das seine Stimmung gehoben, aber heute mühten sich Krug und Brauer vergebens. Widemann war genauso schlecht gelaunt wie sein Assistent. Schon den ganzen Morgen über hatte er nur herumgeknurrt. Er nahm einen Schluck von dem Kaffee, den Theo unter so großem persönlichen Einsatz besorgt hatte, und fauchte:

„Schmeckt fürchterlich. Dafür, daß wir dieses Gebräu trinken müssen, sollten wir eigentlich eine Gefahrenzulage verlangen.“

Theo Schneider lächelte pflichtschuldigst.

„Ist schon ziemlich traurig, daß sich das Land keine neue Kaffeemaschine leisten kann. Demnächst machen sie bestimmt auch noch unsere Kantine dicht.“

„Werden wir uns wohl notgedrungen selber eine kaufen müssen.“

„Eine Kantine?“, wollte Theo fragen, aber er schluckte es herunter. Für müde Scherze war sein Chef zuständig. Stattdessen murmelte er nur zweideutig. Er wollte Widemann nicht widersprechen, aber eigentlich hätte er sowieso lieber Tee getrunken.
Über den Anwalt Zacharias waren die beiden hingegen vollkommen einer Meinung. Auch Widemann hatte ihn seit gestern schon mehrfach zum Teufel gewünscht. Mittlerweile hatte er sich aber damit abgefunden, daß sie Frau Jacobi wieder entlassen mußten. Theo Schneider ärgerte sich immer noch. Er sagte:

„Dieses dämliche Gerede von 'fehlender Fluchtgefahr'! Sie glauben gar nicht, was er alles vom Stapel gelassen hat. Am Ende sah es beinahe so aus, als ob wir die Jacobi aus lauter Schikane verhaftet hätten.“

„Na ja, ist schon klar, daß er versucht, seine Mandantin frei zu kriegen. Dafür wird er schließlich bezahlt.“

„Aber der Richter doch nicht!“

„Der Richter konnte dann nicht anders. Wir haben ja auch wirklich nicht viel in der Hand.“

„Immerhin war sie am Tatort.“

„Das war Karl Roland auch. Nein, nein. Ich hätte sie zwar gerne noch hierbehalten. Allein um zu sehen, was sie uns verschweigt. Aber als Mörderin seh ich sie ja auch nicht.“

„Mal langsam, Chef. Die tut vielleicht nur so, als ob sie nicht bis drei zählen kann. In Wirklichkeit weiß die genau, was sie will.“

„Ach was. Frau Eschenburg steckt hinter der ganzen Sache. Und der Journalist war ihr Komplize. Den hat sie eiskalt benutzt und dann beseitigt, als er seine Arbeit getan hatte. Ihre Skrupellosigkeit sieht man ja daran, wie schnell sie sich schon einen neuen Liebhaber und Komplizen zugelegt hat.“

Jetzt wurde es für Theo heikel. Daß Aaron auch ins Fadenkreuz der Untersuchung geriet, paßte ihm gar nicht.

„Ich kann mir nicht vorstellen, was Herr Schmitt damit zu tun haben soll.“

„Ach was. Ist doch ein seltsamer Vogel. War mir schon die ganze Zeit verdächtig.“

Theo hatte es eilig, von Aaron abzulenken. Er brachte das Gespräch zurück zu Dr. Zacharias.

„Wenn wir schon über skrupellose Menschen reden: Dr. Z. ist bestimmt einer. Den kümmert es doch überhaupt nicht, ob seine Mandantin schuldig ist oder nicht.“

„Was mich wundert, ist seine Zusammenarbeit mit diesem Kleist.“

Theo Schneider schwenkte bereitwillig auf das neue Thema ein. Das gab ihm Gelegenheit, seine eigene Lieblingstheorie zu lancieren. Eigentlich war er ja mit dem Kommissar der Meinung, daß Lisa Eschenburg am verdächtigsten war. Aber da eine der Schlußfolgerungen aus dieser Erkenntnis für Widemann bedeutete, daß Aaron in die Sache verwickelt war, konnte er dem Kommissar nicht zustimmen. Darum hatte er sich mit dem Gedanken ange-freundet, daß schließlich Diana Burckhardt und Amalia Jacobi genauso von dem Erbe profitierten. Und wenn man ihnen die eine oder andere Tat nicht zutraute, kam eben Gustav Kleist als Komplize in Frage. Kommissar Widemann war skeptisch:

