Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König


Kapitel 10





Kapitel 10: Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz



Glaubst du an den lieben Gott?
Oder an Guevara?
Ich glaube an die Deutsche Bank
Denn die zahlt aus in bar - aah

Liebling, laß uns tanzen, hast du noch nen Pfefferminz?
So, und nun gib mir nen Kuß, mit Pfefferminz bin ich dein Prinz

Marius bemühte sich redlich, einen trübsinnigen Inspektor aus dessen dunklen Gedanken zu reißen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Theo hörte gar nicht zu, und er hatte auch keinen Blick für die Landschaft, durch die er sich bewegte.
Theo Schneider grübelte.
Sein Wagen folgte der ewig gleichen Bundesstraße fast von alleine, und so konnte er seine ganze Aufmerksamkeit auf das Problem konzentrieren, das ihn seit Samstag abend immer wieder beschäftigte. Es hatte nichts mit dem Mord zu tun, den er aufklären sollte, sondern drehte sich um Aaron T. Schmitt. Der war plötzlich vollkommen verändert. Irgend etwas mußte am Samstag passiert sein. Aber was nur?
Gerade hatte er geglaubt, ihre Beziehung würde sich langsam entwickeln. Durch den Einbruch und seine Nachforschungen waren sie sich näher gekommen. Der alte Freund, der plötzlich auftauchte, war ihm zwar erst als Bedrohung erschienen, aber dann hatte er sehr schnell gemerkt, daß der bestimmt keine Konkurrenz sein würde. Die Dinge machten sich also weiter gut.
Theo zögerte auch nicht, die beiden in Teile der Ermittlungen einzuweihen. Sollten sie doch ruhig ein wenig herumdilettieren. Solange nur Kommissar Widemann nichts davon erfuhr. Diese Spinnerei mit dem angeblichen Faust-Fragment und irgendwelchen angestaubten Alchimisten paßte da ganz gut. Das interessierte seinen Vorgesetzten sowieso nicht. Und wenn er das ein bißchen ernster nahm, konnte so eine neue Vertrautheit zu Aaron entstehen. Schließlich hätten sie dann ein gemeinsames Geheimnis!
Alles schien wunderbar zu laufen. Und jetzt das!
Aaron benahm sich auf einmal total abweisend. Theo hatte ihn gestern zum Mittagessen einladen wollen, war aber nur auf kühle Ablehnung gestoßen.
Na ja, es wäre ja sowieso nichts draus geworden. Gerade am Mittag war nämlich ein Einsatzbefehl gekommen. Wenn er schon vorher gewußt hätte, was ihn da erwarten sollte, wäre er sicher zuhause geblieben und hätte sich nicht in seiner Sonntagsruhe stören lassen. Frau Burckhardt hatte den Notruf alarmiert und etwas Unzusammenhängendes von Mord und Mördern gestammelt. Ein Wagen war sofort ausgerückt, und als Theo Schneider am Haus eingetroffen war, bemühte sich die Besatzung des Streifenwagens gerade darum, zu zweit einen alten Gerümpelschuppen zu umstellen. Hier sollte sich eine verdächtige Person aufhalten.
Theo griff vorsichtshalber an sein Schulterhalfter und rief:

"Hier spricht die Polizei! Das Gebäude ist umstellt! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!"

"Was zum Henker...", tönte es aus dem Schuppen, und im Eingang erschien ein alter Mann, der eine Stoffkatze in der rechten Hand hielt. Als er sah, daß zwei Pistolen auf ihn gerichtet waren, erbleichte er, und seine Finger begannen zu zittern. Die Schutzpolizisten kannten solche Einsätze wohl nur aus dem Fernsehen, denn der eine rief jetzt "Lassen Sie augenblicklich die Katze fallen!", während der andere den Mann aufforderte, die Hände an die Wand zu legen und die Beine zu spreizen.
Theo erkannte jedoch sofort, daß hier kein blutrünstiger Mörder vor ihnen stand, und er winkte seinen Kollegen zu, die Waffen zu senken. Sofort bekam der Alte wieder Oberwasser und verlangte mit langsam fester werdender Stimme, den Einsatzleiter zu sprechen. Er fuchtelte dabei mit der Katze umher, die er immer noch fest umklammerte.
Der Inspektor trat zwei Schritte vor, und die Situation war eigentlich schon unter Kontrolle. Da passierten drei Dinge fast gleichzeitig:
  • Wie aus dem Nichts stürmte ein grauer Hund auf die Szene, rannte Theo fast über den Haufen und verbiß sich im Bein des Verdächtigen;
  • vom Haus her kamen drei Frauen gelaufen und riefen aufgeregt durcheinander;
  • einer der Beamten riß reflexartig seine Waffe hoch und schoß.
Der Schuß ließ die Frauen kurzfristig verstummen. Aber dann setzte ihr Geschrei nur umso lauter und näher wieder ein. Der Alte war durch den Angriff des Hundes ins Straucheln geraten und gestürzt. Er lag jetzt am Boden und jammerte "Ohgottogott". Im Fallen hatte er das Stofftier in hohem Bogen in die Luft geworfen, wo es von der Polizeikugel getroffen und weiter geschleudert worden war. Daraufhin hatte der Hund von ihm abgelassen, um der Katze hinterherzulaufen. Der Unglücksschütze saß inzwischen mit leicht grünlichem Gesicht auf der Erde und brabbelte ständig dieselben Worte vor sich hin:

"Das wollt ich nicht! Das - wollte ich - nicht!"

