Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König

Kapitel 25







Kapitel 25: Small Change




Die Nacht lastete schwer über dem alten Gemäuer und lähmte für einen Augenblick auch alles Lebendige, was sich etwa in seinem Innern befinden mochte. Mitten auf dem Hof reckte sich das Kruzifix wie anklagend nach oben, eine starre, himmelwärts gerichtete Geste. Todesstille legte sich auf das Kloster.
Dann war der Moment vorbei und das Leben kehrte zurück. Aber es war unnatürliches Leben. Gespenstisch rumorte es in den Winkeln der Gebäude, sonderbare Schatten huschten über den Hof. Hinter dem Brunnen funkelten teuflische Augen im spärlichen Mondlicht.
Eine Wolke zog vor den Mond und verdunkelte die Szenerie. Mit dem Licht verschwanden auch alle Schatten. Die Bewegungen um den Brunnen herum waren nur noch zu ahnen. Dann gab die Wolke wieder etwas Mondlicht frei, und auch das Funkeln kam wieder, blieb aber in respektvoller Entfernung von dem Gebäude.

Wasted and wounded, it ain't what the moon did
I've got what I paid for now

Er stand in der Tür wie der Gebieter über all die dienstbaren Geister, die sich draußen tummelten. „Ich lebe noch“, dachte er, „sündige noch. Ich brauche keine Rache zu fürchten, bin selbst Rächer, und ich bin schnell, schnell wie die Pfeile der Pest.“
Seine Nerven waren bis aufs äußerste gespannt. Er befand sich in einem Zustand höchster Erregung und blieb trotzdem ganz ruhig. Die Schatten ängstigten ihn nicht. Er sah sich gelassen um und beobachtete sie. Immer toller trieben sie jetzt ihr Spiel. Der ganze Hof war in Aufruhr. Dann gaben die Gestalten auch Laute von sich. Es grunzte, quietschte und säuselte mit dem Wind. Er lachte über die ganze Aufregung. Sie ließ ihn kalt.
Er stieg über den Abfallberg im Eingang und ging hinaus. Beim Betreten des Gebäudes war er hier noch gestolpert und hatte so sein Kommen angekündigt. Diesmal bewegte er sich vollkommen kontrolliert.
Sicheren Schrittes überquerte er den Hof, kümmerte sich nicht um die Geister, die ihn umtobten. Sie konnten ihm nichts anhaben. Immer wieder versuchten sie, sich ihm zu nähern, wichen aber vor seiner Entschlossenheit zurück. Er war wie durch einen unsichtbaren Schild geschützt.
Dann trat er aus dem Kloster heraus, verließ den Bannkreis des Bösen. Draußen wartete eine ruhige, friedliche Nacht. Er ging zu seinem Auto.

Während der Fahrt entspannten sich seine Nerven wieder. Die Gedanken hörten auf, um Dinge aus der Geisterwelt zu kreisen, kehrten zurück in die profane Wirklichkeit.

... the streets aren't for dreaming now
manslaughter dragnets and the ghosts that sell memories
they want a piece of the action anyhow