„Führt uns wieder zu Amalia Jacobi als Mörderin, aber das seh ich eben nicht.“

„Es kann doch auch Kleist gewesen sein. Vielleicht ist er ja mehr als ein Komplize und verfolgt noch eigene Interessen.“

„Wie auch immer. Fakt ist, wir können bisher keinem der Kandidaten wirklich etwas nachweisen.“

Und das war der entscheidende Punkt. Beiden wäre nämlich notfalls jeder Mordverdächtige als Täter recht gewesen, wenn sie nur endlich etwas Konkretes in der Hand gehabt hätten. Ihre bisherigen Ermittlungen führten nur zu unbelegten Theorien. Und die waren weit davon entfernt, auch nur einen Haftbefehl zu rechtfertigen. Im Fall von Amalia Jacobi war ihnen das ja deutlich gezeigt worden.
Mehrere ungeklärte Morde in so kurzem Abstand. Das hatte es in Wolfenbüttel noch nie gegeben. Der Druck der Öffentlichkeit wurde täglich spürbarer. Es war langsam Zeit, daß sie brauchbare Ergebnisse vorweisen konnten. Das wußten sie.
Die Motivation der beiden Kriminalisten war dabei aber vollkommen unterschiedlich. Widemann wollte nur wieder seine Ruhe haben und an Routineuntersuchungen arbeiten. Schneider dagegen hätte sich gerne durch die Aufklärung profiliert, um seine Karriere voranzutreiben. Deshalb war er auch durchaus bereit, auf dem Weg dahin größere Risiken einzugehen:

„Und wenn wir dem Mörder eine Falle stellen?“

„Wie soll das gehen?“

„Wir haben ja für den Wagner-Mord einen Beinahe-Zeugen. Wenn wir nun durchsickern lassen, daß Karl Roland mehr gesehen hat, als wir bisher bekanntgegeben haben?“

„Hm.“

„Das würde den Täter doch vielleicht aus der Reserve locken. Und wenn er dann versucht, diesen Zeugen loszuwerden, schlagen wir zu.“

„Mein lieber Inspektor. Sie sehen zu viele Fernsehkrimis. Wie sollen wir denn eine lückenlose Überwachung für Herrn Roland organisieren? Bei unserem Personalstand.“

„Ich würde wohl noch ein paar Überstunden machen. Und einige Uniformierte könnten uns auch helfen.“

Er hatte dabei besonders POM Schulz im Auge, der ihm noch einen Gefallen schuldig war, seit er dessen Schußwaffengebrauch gegen eine Stoffkatze vertuscht hatte.

„Selbst wenn! Wir würden das nie genehmigt kriegen.“

„Wir müssen schließlich der Staatsanwältin nicht unbedingt alles auf die Nase binden.“

Aber Kommissar Widemann blieb uneinsichtig:

„Trotzdem! Es geht doch nicht. Viel zu gefährlich für Karl Roland!“

Enttäuscht starrte Theo Schneider in seinen Kaffee.