Dann waren auch noch die Frauen am Ort des Geschehens eingetroffen, und alle redeten gleichzeitig. Lisa Eschenburg versuchte, den Polizisten zu beruhigen, der immer noch seine Waffe in der Hand hielt. Amalia Jacobi plapperte auf Theo ein, und drängte ihn, "den Einbrecher" festzunehmen. Diana Burckhardt lief hin und her und stotterte unverständliche Wortfetzen, aus denen man lediglich die Namen "Gustav" und "Rollo" heraushören konnte. Sie wußte anscheinend nicht, ob sie sich zuerst um den Alten oder um den Hund kümmern sollte. Dann entschied sie sich für den Hund, der etwas abseits auf der Wiese stand und erbärmlich jaulte. Deshalb ging Theo zu dem alten Mann und half ihm wieder auf die Beine.
Schließlich beruhigten sich dann doch alle Gemüter allmählich wieder, und es gelang Inspektor Schneider, Ordnung in das Chaos zu bringen. Er schickte seine Kollegen zurück ins Auto und Frau Jacobi ins Haus. Dann befragte er den Alten und Frau Eschenburg.
Es stellte sich heraus, daß der Mann ein Nachbar der Burckhardts war. Er hatte sich beinahe rechtmäßig in dem Gebäude aufgehalten. Jedenfalls verzichtete Frau B., die unterdessen mit Hund und Katze auf dem Arm zurückgekommen war, auf eine Anzeige, so daß Theo auch wieder abziehen konnte.
Den Nachbarn, einen gewissen Herrn Kleist, hatte er allerdings noch vorher für heute auf die Inspektion bestellt, wo auch die Hausbewohner einzeln vernommen werden sollten.
Theo schauderte bei der Erinnerung. Man konnte noch froh sein, daß dieser Einsatz keine ernsthaft Verletzten gefordert hatte. Die Stoffkatze war zum Glück das einzige Opfer geblieben.
Er sah auf die Uhr. Es könnte gut sein, daß Kommissar Widemann gerade jetzt mit den Frauen redete. Theo Schneider war froh, nicht dabei zu sein. Von der Hektik und Hysterie der Burckhardt-Sippe hatte er fürs erste wahrlich genug abbekommen.
Er war deshalb gerne nach Braunschweig gefahren, um etwas mehr über Horst Wagner herauszufinden. Mit den Vermietern seiner Wohnung hatte er da gesprochen, mit Kollegen und mit seinem Chef. Neue Erkenntnisse brachte das jedoch nicht. Nur eins war interessant. Horst Wagner hatte erst vor kurzem sein festes Arbeitsverhältnis mit der Braunschweiger Zeitung gekündigt und war seither nur noch ein freier Mitarbeiter.
Theo überlegte, ob das irgendwie im Zusammenhang mit seinem Fall stehen könnte, als er die Bundesstraße verließ und in den Forstweg einbog. Hier wartete seine nächste Aufgabe auf ihn. Einer der uniformierten Kollegen hatte ihm den Tip gegeben, mal mit der Forstbehörde zu reden, weil Herr Kleist da "gut bekannt" wäre.

Wenig später saß er einem leicht angegrauten Vertreter dieser Behörde gegenüber. Das Namensschild an der Tür hatte ihn als Forstrat Mendelssohn ausgewiesen. Es war der Bezirksförster.
Von seinem leicht erhöhten Bürosessel aus blickte er freundlich auf seinen jungen Besucher herab. Sein Schreibtisch war aus kunstvoll verziertem Kirschholz und sollte wohl eher die Besucher beeindrucken, anstatt für nüchterne Schreibarbeiten zu taugen. Es sah auch nicht so aus, als ob Theo irgendwelche Büroarbeiten unterbrochen hätte. Auf dem Schreibtisch stand nämlich nur eine große, knallgelbe Kaffeetasse. Die sprang jedoch ins Auge, denn sie war einer von zwei deutlichen Farbflecken in dem Zimmer, das ansonsten einheitlich grau, grün und braun ausgestattet war.
Der andere Farbfleck war die Nase des Forstrats, die weithin rot leuchtete. Sie fiel besonders auf, weil ihr Besitzer vollständig in Loden, Filz und Wolle gekleidet war, die ebenfalls försterlich grün und braun gefärbt waren. Zusammen mit dem beachtlichen Bäuchlein, über dem er seine Hände friedvoll gefaltet hatte, machten sie ihn zu einer gemütlichen Erscheinung.
Die linke Wand des Zimmers war fast lückenlos gefüllt mit den verschiedensten Geweihen. Theo hatte noch nie so viele Jagdtrophäen auf einem Haufen gesehen und schaute beeindruckt von einer zur anderen. Das schien den Forstrat an etwas zu erinnern. Er holte aus einer Schublade eine Flasche hervor, die gleichfalls ein Geweih schmückte, und schüttete sich großzügig eine sämige braune Flüssigkeit in seine Kaffeetasse.
Hinter seinem Rücken sahen ihm dabei mehrere altehrwürdige Männer aus prunkvollen Gemälden gnädig zu. Theo erkannte den einen oder anderen Herzog wieder, die ja in Wolfenbüttel allgegenwärtig waren. Jetzt wühlte der Waidmann angestrengt in mehreren Fächern des Schreibtischs, bis er schließlich ein Likörglas zum Vorschein brachte, das er zunächst skeptisch betrachtete, dann aber auch mit dem braunen Getränk füllte. Er schob das Glas seinem Besucher entgegen und blinzelte ihm aus leicht wäßrigen Augen aufmunternd zu.
Das bekam der jedoch gar nicht mit, weil sein Blick weitergewandert war zur rechten Wand, an der mehrere Schränke standen. Auf einem dieser Schränke saß ein ausgestopfter Eichelhäher, der eine Weihnachtsmütze auf dem Kopf hatte.
Erst jetzt erinnerte sich Theo Schneider wieder an sein Gegenüber und sagte "Guten Morgen". Und obwohl der Gruß mehr an den weihnachtlichen Vogel als an den Forstrat gerichtet war, antwortete der letztere:

"Da sagen Sie was!"

"Wie bitte?"

"Na, ist das für Sie ein guter Morgen, an einem Montag?
Vielleicht, wenn Sie ein Schlückchen Likör getrunken haben."

Theo winkte ab, ohne seine Augen von dem Vogel zu nehmen.

"Ich sehe, Sie bewundern meinen Häher. Ein prachtvolles Tier, nicht wahr?"

"Ja, aber die Mütze ..."

"Je, nun, es war Weihnachten, da muß man doch ein bißchen dekorieren."

"Nächstes Wochenende ist Ostern!"

"Ja, irgendwie hat er sich an die Mütze gewöhnt. Wollte sie nicht wieder hergeben. Möchten Sie vielleicht noch mehr ausgestopfte Tiere sehen? Ich hab noch ganz viele in der Registratur. Wir könnten rasch mal hinüber gehen."

Wieder winkte Theo ab. Er riß sich von dem Vogel los und stellte sich vor.

"Hätt ich's doch nur gesagt!"

"Bitte?"

"Na 'Herein, wenn's kein Schneider ist'. Da hätten Sie aber geguckt, was?"

"Ja, eh..."

"Passiert Ihnen das eigentlich öfter?"

"Eher nicht."

"Na, mir auch nicht. Aber mein Name ist ja auch ganz anders. Schon irgendwie seltsam, wie Menschen durch ihre Namen geprägt werden. Ich kannte mal jemanden, der hieß -"

"Herr Mendelssohn!"

"Nein, nein, der hieß ..."

"Herr Mendelssohn!!"

"Niesnutz, so hieß der, Niesnutz, und ich dachte immer -"

"Herr Mendelssohn, ich habe gehört, Sie könnten mir etwas über Gustav von Kleist erzählen."

"So? Haben Sie gehört? Ja, das könnte ich wohl. - Aber ob ich auch will?
Ist nämlich kein Vergnügen, das sag ich Ihnen gleich!"

"Wie?"

"Kein Vergnügen, über den alten Hallodri zu reden.
Wollen wir nicht lieber ein wenig über Sprache plaudern? Zum Beispiel darüber, wie die Namen der Dinge unsere Wahrnehmung beeinflussen?"

"Nein!"

"Hallodri", fuhr er unbeirrt fort und fügte nachdenklich "Holldrio" hinzu.

"Herr Forstrat!"

"Hallali - Halleluja", assoziierte der munter weiter.

"Ich möchte jetzt wirklich -"

"Ein Gläschen Likör?"

"Nein, ich möchte -"

"Oder nehmen Sie nur mal das Wort 'Leberwurst'!"

"Was?"

"Finden Sie den Namen nicht auch etwas sonderbar, so ganz anders als die Sache, für die er steht?"

"Nein, ganz gewiß nicht!"

"Euch jungen Burschen mangelt es ja auch an Vorstellungskraft. Ich war da früher ganz anders, 1950 zum Beispiel, da war ich Förster in ..."

"Herr Mendelssohn! Ich bin Polizeibeamter!"

"Nein!"

"Doch! Und ich möchte mit Ihnen über Herrn Kleist reden."

"So, nun ja.
Eher ein langweiliges Thema. Immer dasselbe, wissen Sie? Immer dasselbe.
Schon mein Großvater damals, nicht wahr? Der hat immer gesagt, die ganze Familie Kleist könnte man eigentlich ..."

"Sie kennen Herrn Kleist also gut?"

"Kennen ja, aber gut? - Das nun wohl nicht!
Ich hab öfter mit ihm zu tun. Sehr zu meinem Leidwesen, das können Sie mir glauben."