Er sah die Straße vor sich und war bemüht, nicht schneller zu fahren als ratsam. Verkehr, den er hätte beachten müssen, gab es zu dieser Zeit keinen. Jedenfalls nicht hier. Deshalb blieb seine ungeteilte Aufmerksamkeit auch nur kurz bei der Straße. Sie wanderte wieder zum Beifahrersitz, wo noch immer seine Perücke lag. Er dachte zurück an den Auftritt als Herr Wagner. Seine Verkleidung war eigentlich überflüssig gewesen. Alle Bankangestellten waren so diskret, daß sie ihm noch nicht einmal direkt in die Augen gesehen hatten. Die würden ihn niemals wiedererkennen.
Erstaunlich, wie leicht das gewesen war. Aber er hatte es ja schon immer gewußt: Wenn man nur bestimmt genug handelt, läßt sich alles bewältigen. Die meisten Menschen waren einfach nicht wirklich entschlossen in ihren eigenen Handlungen. Hielten darum stets Ausschau nach anderen Menschen und deren Entscheidungen, um sich dann daran zu orientieren. Wer anders als sie auftrat, hatte deshalb leichtes Spiel.
Viel zu tun blieb jetzt nicht mehr. Bald würde seine Mission erfüllt sein. Nicht zum ersten Mal wurde er von Stolz und Genugtuung erfüllt. Anfangs war er nicht sicher gewesen, ob er die Aufgabe bewältigen könnte. Aber jede mutige Tat hatte sein Selbstbewußtsein vergrößert, bis er schließlich zu uneingeschränkter Souveränität über das Geschehen gewachsen war.
Unbeabsichtigt war er wieder schneller geworden und mußte jetzt hörbar abbremsen, als er in die Stadt hineinfuhr. Er konzentrierte sich wieder. Nicht nötig, jetzt noch aufzufallen. Aber hier gab es niemanden, dem er auffallen konnte. Hornburg erschien tot wie fast immer. Doch anders als am Tag, wo zumindest noch die Vorstellung von Leben bestand, war diese Illusion jetzt vollends zusammengebrochen. Selbst die Häuser machten nicht mehr den Eindruck, als ob sie lebende Menschen beherbergten. Und vielleicht war es ja so, daß in ihnen auch Geister wohnten, wie im Kloster. Erbärmliche Kreaturen, die sich vor ihm verkriechen mußten.
Er fuhr verkehrt herum durch eine Einbahnstraße. Es wäre auch möglich gewesen, anders zu fahren, aber er wählte absichtlich diesen Weg. Stellte sich mit der Entscheidung bewußt über die anderen Menschen, für die das Leben genau so verlief: wie in einer Einbahnstraße. Die Richtung ihrer Bewegungen war im voraus festgelegt, und zwar von anderen, die sie meist nicht einmal kannten. Ja, noch schlimmer: Sie merkten das auch gar nicht. Unterlagen der Selbsttäuschung, eigenständig zu bestimmen, wo in Wirklichkeit alle Entscheidungen schon längst vorher gefallen waren. Wie jämmerlich war doch ihr Dasein!

... goodnight to the street sweepers
the night watchman, flame keepers
and goodnight to Mathilda too