Während die Kriminalbeamten noch angeregt ihre weitere Strategie diskutierten, saßen zwei der Hauptverdächtigen im Auto. Widemann und Schneider wären sehr verwundert gewesen, wenn sie gewußt hätten, daß Lisa und Diana auf dem Weg zu ihnen waren.
Diana freute sich, daß Aaron nicht mitgekommen war. Sie fühlte sich in seiner Anwesenheit immer noch unbehaglich. Und obwohl ja er sich in ihre häusliche Ruhe gedrängt hatte, kam sie sich wie die überflüssige Dritte vor, wenn Lisa und Aaron zusammen waren. Deshalb genoß sie es jetzt sehr, einmal ungestört mit Lisa reden zu können. Die Frauen plauderten über alte Zeiten, und es war ein bißchen so wie früher. Aus dem Radio säuselte ein altbekanntes Lied:

Spiel mir eine alte Melodie
Voll Gefühl und Harmonie
Himmelblau und rosa möcht ich sie
Zärtlich und voll Poesie

Als sie am Friedhof vorbeifuhren, wurden sie wieder in die Gegenwart zurückgeholt. Diana sagte:

„Meinst du nicht, Lisa, es hätte sich gehört, daß du wenigstens zu Horsts Beerdigung gegangen wärst?“

„Hab ich auch erst gedacht. Aber Aaron meinte, das wäre nicht nötig. Ich sollte lieber auf meine Gefühle hören.“

„Dieser Mann bestimmt inzwischen wohl alles, was du tust. Wohnt der eigentlich jetzt hier?“

„Und wenn?“

„Ich will's ja nur wissen.“

Wenn sie ehrlich gegen sich selbst war, hätte Lisa das auch gerne gewußt. Aarons Einzug ins Weghaus war gar keine bewußte Entscheidung gewesen. Es hatte sich einfach so ergeben. Als sie darüber nachdachte, kam sie sich ja schon ein bißchen herzlos vor. Sie hatte wirklich sehr schnell den einen Mann gegen den anderen ausgetauscht, und sie wußte noch nicht einmal, ob sie es ganz ernst damit meinte. Nur über eins war sie sich im klaren, nämlich daß Aaron ihr gut tat. Er war so erfrischend anders als Horst. Wo der zynisch und berechnend immer einen Blick für das Praktische gehabt hatte, war Aaron offen und begeisterungsfähig. Wenn ihn ein Thema erwärmte, konnte er richtig überschwenglich werden. Und er hatte etwas von einem Traumtänzer an sich. Besonders das verunsicherte Diana anscheinend.
Die hatte inzwischen weitergeredet. Es ging jetzt wieder um das Haus.

„Gustav hat auch schon einen Interessenten!“

„Willst du denn doch verkaufen?“

„Wenn Malchen und du da bleiben, bestimmt nicht. Aber alleine kann ich hier nicht mehr sein. Gustav sagt auch -“

„Apropos Kleist! Weißt du eigentlich etwas über seine Beziehung zu Malchen? Früher, mein ich.“

„Hat es nicht gegeben.“

„Aber ist Malchen denn damals nicht schwanger gewesen?“

„Nie und nimmer!“

„Bist du sicher?“

Aber jetzt war Diana still. Sie hatte Lisas Fragen als persönliche Beleidigung aufgefaßt. Obwohl sie nicht glaubte, daß sie ernst gemeint waren. Lisa wollte nur wieder gegen Gustav stänkern. Immer mußte sie auf ihm herumhacken! Man könnte meinen, sie wäre eifersüchtig. Dabei war Gustav ja nur ein Freund für sie. Oder doch mehr? Wollte sie das gerne? Und was war mit dem Haus? Wollte sie das wirklich verkaufen? Gründe dafür gab es genug. Doch sie hatte schon ihren Vater verloren, die Verbindung zu Lisa und Malchen drohte zu zerreißen. Konnte sie denn alles zusammen aufgeben?
Wo sollte sie dann hin? Was sollte sie tun?
„Einfach nur leben“, hatte Gustav gesagt. Aber wie ging das?