Schließlich gelang es Theo doch noch, den redseligen Waidmann für das Thema "Kleist" zu erwärmen. Und nach einer weiteren Viertelstunde hatte er trotz der ausufernden Abschweifungen, zu denen Herr Mendelssohn immer wieder ansetzte, ein ziemlich genaues Bild von der Beziehung der beiden. Kleist schien demnach ein notorischer Querulant und Nörgler zu sein, der sich auf seinem Besitz und in der umliegenden Gegend gerne als Förster aufspielte. Deshalb führte er einen schon lange andauernden Kleinkrieg mit der zuständigen Behörde, in dem es um Wegerechte, Aufforstungen, Abholzaktionen und ähnliches ging.
Auch mit anderen Ämtern legte er sich gerne an, und er war dafür anscheinend in der gesamten Stadtverwaltung verrufen. In einige dieser Scharmützel war wohl auch Burckhardt verwickelt gewesen, aber der schien den Bezirksförster nun gar nicht zu interessieren. Er nannte ihn einen "langweiligen Griesgram", und mehrere Versuche Theos, etwas mehr über die gemeinsamen Aktivitäten von Burckhardt und Kleist herauszufinden, endeten immer damit, daß Mendelssohn sich in abenteuerliche Spekulationen über den Namen "Burckhardt" verlor. Als er dies auch noch über die Vornamen der beiden auszudehnen drohte, trat Theo den geordneten Rückzug an. Er erhob sich und versuchte möglichst höflich, sich vor dem übersprudelnden Redeschwall des Beamten in Sicherheit zu bringen.
Noch auf dem Flur plauderte der weiter auf ihn ein, und als Theo schon mit eiligen Schritten um die nächste Ecke gegangen war, tönte ihm noch ein herzhaftes "Prost!" hinterher.

Glücklich ins Auto entkommen, sah er auf die Uhr. Dieser bizarre Mensch hatte seinen ganzen Zeitplan durcheinander gebracht. Er mußte sich jetzt beeilen, um noch rechtzeitig bei dem Familienanwalt der Burckhardts zu sein. Theo war dort telefonisch angemeldet, und die Sekretärin hatte ihm ziemlich hochmütig erklärt, der Herr Doktor hätte nur fünf Minuten Zeit für ihn. Die durfte er jetzt nicht verpassen.
Er fuhr ganz in die Stadt hinein und parkte am Kornmarkt. Dann ging er das kurze Stück bis in die Kanzleistraße, wo Dr. Zacharias in einem sorgfältig restaurierten alten Haus residierte.
Noch ganz unter dem Eindruck des Mendelssohn-Erlebnisses war Theo darauf gefaßt, wieder gegen Wortgewalten ankämpfen zu müssen, aber es stellte sich heraus, daß Dr. Zacharias in dem Punkt das genaue Gegenteil des Forstrates darstellte. Er sagte ohne Aufforderung gar nichts, und auf konkrete Fragen bekam man kaum mehr als ein "Ja" oder "Nein" zu hören, meistens eher ein "Nein". Ohne höchstrichterliche Anordnung war dieser Rechtsvertreter wohl nicht einmal bereit, die Uhrzeit preiszugeben.
Eigentlich entlockte Theo ihm nur soviel, daß ein Testament existierte. Die offizielle Eröffnung könne "im normalen Geschäftsgang so seine Zeit" dauern, und so lange müsse er sich eben gedulden. Das hätte ihm auch schon die Sekretärin am Telefon sagen können! Verärgert verließ er die Kanzlei wieder und machte sich auf den Weg zurück zur Inspektion.
Er fuhr aber nicht direkt dorthin, denn nach dieser "Kurzvorstellung" von Dr. Z. war noch reichlich Zeit, bis Wagner und Nicolai da erscheinen mußten. Jetzt könnte er noch auf die Frauen treffen, und das wollte er heute gerne vermeiden, wenn er auch neugierig war, was der Kommissar wohl aus ihnen herausholen würde.
Theo Schneider lenkte seinen Wagen langsam durch die vertrauten Alltagsstraßen der Stadt. Dies war seine Stadt, auch wenn er sie nicht gerade heiß und innig liebte. Dafür gab es zu vieles, was ihm daran mißfiel. Aber er hatte sich an sie gewöhnt, so wie man sich an einen guten alten Freund gewöhnt, trotz dessen Macken. Und er fühlte sich verantwortlich für ihre Sicherheit. Er beobachtete die Menschen, die schon am Montagmorgen unterwegs waren, geschäftige Leute, die es eilig hatten und entschlossen, aber unaufgeregt ihren Weg verfolgten. Er drehte den CD-Spieler an, der einzige Luxus, den sein Auto bot.