* * *



Samstag morgen wachte ich schon um sechs Uhr auf. Ich hatte sofort das unangenehme Gefühl, ich müßte ganz dringend etwas Bestimmtes erledigen oder einen Termin wahrnehmen. Ruckartig schreckte ich im Bett hoch. Mir war, als ob ich schon spät dran wäre und mich beeilen müßte.
Doch dann wurde mir bewußt, daß ich mich getäuscht hatte. Ich brauchte heute überhaupt nichts zu erledigen, rein gar nichts. Erleichtert ließ ich mich zurück auf die Matratze sinken, aber das unangenehme Gefühl blieb da und ließ mich nicht wieder einschlafen. Nachdem ich es trotzdem eine Weile versucht hatte, gab ich auf, setzte mich hin und drehte meine erste Zigarette.
Ich überlegte. War da vielleicht doch etwas, das zu tun blieb? Nein. Gestern! Da hätte ich schneller sein müssen! Wenn ich mich nur gleich, nachdem wir den Schlüssel gefunden hatten, darum gekümmert hätte. Dann wäre es noch nicht zu spät gewesen. Aber ich hatte es versäumt, sofort Theo und seinen Chef zu informieren. Und zu allem Überfluß auch noch den Schlüssel wieder verloren.
Derjenige, der ihn gefunden haben mußte, war nicht so zögerlich gewesen. Er hatte gewußt, was zu tun war und es schnell erledigt. Denn, als ich schließlich doch mit der Polizei geredet hatte, und Kommissar Widemann mit einer richterlichen Erlaubnis beim Bankhaus Seeliger ankam, fand er zwar das Schließfach von Horst Wagner, aber es war leer.
Die Befragung der Bankangestellten ergab, daß am gleichen Tag „Herr Wagner“ selbst da gewesen wäre, um in sein Schließfach zu sehen.
Nachdem der Bankdirektor von Widemann erfuhr, daß Wagner schon einige Zeit tot war, es sich hier also um einen Betrüger gehandelt hatte, war er sehr bemüht, die Sache aufzuklären. Er wies darauf hin, „Herr Wagner“ habe sich ausgewiesen und sei sowohl im Besitz des Schlüssels als auch des Kennworts gewesen. Da hätten seine Angestellten keinen Fehler gemacht.
Widemann versuchte, von den Leuten eine brauchbare Beschreibung des Mannes zu bekommen. Aber ihr Erinnerungsvermögen war nicht das beste. Entweder sie hatten aus beruflicher Diskretion eher weg- als hingesehen, oder ihre plötzliche Bedeutung als wichtige Zeugen brachte sie durcheinander. Das Phantombild, das dann nach ihren Angaben erstellt wurde, veranlaßte jedenfalls Theo Schneider zu dem sarkastischen Kommentar: „Auf nach LA! Laßt uns Jack Nicholson verhaften!“
Aaron hatte das sehr lustig gefunden, aber mir war da schon alles Lachen vergangen gewesen. Ich ärgerte mich auch jetzt noch darüber, daß mein Freund das Vorgefallene so leicht nahm. Danach hatte er sich irgendwie verdrückt, und ich mußte alleine nach Hornburg zurück fahren.
Unwillkürlich war ich während dieser Gedanken aufgestanden und hatte zu Aarons Wohnung gesehen. Aaron war doch tatsächlich auch schon wach. Er schloß gerade sein Fenster. Ich winkte hinüber, aber er sah mich nicht. Hatte er nicht sogar seine Jacke angehabt? Wollte er rausgehen?
Rasch zog ich mich an und lief nach unten. Doch ich kam zu spät. Aaron war schon weg. Was mochte er so früh am Morgen vorhaben? Wo wollte er hin? Und was sollte ich jetzt machen?
Orientierungslos sah ich die Straße entlang. Dann ging ich, ohne mich bewußt dafür zu entscheiden, zu meinem Auto und stieg ein. Ich hatte kein bestimmtes Ziel und fuhr einfach los. Aus dem Autoradio knurrte Tom Waits eine bekannte Melodie:

and you can ask any sailor, and the keys from the jailor
and the old men in wheelchairs know
that Mathilda's the defendant, she killed about a hundred
and she follows wherever you may go
waltzing Mathilda ...

Nach einer Weile hielt ich an, um ein wenig spazieren zu gehen. Die Fahrt hatte mich irgendwie in die Nähe von Dorstadt geführt. Ich achtete nicht weiter darauf, wohin ich ging. Immer noch mit den trüben Gedanken beim gestrigen Tag.
Mein großer Gegenspieler hatte gesiegt und war am Ziel. Er mußte jetzt den Faust besitzen. Es war zum Verzweifeln! Wenn Kleist dieser Mann war, dann gab es vielleicht noch eine Chance. Irgendwann müßte der ja zurück kommen. Aber ob man ihm das alles nachweisen konnte? Und ob der Faust je wieder auftauchen würde? Wer weiß, was er damit vorhatte.
Na, jedenfalls würden die Morde jetzt aufhören. Es gab keinen Grund mehr dafür. Und es gab auch keinen Grund mehr für mich, noch hierzubleiben. Ich konnte eigentlich aufgeben und nach Hause fahren. Ursprünglich war ich ja wegen Aaron gekommen, aber der brauchte mich nicht. Er war ganz zufrieden mit seiner Lisa.