Wachtmeister Schulz saß an der Telefonanlage und versuchte, eine Rufumleitung zu schalten. Irgendwie schaffte er es nicht. Ein Kollege kam aus dem Aufenthaltsraum dazu und sagte gutgelaunt:

„Na, Catkiller, Probleme mit der Technik?“

Bevor Schulz an eine witzige Erwiderung denken konnte, öffnete sich die Tür, und Diana und Lisa betraten die Wachstube. Diana ging sofort an die Theke und legte gleich los:

„Wo ist Malchen?“

„Wie bitte?“

„Amalia Jacobi.“

„Schulz, Polizeiobermeister.“

„Nein.“

„Doch.“

„Was?“

„Ich bin wohl Polizeiobermeister.“

„Meinetwegen. Aber ich bin nicht Amalia Jacobi. Wir suchen sie.“

„Aha. Seit wann wird sie vermißt?“

„Ja, ist sie denn nicht da?“

„Das behaupten Sie doch!“

„Nein, Sie!“

„Nun aber mal langsam. Sie haben gesagt, Sie suchen Frau Jacobi.“

„Ja, aber nicht irgendwo, sondern hier. Wir wollen sie abholen.“

„Dazu müssen wir sie wohl erst einmal finden, nicht wahr?“

„Wissen Sie denn gar nicht, wo sie ist?“

„Nun, allwissend sind wir ja auch nicht. Aber keine Angst, das kriegen wir schon hin. Also noch mal ganz von vorne. In welchem Verhältnis stehen Sie zu der Vermißten?“

„Jetzt reicht's aber! Sie gehen sofort los und holen Malchen!“

„Mit Schreien erreichen Sie bei mir gar nichts. Hier geht alles seinen geregelten Gang. Solange Sie mir nicht sagen, in welchem Verhältnis ...“

Diana fuchtelte aufgeregt mit beiden Armen vor Schulz umher. Lisa befürchtete, daß sie handgreiflich werden könnte. So schob sie ihre Cousine aus dem Weg und übernahm selbst das Wort:

„Diana, laß mal. Wir wollen Kommissar Widemann sprechen.“

„Der kann Ihnen auch nichts anderes sagen. Zuerst muß die Anzeige aufgenommen wer-den.“

„Wir wollen gar keine Anzeige erstatten. Höchstens gegen Sie, wenn Sie nicht gleich den Kommissar holen.“

Diana drängelte sich wieder nach vorne. Sie hatte jetzt vollkommen die Geduld verloren und rief aus Leibeskräften: „Widemann!! Widemann!!“

„Aber so reißen Sie sich doch zusammen! Bedenken Sie, wo Sie sind!“

Der hilflose Polizist bemühte sich verzweifelt, Diana wieder zu beruhigen, aber da stimmte auch Lisa mit ein: „Widemann!! Widemann!!“

Froh über die Unterstützung erweiterte Diana ihr Repertoire und schrie: „Malchen, halt aus, wir kommen!“

„Was ist denn hier los?“

Theo Schneider hatte den Raum betreten.
Wachtmeister Schulz und die beiden Frauen waren gleichermaßen erfreut, einen weiteren Gesprächspartner zu bekommen. Alle redeten sofort lautstark auf Theo ein. Der schreckte zuerst zurück und versuchte dann, die Wogen zu glätten. Doch es gelang ihm nicht. In dem Gesprächsschwall, der auf ihn einflutete, erkannte er aber, daß die Frauen wohl seinen Chef sprechen wollten. Deshalb bugsierte er sie vorsichtig aus dem Raum. Auf dem Flur schimpfte Diana unverdrossen weiter über Theos uniformierten Kollegen, Lisa hatte sich schon wie-der beruhigt. Theo versuchte, Schulz in Schutz zu nehmen, aber da schossen sich beide auf ihn ein. Hilflos gegen diese geballte weibliche Sprachgewalt verstummte er und ging zügig voraus zum Büro.
Albert Widemann war erstaunt, als die Gruppe das Zimmer betrat.

„Frau Eschenburg, Frau Burckhardt, was für eine Überraschung! Kann ich etwas für Sie tun?“

Diana war immer noch in Fahrt:

„Wir wollen uns beschweren, über diesen Untermeister.“

„Wie bitte?“

„Obermeister, Polizeiobermeister“, sagte Theo erklärend. „Anscheinend hat es da ein Mißverständnis mit Schulz gegeben.“

„Oh nein, ich hab diesen Meister schon richtig verstanden. Er weigert sich einfach, Malchen herauszugeben!“

Widemann sah immer noch nicht klar, aber jetzt griff Lisa ein:

„Laß mich mal, Diana. Herr Widemann, wir sind gekommen, um Frau Jacobi abzuholen. Dr. Zacharias sagt, daß sie freikommt.“

„Die ist doch schon längst entlassen worden.“

„Was?“ Diana blieb der Mund offen.