Ich habs versucht, ich komme ohne dich nicht aus
Wozu auch? - du gefällst mir ja
Kein Mensch hört mir so gut zu wie du
Und Johnny, du lachst mich auch nie aus

Gern wäre er wie die Cops in LA oder Miami in einer offenen Corvette durch die Straßen gefahren, aber das ging natürlich nicht. Nicht nur sein kleines Gehalt sprach dagegen, sondern auch seine Berufsauffassung. Theo Schneider war zu sehr Profi, als daß er bei seiner Arbeit riskiert hätte, unnötig Aufsehen zu erregen. Deshalb fuhr er auch ein ausgesprochenes Allerweltsauto und kleidete sich hier betont unauffällig. Sein Vorgesetzter kannte ihn nur so. Kommissar Widemann legte großen Wert auf korrektes Auftreten. Der wäre sicher überrascht, wenn er ihn einmal abends in der Kneipe erleben würde. Theo grinste bei dem Gedanken. Dann fiel ihm wieder Aaron ein, und das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. Nein! Jetzt nicht wieder grübeln! Er mußte einen klaren Kopf behalten. Gleich galt es in der Inspektion, voll konzentriert zu sein.
Ein Mord in Wolfenbüttel passierte schließlich nicht alle Tage, und das war eine Möglichkeit für ihn. Eine Möglichkeit zu zeigen, was er konnte. Er mußte Kommissar Widemann davon überzeugen, daß es richtig wäre, ihn auf diesen Lehrgang zu schicken. Und dann könnte er langsam an seiner Karriere basteln. Er wollte schließlich nicht immer der unbedeutende kleine Inspektor bleiben, der nur die Fußarbeit erledigen durfte.



Kommissar Widemann hatte schlechte Laune.
Nicht, daß es einen Unterschied machte, denn er hatte fast ständig schlechte Laune, aber dennoch überlegte sich Theo die Worte ganz genau, mit denen er seine morgendlichen Aktivitäten schilderte. Albert Widemann bestand auf kurzen, präzisen Berichten, und Theos Vorliebe für die Ausschmückung seiner Erlebnisse hatte schon oft zu harschen Tadeln seines Vorgesetzten geführt.
Bei diesem Fall wollte Theo sich keine Fehler erlauben. Er beschränkte sich also auf die bloßen Fakten, die er herausgefunden hatte, ohne von den weiteren Umständen seiner Gespräche zu erzählen.
Kommissar Widemann hörte aufmerksam zu und unterbrach Theo nicht ein einziges Mal. Er kaute dabei auf seiner alten Pfeife herum, die, wie immer, leer war. Er hatte sich schon vor Jahren das Rauchen abgewöhnt. Die Pfeife aber war geblieben, eine Angewohnheit, die er wohl nicht mehr loswerden konnte. Jetzt nahm er sie aus dem Mund und zeigte damit auf Theo:

"Sei froh, daß du unterwegs gewesen bist. Das war kein Spaß hier, die Frauen zu vernehmen."

"Glaub ich gerne, Chef. Ist denn wenigstens was dabei rumgekommen?"

"Na ja, nicht viel. Wenigstens versteh ich jetzt so ungefähr, wie da die persönlichen Beziehungen laufen. Irgendwie sind die sich alle nicht grün."

"Neue Verdachtsmomente?"

"Noch nicht. Die Damen Burckhardt und Jacobi wollen uns immer noch den großen Unbekannten verkaufen. Aber ich glaube, heimlich fangen sie schon an, sich gegenseitig zu verdächtigen. Bei Frau Eschenburg ist es ganz deutlich."

"Oh! Hat sie etwa irgendwen beschuldigt?"

"Nicht direkt, aber sie hat anscheinend Angst im Haus und will weg. Wollte heute schon abreisen. Ich hab sie gebeten, wenigstens noch bis zum Wochenende zu bleiben."

"Warum denn das?"

"Na, seit Samstag ist es bei denen wohl nicht gerade friedlicher geworden. Und je höher da die Wellen schlagen, desto besser doch für uns. Sollen sie ruhig noch ein wenig im eigenen Saft schmoren."

"Genau! Und mit ein bißchen Glück entlarvt sich der Täter dann selber. Hat man ja öfter bei Verbrechen aus Leidenschaft."

"Na, ganz so leidenschaftlich sind die alle nicht.
Nein, solange wir nichts anderes wissen, muß unsere erste Frage immer sein: Wem nützt es?"

"Auch wieder wahr. Das gute alte Cui Bono, was? Aber das wissen wir eben noch nicht."

"Deshalb müssen wir möglichst bald feststellen, wie groß das Vermögen ist, das Burckhardt hinterläßt. Dann hätten wir schon mal ein mögliches Motiv."

"Aber doch nur für Diana Burckhardt!
Obwohl: Vielleicht ist sie ja gar nicht die Alleinerbin."

"Eben. Du hast doch gesagt, es gibt ein Testament. Wäre für eine Alleinerbin ja nicht nötig."

"Meinen Sie, Frau Jacobi und Frau Eschenburg könnten auch erben?"

"Schon möglich. Frau Eschenburg glaubt zum Beispiel, daß Amalia Jacobi ein uneheliches Kind von Burckhardt ist."

"Ach so! Das würde natürlich auch ihre seltsame Stellung im Haus erklären. Wie eine Angestellte benimmt die sich nämlich nicht gerade.
Aber was macht Frau Eschenburg da eigentlich immer? Wohnt die nicht in Braunschweig?"