Ich merkte, wie sich meine schlechte Laune langsam auf Aaron zu konzentrieren begann. Mir war schon klar, daß ich eigentlich über mich selbst verärgert war. Schließlich hatte ich den Schlüssel wieder verloren. Aber es war so viel leichter, auf meinen Freund böse zu sein. Halblaut Verwünschungen vor mich hin murmelnd, ging ich weiter.
Als ich um eine Straßenecke bog, sah ich plötzlich wie auf Bestellung in einiger Entfernung tatsächlich den Gegenstand meines Ärgers. Aaron höchstpersönlich.
Allerdings war er nicht mit seiner geliebten Lisa unterwegs, sondern mit Theo Schneider, wenn ich das richtig sehen konnte. Die beiden hatten mich auch entdeckt und winkten mir. Aaron wußte natürlich nicht, wie ich noch gerade über ihn geschimpft hatte, und er freute sich anscheinend, mich zu sehen. Theo wirkte hingegen nicht ganz so begeistert. Ich ging auf sie zu, neugierig, was sie hier wohl tun mochten. Es war ja schon erstaunlich genug, daß sie sich überhaupt so früh an einem Samstagmorgen getroffen hatten. Schon von weitem rief Aaron mir freudig entgegen:

„Sapperlot! Wie hast du das nur wieder geschafft?“

„Was soll ich geschafft haben?“

„Na, uns hier zu finden. Es weiß doch überhaupt niemand, daß wir hierher wollten.“

Ich bemerkte kühl, daß mir nichts ferner gelegen hätte, als sie zu suchen. Aaron schien meinen reservierten Ton nicht zu bemerken und erwiderte:

„Ganz im Gegensatz zu uns! Wir haben versucht, dich aufzutreiben. Aber du warst nicht zuhause.“

Es stellte sich heraus, daß Theo in Hornburg seine Eltern besucht hatte. Ich erinnerte mich dunkel daran, daß er dort geboren war. Aaron hatte mir einmal erzählt, wie er dann bald aus dieser Umgebung geflohen war. „Weit ist er aber nicht gekommen“, war damals mein Kommentar gewesen.
Jedenfalls hatte er heute morgen Aaron angerufen und sich mit ihm verabredet. Dann waren sie zusammen nach Dorstadt gefahren. Sie wollten in das alte, verlassene Kloster. Das verblüffte mich nun noch mehr.

„Was um Himmels willen treibt euch denn da hin?“

Jetzt redete Theo zum ersten Mal:

„Der junge Kleist war ja gestern den ganzen Tag nicht zu erreichen. Und da dachte ich, ich könnte es heute mal ganz früh versuchen. Gastwirte sind doch nicht gerade als Frühaufsteher bekannt. Und ich hatte recht. Er war zuhause.“

„Und?“

„Nun ja, er wußte auch nicht, wo sein Vater ist. Aber ich hab nicht so schnell locker gelassen. Und dann fiel ihm plötzlich etwas wieder ein. Der alte Kleist hat nämlich in den letzten Wochen über ein neues Immobilienprojekt verhandelt.“

Allmählich verlor ich das Interesse an dieser langatmigen Erzählung und blickte genervt in der Gegend herum. Aber dann kam Theo doch noch auf den Punkt:

„Dieses Projekt dreht sich um das ehemalige Kloster in Dorstadt. Soll wohl so eine Art Einkaufszentrum werden. Vielleicht ist ihm das ja eingefallen, als er nach einem Versteck gesucht hat.“

Theo wollte noch weiterreden, doch Aaron fiel ihm ins Wort:

„Eine Schnapsidee, mein ich. Kann man sich bei dem alten Polterkopf kaum vorstellen, daß er sich wie ein gehetztes Tier in Ruinen verkriecht. Der ist bestimmt in Braunschweig. Da kann er doch viel leichter untertauchen als hier auf dem Land.“

„Deshalb hab ich ja auch nicht gleich die Trachtengruppe angefordert. Hat sowieso kaum einer Dienst am Wochenende. Aber schaden könnte es kaum, mal einen Blick auf das Gebäude zu werfen. Inoffiziell sozusagen. Da dürft ihr auch ruhig mitkommen.“