„Natürlich! Gestern abend! Dr. Zacharias hat alle Hebel in Bewegung gesetzt. Der Untersuchungsrichter mußte sogar aus dem vorzeitigen Wochenende kommen.“

„Und wo ist sie dann?“

„Na, Herr Kleist hat doch schon auf sie gewartet. War das denn nicht mit Ihnen abgesprochen?“

Theo Schneider und Albert Widemann sahen sich verwundert an. Sie hatten ganz selbstverständlich angenommen, daß Kleist im Auftrag der Familie gehandelt hatte. Doch diese Annahme war offensichtlich falsch gewesen. Diana fand nur langsam die Sprache wieder:

„Wieso hat Gustav dann nicht ...? Und warum ist sie nicht nach Hause gekommen?“

„Und wo ist Malchen jetzt?“

Lisas Frage war an das offene Fenster gerichtet, durch das ein lauer Frühlingswind hereinwehte. Aber auch wenn sie jemanden im Raum direkt angesprochen hätte, wäre sie wohl ohne Antwort geblieben.



Amalia Jacobi betrat den Friedhof. Hinter dem unscheinbaren Gartentor lag eine andere Welt. Eben noch, auf der Leonhardstraße, hatten reichlich Autos gelärmt. Aber hier war alles still. Totenstill. Sie blieb stehen und lauschte. Selbst das Vogelgezwitscher klang seltsam entfernt und gedämpft. Von Menschen weit und breit nichts zu sehen. Der Friedhof wurde anscheinend nicht mehr benutzt. Die meisten Gräber waren verfallen und von Gras und Sträuchern überwachsen. Jahrhunderte hatten an den einst prunkvollen Steinen genagt und waren dabei, sie einzuebnen und zu einem Teil der Natur zu machen. Ein Hauch von Vergänglichkeit lag in der Luft, und Malchen kam ein altes Lied in den Sinn:

It's still the same old story
A fight for love and glory
A case of do or die
The world will always welcome lovers
As time goes by

Links sah sie eine kleine Kapelle mit einer Bank davor. Sie beschloß, da zu warten und ging hinüber. Die Grabsteine, die dort standen, waren so verwittert, daß man an vielen die Schrift gar nicht mehr lesen konnte. Wie immer, wenn sie auf einem Friedhof war, mußte sie im Vorübergehen einfach versuchen, wenigstens die Namen zu entziffern. Viele waren adelig. Eben war sie an einem 'von Kuntzsch' vorbeigekommen, und hier lag ein 'Freiherr Widemann'.
Hieß nicht einer der Polizisten, die sie verhört hatten, 'Widemann'? Amalia dachte zurück an die unerfreulichen Stunden nach der Verhaftung. Als sie hören mußte, daß Horst ermordet worden war, hatte der Schrecken sie zum Schweigen gebracht. Sie hätte auch gar nicht gewußt, was sie auf die Vorwürfe, die in den Fragen der Polizisten steckten, antworten sollte.
Später dann hatte sie überlegt. Der Mörder konnte beim Schloß schon in der Nähe gewesen sein. Er mußte sie gesehen haben. Und vielleicht war er jetzt hinter ihr her. Nachdem ihr das klar geworden war, hatte sie erst recht weiter geschwiegen. Im Knast war sie wenigstens in Sicherheit. Da konnten die Polizisten machen, was sie wollten. Sie war stur geblieben.
Bis Gustav sie überredete, wenigstens das Treffen mit Horst zuzugeben. Die Aussage mußte wohl zu ihrer Entlassung geführt haben. Da hatte sie aber auch schon genug von dem Aufenthalt im Polizeigewahrsam gehabt. Sie freute sich, als Kleist sie abholte und in die Freiheit begleitete. Doch dann war die Angst wieder zurückgekommen. Und Gustav hatte ihre Befürchtungen bestätigt:

„Du bist eine wichtige Zeugin. Vielleicht fühlt sich der Mörder von dir bedroht. Oder er denkt, Herr Wagner hat dir etwas erzählt, was du besser nicht wissen solltest. Ich glaub nicht, daß du zuhause noch sicher bist.“

Er hatte sie überredet, sich zumindest für eine Weile in Braunschweig zu verstecken. Nach anfänglichem Zögern willigte Malchen ein und ließ sich zum Bahnhof begleiten. Kleist gab ihr die Adresse von einem Gasthof am Aegidienmarkt und setzte sie in den Zug.
Amalia kannte sich in Braunschweig nicht aus, aber der Gasthof war einfach zu finden. Nach der Zeit in der Polizeizelle kam ihr das für sie reservierte Zimmer wie ein unglaublicher Luxus vor, den sie genoß. Später wäre sie gerne ein wenig durch die Stadt spaziert, aber Gustav hatte ihr eingeschärft, das Haus nicht zu verlassen, bis er kommen würde.
Deshalb hatte sie sich sehr gewundert, als heute morgen der Wirt an ihre Tür klopfte und ihr mitteilte, Herr Kleist hätte angerufen und sie gebeten, sich mit ihm auf dem Magnikirchhof zu treffen.
Was sollte das? Warum kam er nicht hierher, sondern schickte sie auf den Friedhof?
Das Ganze erschien ihr nicht geheuer. War es vielleicht gar nicht Gustav, der angerufen hat-te? Aber wer sollte es sonst gewesen sein? Es wußte ja keiner, daß sie hier war.
Sie kannte den Magnikirchhof nicht. Es war ein schönes Stück zu laufen, und wenn der Wirt ihr nicht gesagt hätte, daß es in der Nähe der Stadthalle sein sollte, hätte sie es wohl nicht so leicht gefunden. An der kleinen Nebenstraße war sie erst vorbeigegangen. Aber dann sah sie den Friedhof rechts liegen und wußte, daß sie angekommen war.
Und hier saß sie nun.