"Ja, sie ist Lehrerin und hat jetzt Ferien. War wohl schon als Kind immer mehr hier als zuhause. Ihre Eltern sind dann noch früh gestorben, und Burckhardt war für sie so eine Art Ersatzvater."

"Das wäre dann ja schon Tochter Nummer drei. Vielleicht auch Erbin Nummer drei?"

"In dem Fall hätten auch alle drei Frauen ein Motiv. Wir müssen zusehen, daß wir an das Testament herankommen. Ich kümmer mich nachher mal darum. Wahrscheinlich brauchen wir eine gerichtliche Verfügung."

"Vielleicht weiß Horst Wagner da ja auch genauer Bescheid. Journalisten sind doch immer so gut informiert. Sollte dieser Herr nicht sowieso gleich kommen?"


Tatsächlich dauerte es aber dann noch eine ganze Weile, bis Horst Wagner kam. Kommissar Widemann war schon etwas ungeduldig geworden. Deshalb fing er ziemlich abrupt mit der Befragung an:

"Herr Wagner, was haben Sie mit Georg Nicolai zu tun?"

"Gar nichts, kenn den Typ nicht mal."

Widemann gab Theo ein Zeichen mit den Augen, ließ seinen Blick aber nicht von Wagner, als ob er ihn hypnotisieren wollte. Theo wußte, daß er die nächste Frage stellen mußte. Schließlich hatte er diesen Zeitungsartikel ja entdeckt.

"Wie kommt es dann, daß Sie einen dreispaltigen Artikel in der BZ vom 6.4. verfassen konnten, über einen Mann, den Sie doch gar nicht kennen?"

Horst warf einen Blick auf das Blatt, das Theo vom Schreibtisch geholt hatte, und sagte dann unbeeindruckt:

"Ist Herr Eschenburg, auf den Sie da immer zeigen. Ein Nicolai taucht in meinem Artikel nicht auf."

"Jetzt kommen Sie mal mit der Wahrheit rüber! Sie wissen doch ganz genau, daß dieser Mann Georg Nicolai ist, auch wenn er sich hier Eschenburg nennt."

"Ach, das ist Herr Nicolai? Das erste, was ich höre! Aber da sehen Sie mal, daß man selbst die einfachsten Angaben noch gegenchecken muß, wenn man sicher gehen will. Warum reist der denn da unter falschem Namen?"

"Die Fragen stelle ich hier, liefern Sie uns gefälligst ein paar Antworten!"

"Tut mir leid, muß ich passen."

Der Kommissar übernahm wieder die Gesprächsführung:

"Auch wenn Sie Nicolai wirklich nicht kennen, Sie wissen doch, daß Herr Burckhardt Geschäfte mit ihm machen wollte."

"Hab so was gehört."

"Und Sie können uns bestimmt erzählen, worum es da geht."

"Tut mir schon wieder leid."

"Herr Wagner! Sie haben doch noch am Abend vor seinem Tod lange mit Burckhardt geredet."

"Aber da ging's um was ganz anderes."

"Und das wäre?"

"Ach, so Manipulationen mit Grundstücken. Ich nenn es die 'Jägermeister-Connection'. Ist ein Nachbar von Burckhardt drin verwickelt, ein Herr Kleist. Die Frauen hatten mir erzählt, daß er und Burckhardt zerstritten sind. Deshalb dachte ich ja auch, Burckhardt hilft mir dabei, etwas herauszufinden. Hat er dann aber bleibenlassen. Fragen Sie mich nicht, warum! Ich weiß es nicht!"

"Sie wissen anscheinend ziemlich wenig! Aber daß Burckhardt noch gelebt hat, als Sie gegangen sind, das wissen Sie schon?"

"Aber klar!"

"Und wann war das?"

"So gegen elf."

"Dann waren Sie also der letzte, der Burckhardt lebend gesehen hat?"

"Nein, nein, das wird schon der Mörder gewesen sein."

"Oder die Mörderin. Jede der Frauen hätte ja in der Nacht noch in die Bibliothek gehen können."

"Lisa nicht! Ich bin direkt ins Zimmer, wo sie schon war, und bin dann dageblieben."

"Haben Sie nicht Samstag gesagt, daß Sie mit Burckhardt getrunken hatten? Dann haben Sie doch bestimmt fest geschlafen!"

"Nun ja, vielleicht, aber ...
Ich hätt's schon gemerkt, wenn sie aufgestanden wäre!"

"Und wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, daß Frau Eschenburg doch nachts im Haus unterwegs war?"

"Würde ich sagen, Sie lügen."

Horst Wagner griff nach seinen Zigaretten, aber nach einem Kopfschütteln des Kommissars steckte er sie wieder ein. Er war anscheinend etwas verunsichert, und Theo Schneider versuchte, das auszunutzen. Er fragte unvermittelt dazwischen:

"Warum haben Sie eigentlich Ihren Vertrag mit der BZ gekündigt?"