Ich war mir nicht sicher, ob ich das überhaupt wollte. Doch schließlich hatte ich nichts Besseres vor. Also stimmte ich zu, und wir gingen gemeinsam zum Kloster.
Unser Eintreffen dort wurde angekündigt vom Gekrächz eines Raben. Er saß oben auf dem Haufen Gerümpel, mit dem ein alter Brunnen in der Mitte des Hofs gefüllt war. Die Spitze dieses Gerümpels wirkte aus der Entfernung wie ein christliches Kreuz. Das paßte zwar einerseits ziemlich gut zu der Umgebung. Andererseits kam mir diese Kombination aber beinahe vor wie der sinnbildliche Ausdruck für den Niedergang christlicher Werte. Der Schutthaufen war auch nicht der einzige Beleg für diesen Verfall. Überall lag Müll herum, und die Gebäude waren, wie wir im Näherkommen sahen, großenteils nur noch Ruinen.
Insgesamt bot die ganze Anlage einen traurigen, und dennoch irgendwie würdigen Anblick. Eine seltsame Stimmung von Vergänglichkeit erfaßte mich.
Aber ich war der einzige, der das fühlte. Theo Schneider blickte aufmerksam umher und suchte wohl nach neueren Spuren einer menschlichen Anwesenheit. Aaron fand das Ganze eher lustig. Er sagte:

„Das Klosterleben ist ja auch nicht mehr, was es mal war. Ein bißchen Ordnung hätten die Brüder im Geiste doch schon halten können.“

Ich schickte ihm einen tadelnden Blick, den er offensichtlich übersah. Auch bei Theo stieß er auf keine Resonanz. Der war zu dem Brunnen gegangen, um seinen Inhalt genauer anzusehen. Der Rabe beäugte ihn dabei mißtrauisch. Als Theo ihm zu nahe kam, erhob er sich unter lautem Krächzen und nahm einen neuen Beobachterposten auf einem Gebäude zu unserer Rechten ein. Aaron sah ihm nach und sagte:

„Scheint der einzige verbliebene Bewohner hier zu sein. Vielleicht der Geist eines Klosterbruders. Was meinst du?“

„Ich finde es ziemlich erstaunlich. Obwohl hier ja alles heruntergekommen und schäbig ist, geht davon eine unwahrscheinliche Ruhe aus. War sicher recht angenehm, hier zu leben.“

„Glaubst du? Möchtest du in so einer Abgeschiedenheit hausen? Ganz ohne Frauen?“

„Ein Leben ohne Frauen kann vielleicht auch mal ganz erholsam sein. Kein Beziehungsstreß.“

Theo war zurückgekommen: „Unter Männern kann es schon auch Beziehungsstreß geben. Glaubt mir!“