Gustav ließ weiter auf sich warten. Amalia wurde ungeduldig. Halblaut schimpfte sie auf den Mann. Erst bestellte er sie an diesen abgelegenen Ort, und dann kam er selbst nicht. Warum? Was dachte er sich dabei?
Das war vielleicht genau die Frage. Es konnte gut sein, daß Gustav ihr nicht nur aus reiner Freundlichkeit half. Sie hatte ihn schon immer für egoistisch gehalten. Stets auf seinen Vorteil bedacht. War er vielleicht hinter ihrem Geheimnis her? Für sich hatte Malchen sowieso längst beschlossen, ihm nicht anzuvertrauen, was sie von Horst erfahren hatte. Aber das sollte er nicht wissen. Möglicherweise konnte er ja noch nützlich für sie sein.
Sie stand auf, um sich die Beine zu vertreten. Kleist hatte nicht gesagt, wo sie auf ihn warten sollte. Sie nahm an, daß er auch zu diesem Eingang kommen würde, und deshalb war sie hiergeblieben. Aber jetzt wollte sie etwas herumlaufen. Sollte er doch dann auf sie warten! Sie ging quer über die Wiese vor der Kapelle und danach weiter in die Anlage hinein.
Hier standen die Bäume enger, und dazwischen wucherten Sträucher und dichtes Unterholz. Schwer zu erkennen, ob das gewachsene Natur war, in die hinein man die Gräber gesetzt hatte, oder ob der ursprünglich einmal angelegte Friedhof in den Jahrhunderten ohne Pflege so verwildert war. Auf jeden Fall ein sympathisches Durcheinander! Peinlich ordentliche Gärten waren Malchen ein Greuel. Nicht zuletzt, weil sie wußte, wieviel Arbeit das machte. Arbeit, vor der sie sich immer gerne gedrückt hatte. Das war jetzt nicht mehr nötig. Nie mehr würde sie in einem Garten auch nur eine Hand rühren müssen.
Je weiter sie sich vom Eingang entfernte, desto dichter wurde das Gestrüpp zwischen den Gräbern. Manche Wege waren direkt zugewachsen. Das wurde ihr langsam ein wenig zu viel Natur. Sie versuchte, wieder auf einen Hauptweg zu gelangen. Tief im Schatten der Sträucher raschelte es. War da jemand?
Ein Schauer lief ihr den Rücken herunter und ließ sie schneller gehen. Hatte sie gerade Schritte gehört? Oder bildete sie sich das ein? Sie sah nach hinten. Niemand da. Gustav würde doch bestimmt rufen und nicht hinter ihr herschleichen. Ihr war jetzt etwas unheimlich zumute. Sie ging noch schneller und kam schließlich wieder in offeneres Gelände.
Auch in diesem Teil des Friedhofs war kein Mensch. Die Sonne schien hier ungehindert durch die Bäume. Amalia blinzelte. Auf einer großen Platane saß ein Raubvogel. Als ob er ihren Blick auf sich gespürt hätte, erhob er sich jetzt von seinem Ast, schwang sich einige Meter in die Höhe und stieß dann plötzlich herab. Unwillkürlich entfuhr ein Schrei ihren Lippen, als sie sah, daß er ein Eichhörnchen erspäht hatte. Das kleine Tier lief um sein Leben, aber der Greifvogel war schneller. Er packte zu und warf es aus dem Baum, auf den es sich geflüchtet hatte, auf den Boden. Das Eichhörnchen kreischte in Todesangst, und das Geräusch wurde von den Vögeln ringsum aufgenommen und pflanzte sich fort über das ganze Gelände. Aufruhr in der eben noch friedlichen Natur!
Erschreckt drehte Malchen sich ab und ging weiter. Sie hatte Mitleid mit dem Eichhörnchen, aber schließlich war das der Lauf der Welt. Der Stärkere tötet den Schwächeren. Und war es nicht eigentlich angemessen, auf einem Friedhof zu sterben?
Amalia Jacobi kam jetzt zu einer Wiese, die eine ganze Reihe von großen Grabsteinen beherbergte. Sie waren unregelmäßig verteilt, einige standen in kleinen Gruppen beisammen. Wege dazwischen gab es nicht mehr. Es sah aus, als ob sich ehrwürdige Gestalten zu einer stillen Versammlung eingefunden hätten.
Sie ging zu einer der Gruppen und las die Inschriften. Auf einem noch relativ gut erhaltenen Stein, der anscheinend irgendwann einmal restauriert worden war, entdeckte sie einen vertrauten Namen: Gotthold Ephraim Lessing.
Amalia staunte. Der lag hier? Um den drehte sich doch das ganze Geschehen, zu dessen Teil sie auch geworden war. Was für ein seltsamer Zufall. Auf dem Grab wuchsen sogar ein paar frisch eingepflanzte Primeln.
Die Grabstätte dicht daneben war nicht so gepflegt und von Bodendeckern vollkommen zugewachsen. Amalia bückte sich und schob die Ranken über dem kleinen Stein beiseite. Ein gewisser 'Friedrich König' lag hier im Schatten des berühmten Mannes. Der Name sagte ihr nichts. Sie ließ die Ranken wieder los, und sie schnellten raschelnd zurück in ihre Position.
Im selben Augenblick hörte sie auch von hinten ein Rascheln. Sie versuchte, sich umzudrehen, aber es ging nicht mehr. Zwei starke Hände hielten sie fest. Als sie wenigstens den Kopf drehen wollte, legten sich die Hände um ihren Hals und drückten unerbittlich zu.
„Was für ein passender Ort zum Sterben“, dachte sie noch, bevor das Rauschen im Kopf jede andere Wahrnehmung übertönte und ihr Bewußtsein fortschwemmte.







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