Die Frage überraschte Horst Wagner, aber er hatte sich schnell wieder gefangen und antwortete:

"Meine Lebensplanung müssen Sie schon mir überlassen. Ich bin Ihnen doch keine Rechenschaft schuldig!"

"Vielleicht, weil Sie eine lohnendere Geldquelle entdeckt haben? Wer sollte denn bluten, Nicolai oder Burckhardt? Oder etwa Herr Kleist?"

"Was soll das denn jetzt? Ich dachte, ich sollte als Zeuge gehört werden. Werd ich auf einmal beschuldigt? Dann müßte ich nämlich meinen Anwalt herbemühen."

Kommissar Widemann beruhigte ihn:

"Das ist nicht nötig. Wir beschuldigen Sie gar nicht. Aber seien Sie sicher, daß wir Sie im Auge behalten!"

"Das kennt man ja, daß die kritische Presse bei der Polizei nicht gerne gesehen wird. Aber glauben Sie nur nicht, daß Sie mich einschüchtern können!"

"Will ich doch gar nicht. Mir wär es sogar lieber, Sie würden mit uns zusammenarbeiten."

"Sicher, wenn ich kann..."

"Dann erzählen Sie uns doch mal etwas über Burckhardts Vermögensverhältnisse und sein Testament."

"Ja also, er hatte außer dem Hof wohl noch ein paar andere Grundstücke, aber wieviel da genau zusammenkommt, weiß ich auch nicht."

"Und wer erbt das alles?"

"Keine Ahnung."

"Mit Ihrer Verlobten reden Sie wohl nicht über Geld, oder?
Herr Wagner, so stelle ich mir eine Zusammenarbeit nicht vor!"

"Ach was! Was heißt hier 'Zusammenarbeit'?
Sie suchen doch nur nach Mordmotiven! Meinen Sie, ich helfe Ihnen dabei?
Am besten sag ich gar nichts mehr."

Schließlich ließ der Kommissar Wagner gehen. In den letzten Minuten war der doch etwas ins Schwitzen geraten. Jetzt war er sichtlich erleichtert und fingerte schon im Aufstehen nach seinen Zigaretten. Auf der Türschwelle hatte er bereits eine im Mund und ließ sein Feuerzeug aufblitzen.


"Der lügt doch, Chef!"

"Seh ich auch so, aber das muß ja nicht heißen, daß er in den Mord verwickelt ist. Journalisten haben doch immer was zu verbergen."

Kommissar Widemann stand am Fenster und sah hinaus. Horst Wagner mußte sich sehr beeilt haben, aus dem Gebäude zu kommen, denn er erschien jetzt schon vor der Tür und ging mit großen Schritten auf den Parkplatz zu. Von dort kam ihm ein auffallend elegant gekleideter Mann entgegen. Sie trafen sich auf halbem Weg und blieben kurz stehen. Es war nur ein Moment, aber Widemann war sicher, daß sie miteinander geredet hatten. Der Elegante betrat dann die Inspektion, und der Kommissar rief sofort beim Portier an, um zu erfahren, wer da gekommen war.

"Theo, du hattest recht! Die Herren Wagner und Nicolai kennen sich sehr wohl."

"Woher wissen Sie das denn auf einmal?"

"Weil ich gerade gesehen hab, wie sie sich unterhalten haben. Daß Wagner soviel Wert darauf legt, diese Bekanntschaft zu verschweigen, macht mich schon stutzig. Vielleicht sollten wir uns diesen Herrn Nicolai doch noch ein bißchen genauer ansehen."

"Könnte bestimmt nicht schaden."

"Du hast da ja schon gut vorgearbeitet. Wenn ich deine Unterlagen richtig lese, hat Nicolai zwar eine kriminelle Vergangenheit, aber man kann sie ihm nicht beweisen."

"Genau, Chef. Man konnte ihn nie richtig festnageln, aber wenn das ein seriöser Geschäftsmann ist, bin ich Don Johnson."

Widemanns Gesicht war so nahe an einem Lächeln wie schon lange nicht mehr, denn schon oft hatte er gedacht, daß sein Inspektor viel lieber in einer amerikanischen Großstadt Dienst tun würde als im beschaulichen Wolfenbüttel. Sein Hang zu Übertreibung und Selbstdarstellung hätte da auch besser hingepaßt. Hier mußte Widemann beides oft auf Wolfenbütteler Maß zurechtstutzen. Aber das war auch schon das einzige, was ihm an seinem jungen Kollegen negativ auffiel. Sonst war der ziemlich brauchbar. Er würde sicher einmal ein guter Polizist werden.

"Paß auf, Theo! Wir machen jetzt folgendes: Ich führe das Gespräch mit Nicolai alleine, und du hörst aus dem Nebenzimmer zu. Wenn ich sage 'Wann reisen Sie ab?', gehst du nach draußen und wartest da auf ihn. Ich möchte, daß du ihn für ein paar Stunden beschattest. Mal sehen, was er so macht."