Da hatte er sicher recht. Jedenfalls wußte er, wovon er sprach. Aaron wollte das Thema nun aber nicht weiter vertiefen und ging voraus zu dem Gebäude, auf dessen Dach sich der Rabe niedergelassen hatte. Wir folgten ihm.
Es war wohl einmal eine Art Wirtschaftsgebäude gewesen oder ein Lager für die klösterlichen Vorräte. Jetzt war es ein Ablageplatz für Sperrmüll geworden. Ein demolierter Kinder-wagen lag da, Stoßstange und Kotflügel eines uralten Automodells, ganze Schränke und andere Möbel. Vielleicht hatte hier gelegentlich jemand gehaust, oder Kinder hatten sich ihr Versteck wohnlich eingerichtet.
Theo untersuchte alles, zumindest oberflächlich. Sah hinter die Schränke und schob Teile beiseite, um auch in die Ecken sehen zu können.
Plötzlich zeigte uns ein Aufschrei, daß er etwas entdeckt hatte. Hinter einem Stapel von Brettern zog er ein Fahrrad hervor. Es war noch nicht so alt wie alles andere hier und hatte sogar einen Hilfsmotor. Ein Fahrzeug für jemanden, dem das Fahrradfahren zu anstrengend war und ein Motorrad vielleicht zu schnell oder gefährlich: Kleist?
Theo glaubte das wohl, denn er lehnte das Fahrzeug behutsam an die Wand. Er ermahnte uns, auch still zu sein, zog seine Dienstwaffe und verließ den Schuppen.
Beeindruckt von seinem plötzlich sehr professionellen Auftreten, blieben wir dort stehen und beobachteten, wie er sich dem Hauptgebäude näherte. Dann folgten wir ihm in angemessener Entfernung.
Er wirkte auf mich jetzt gar nicht mehr wie sonst. Sein Don-Johnson-Gehabe war von ihm abgefallen, und er bewegte sich umsichtig, nüchtern und kompetent. Ich hatte ihn bisher ja eher als Karikatur eines Kriminalbeamten gesehen. Nun wurde deutlich, daß er wirklich einer war. Vorsichtig, nach allen Seiten sichernd, ging er in das Gebäude. Fünf Minuten später trauten wir uns allmählich hinterher. Im Innern lagen Berge von Abfall, über die man steigen mußte. Theo war schon auf der Treppe nach oben. Als wir sie betraten, hatte er das Obergeschoß erreicht und inspizierte die einzelnen Räume. Wir warteten an der Treppe. Schließlich blieb er vor einer Tür stehen und steckte seine Dienstwaffe wieder ein. Er gab uns ein Zeichen wegzubleiben, aber wir waren neugierig und kamen trotzdem näher. Da sahen wir, daß Theos Vermutung tatsächlich richtig gewesen war. Er hatte jedoch nicht den gefährlichen Mörder Kleist gefunden, sondern ein weiteres Opfer. Gustav Kleist war tot.
Er lag zusammengekrümmt in einer Ecke des Zimmers. Seine rechte Hand ruhte auf dem Herzen, der linke Arm ausgestreckt am Boden. In ihm steckte eine leere Spritze. Sein Kopf war auf den Brustkorb gesunken und befand sich im Schatten, so daß wir die Augen nicht sehen konnten. Trotzdem wußten wir beide, daß der alte Mann nicht mehr lebte. Theo sagte:

„Ihr bleibt draußen! Und faßt ja nichts an! Das ist ein Tatort!“

Er zog sich Handschuhe über, betrat den Raum und untersuchte den Körper. Dann kam er wieder heraus, nahm sein Handy aus der Tasche und rief Widemann an. Aaron und ich waren etwas zurückgetreten, um den Toten nicht mehr sehen zu müssen. Keiner von uns sprach ein Wort, während Theo mit seinem Chef redete. Wir waren beide schockiert. Aaron blickte stur auf den Boden, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Ich fand als erster die Sprache wieder.

„Theo, hast du ein Buch bei ihm gefunden?“

„Ein Buch?“

„Ja, oder Papiere. Irgendwelche Papiere?“

Er verneinte und sah mich an, als ob er sagen wollte: „Wir haben jetzt andere Sorgen.“
Aber ich redete auf ihn ein und drängte ihn nachzusehen. Er wollte erst nicht, um nichts am Tatort zu verändern, bevor die Spurensicherung da wäre. Doch weil er merkte, daß ich sonst keine Ruhe geben würde, ging er noch einmal hinein. Wenig später war er wieder da und sagte:

„Kein Buch, auch keine Papiere. Nur ein einzelner Zettel.“

Er hielt ihn hoch. Ich erkannte die Form sofort wieder. Wir hatten schon ein paar dieser Art gesehen: eine neue Botschaft.
Theo las vor:

Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;

„Und? Weiter?“, fragte ich.

„Nichts weiter“, sagte Theo, „das ist alles.“

„Aber da fehlt doch noch ein Vers.“

„Tut mir leid. Mehr steht hier nicht.“

Aaron sagte: „'Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis'. Was soll denn das bedeuten? Ich glaube, er macht sich über uns lustig.“

Theo meinte: „Das 'Unbeschreibliche' könnte ja wohl der Mord sein. Nur, daß der 'getan' ist, wußten wir schon vorher.“

„Genau! Liefert überhaupt keinen Hinweis. Oder was meinst du?“

Ich konnte damit auch nichts anfangen. Aber ich glaubte bestimmt, die Zeilen schon einmal gelesen zu haben. Klang wieder wie Goethe. Und ein Vers fehlte. Da war ich sicher. Aaron machte einen Vorschlag:

„Das Unausweichliche
Bleibt nur ein Wahn.“

Seltsamerweise half mir das auf die Sprünge:

Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan. Das ist der fehlende Vers.“

„Ja, klingt gut.“

„Das klingt nicht nur gut, das ist richtig so. Stammt aus Goethes Faust. Und da haben wir auch den Hinweis. Auf eine Frau.“

„Lisa! Du glaubst, Lisa soll das nächste Opfer werden?“

„Lisa hatte doch nichts mit Kleist zu tun. Aber Diana!“

„Ja und?“

„Na, überleg doch mal: Wagner hatte kurz vor seinem Tod mit Malchen geredet. Prompt wird sie das nächste Opfer. Malchen war zuletzt ja wohl mit Kleist zusammen. Danach wird der ermordet. Und wer hat kurz vorher noch mit ihm gesprochen? - Diana!“

„Auf jeden Fall sollten wir die Frauen nicht mehr alleine lassen.“

Theo stimmte ihm zu: „Das glaube ich auch, fahrt da mal hin! Ich muß hier noch auf meine Kollegen warten. Ich komm dann später nach.“

Wir gingen los. Auf dem Stück, das wir gemeinsam hatten, sagte ich:

„Was meinst du, warum Kleist sterben mußte?“

„Er hat doch Malchen nach Braunschweig gelockt. Vielleicht war er der Komplize des Mörders, oder er kannte ihn zumindest. Ein gefährlicher Zeuge also.“

„Oder der Mörder wollte den Faust von Kleist, den der aus dem Schließfach geholt hat.“

„Ist ja auch egal. Erst mal schnell zum Weghaus!“

Wir trennten uns. Ich mußte noch einen längeren Weg zu meinem Auto gehen. Nicht einmal eine Stunde war es her, daß ich dachte, das Morden wäre beendet, und jetzt gab es schon wieder ein neues Opfer. Und ein weiteres wurde angekündigt, wenn wir den Hinweis richtig verstanden hatten. Aber warum? Warum sollte der Mörder weitermachen, wenn er doch jetzt den Faust besaß?
Die einzige Antwort darauf war, daß das nicht stimmen konnte. Er hatte den Faust noch gar nicht. Kleist mußte ihn wieder versteckt haben. Vielleicht sogar bei Diana, die dann natürlich in unmittelbarer Gefahr schwebte.
Endlich war ich bei meinem Auto angekommen. Aaron mußte inzwischen schon den halben Weg zurückgelegt haben. Ich beeilte mich, hinterherzufahren. Unterwegs dachte ich weiter nach:
Jedenfalls war Kleist ja wohl nicht der Mörder. Und wenn nicht noch der große Unbekannte seine Hand im Spiel hatte, blieben eigentlich nur die beiden Frauen übrig. Diana sahen wir als mögliches nächstes Opfer. Also Lisa!
Der Gedanke verblüffte mich. In meine Verwirrung hinein knurrte auch noch Tom Waits:

well I've lost my equilibrium
my car keys and my pride
tattoo parlor's warm
and so I huddle there inside
the grinding of the buzz saw
whatchuwanthathingtosay
just don't misspell her name
buddy she's the one that got away

Ich bemühte mich, noch einmal in Ruhe zu überlegen. Lisa wußte genauso lange wie ich vom Faust, vielleicht sogar noch länger. Schließlich war sie eine Eschenburg. Diana hingegen konnte sich gar nicht vorstellen, was das Buch für eine Bedeutung hatte. Und Diana war auch nicht so mobil wie Lisa. Die hätte sowohl hier ins Kloster fahren können als auch nach Braunschweig. Sie kannte sich da aus, Diana nicht.
Es paßte alles. Lisa hätte die Gelegenheit gehabt und ein Motiv, zumindest für den Mord an Malchen. Wenn jetzt nämlich auch noch Diana sterben würde, wäre sie die Alleinerbin.
Und sie würde ja nicht nur das Burckhardt-Vermögen erben, sondern schließlich auch den Faust! Als legitime Besitzerin könnte sie dann sogar das Buch wieder auftauchen lassen. Es machte alles einen Sinn. Aber war das vorstellbar?
Lisa sollte all diese Morde begangen haben?


* * *



... all them business deals
But the last of the big-time losers
shouted before he drove away
I'll be right back as soon as I crack
the one that got away

Er nahm die engbeschriebenen Blätter zur Hand und las darin. Die Welt um ihn herum verstummte und verschwand hinter dem Phantasiegebäude, das nun aus Sprache entstand. Eine vollständig eigene Wirklichkeit entwickelte sich aus den Worten. Dazu war nichts Übernatürliches nötig. Alles entsprang einem rein menschlichen Bewußtsein.
Er war beeindruckt von der Kraft, die von den Worten des Textes ausging. Aber das war keine Poesie, die ihn anrührte, sondern der Charakter, der aus ihnen sprach. Diese Worte berauschten sich nicht an ihrer eigenen Schönheit, dazu waren sie nicht kunstvoll genug. Sie wollten etwas bewirken, bewegen. Ja, dieser Faust hatte Stärke, hatte die Kraft, aufzurütteln und bestehende Ordnungen in Frage zu stellen.
Er hörte schon die Kritik der blasierten Literaturwissenschaftler, die „Tendenz, Tendenz!“ schreien und die fehlende Autonomie des Sprachkunstwerks beklagen würden.
Lächerlich! Die Autonomie des Textes lag ja gerade in seiner Tendenz. Es war keine sprachliche Größe, die sein Schöpfer angestrebt hatte, sondern eine sittliche. In dem Wissen darum konnte er mit dem gesunden Selbstbewußtsein des Mannes, der seine moralische Begründung in sich selber findet, ganz ruhig auf diese Anwürfe sagen:

„So werde ich schweigen, aber mich nicht schämen.“

Und das brauchte er bestimmt nicht.
Wie jämmerlich wirkte dagegen der Faust des „Genies“ Goethe: ... und weiß, daß wir nichts wissen können.

„Doch“, würde ihm Lessing antworten, „wir können, und wir müssen: alles wissen, alles erforschen“.

Goethes Faust war erbärmlich geradezu. Er war angewiesen auf die Hilfe guter oder böser Geister, um auch nur einen Augenblick des Glücks oder der Erkenntnis zu erhaschen.
Lessings Faust brauchte keinen Teufel – und auch keinen Gott.
Voller Begeisterung las er weiter. Der Text war ganz nach seinem Geschmack. Er bestärkte ihn in allem, was er immer schon gewußt hatte. Aber genaugenommen brauchte er ihn dazu nicht eigentlich. Er war nämlich inzwischen noch einen Schritt weiter gekommen. Er benötigte niemanden mehr, der ihm sagte, was gut oder böse ist. Erst recht war er nicht angewiesen auf Regeln, die von anderen gesetzt wurden. All das, was Kleinbürger Moral nannten und Gesetze. Bürgerliche Vorschriften konnten niemals rechtfertigen, was er gewagt hatte zu tun.
Mitten in diese Begeisterung für sein eigenes Handeln hinein traf ihn ganz unvermittelt der Zweifel. Er kam aus einem Teil seines Wesens, den er schon überwunden geglaubt hatte. Erschrocken hörte er auf zu lesen.

„Es gibt höhere Gesetze als die der Menschen“, sagte die Stimme des Zweifels.

„Komm mir nicht mit dem kindischen Hokuspokus“. Er hatte den Satz laut ausgesprochen.
„'Göttliche Gebote' sind doch auch nur von Menschen gemacht. Ausgedacht, um andere Menschen niederzuhalten.“

„Seine Existenz hängt nicht ab von deiner Zustimmung.“

„Ach ja? Er existiert? Nun denn, wo bleibt seine Rache für meine Lästerung, für meinen Frevel an seinem Gebot? Wo bleibt sie?“

„Daß er dich noch sündigen läßt, ist schon Rache!“




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