Theo ging ins Nebenzimmer, und zwar keinen Moment zu früh, denn da klopfte es schon an der Tür.
Das Gespräch zwischen Albert Widemann und Georg Nicolai verlief beinahe wie small talk auf einem gesellschaftlichen Empfang. Die beiden etwa gleichaltrigen Männer übertrafen sich gegenseitig an ausgesuchter Höflichkeit. Widemann wollte nicht, daß Nicolai jetzt schon merkte, was sie über ihn wußten und daß er sie überhaupt näher interessierte. Deshalb brachte er eher beiläufig das Gespräch auf Nicolais Auftritt im Braunschweiger Carolinum. Genauso beiläufig erklärte der seinen Namenswechsel damit, daß er dort inkognito bleiben wollte und den ersten Namen gewählt hätte, der ihm eingefallen war.
Dann sprach der Kommissar die Geschäftsbeziehung zu Burckhardt an. Da veränderte sich die freundliche Atmosphäre des Gesprächs merklich, denn Nicolai wurde deutlich reservierter. Er gab lediglich zu, von Burckhardt einen Auftrag bekommen zu haben. Worin der bestand, wollte er nicht sagen. Kommissar Widemann versuchte zu insistieren:

"Das ist jetzt nicht weiter wichtig, aber sollte es da einen Zusammenhang zu dem Mord geben, können Sie nicht mehr so einfach schweigen! Spätestens vor Gericht werden Sie reden müssen!"

"Ach, es gibt eine Gerichtsverhandlung?"

"Selbstverständlich, sobald wir den Mörder gefunden haben."

"Dann viel Glück auf den Weg, Herr Kommissar. Darf ich mich jetzt empfehlen?"

"Eine Frage noch: Wann reisen Sie eigentlich ab?"

"Das kann ich Ihnen nicht sagen. In nächster Zukunft jedenfalls nicht."

"Aber Ihr Auftraggeber ist doch tot, und Ihr Auftrag - was immer das nun auch war - ist damit doch hinfällig!"

"Mir gefällt Ihr Städtchen eben. Ich möchte mich hier noch ein wenig umsehen, als Tourist sozusagen."

Widemann blieb jetzt nichts weiter übrig, als ihm dabei viel Vergnügen zu wünschen, aber Inspektor Schneider müßte jetzt eigentlich auch genug Vorsprung haben.



Hatte der auch. Er saß schon in seinem Auto und wartete, als Nicolai aus dem Haus kam. Es fiel ihm selbst in Gedanken schwer, diesen Mann "Herrn Nicolai" zu nennen. Denn genau das war er seiner Meinung nach nicht: ein Herr. "Jeder Zoll ein Gentleman", würde seine Mutter wahrscheinlich sagen, sollte sie ihn jemals zu Gesicht bekommen. Aber in Wirklichkeit war er doch nur ein armseliger Gauner, der auf Kosten anderer lebte: ein Schmarotzer der Gesellschaft, der allen nur eine Rolle vorspielte.
Wie der sich schon bewegte! So geziert, als ob er ständig damit rechnete, gefilmt zu werden. Natürlich ging er zum teuersten Wagen auf dem Parkplatz und ließ sich auch Zeit beim Einsteigen. Fehlte eigentlich nur noch, daß ihm ein Chauffeur in Livrée den Schlag öffnete!
Der schwäbische Luxusschlitten war im Wolfenbütteler Verkehr gut auszumachen, und so war es für Theo leicht, ihn bis auf den Schloßplatz zu verfolgen. Von da aus ging es zu Fuß weiter, rechts am Schloß vorbei und direkt auf die Herzog-August-Bibliothek zu. Theo Schneider folgte in sicherer Entfernung. Nicolai betrat das Gebäude, und Theo zögerte. Dann ging er doch vorsichtig hinterher und warf einen Blick in den Lesesaal.
Nicolai stand an der Autorenkartei. Das konnte unter Umständen dauern. Theo hatte sich schon abgedreht, um wieder hinauszugehen, da sah er aus dem Augenwinkel eine vertraute Gestalt im Saal. An einem der Tische, etwas weiter im hinteren Teil des Raumes, saß in ein Buch vertieft Aaron T. Schmitt!
Sein erster Impuls war, auf ihn zuzugehen, aber er wußte sofort, daß er das natürlich nicht durfte. Es würde seine weitere Observierung mehr oder weniger unmöglich machen. Nachdenklich ging er hinaus und setzte sich draußen auf eine Bank, die in der Sonne stand. Konnte das Zufall sein? - War Nicolai hinter Aaron her?
Oder waren die beiden hier sogar verabredet? - Es hatte nicht danach ausgesehen, aber unmöglich war es nicht.
Aber doch! Das hätte Aaron ihm erzählt! Von der Begegnung am Stadtgraben hatte er ja auch berichtet, warum sollte er sich jetzt heimlich mit Nicolai treffen? Das gab keinen Sinn. Theo Schneider beschloß trotzdem, von diesem Zufall - denn das mußte es wohl doch sein - Kommissar Widemann nichts zu berichten.
Aber er hatte jetzt einen Grund, heute noch einmal bei Aaron vorbeizuschauen und ihn zu befragen. Diese Aussicht besserte seine Laune ein wenig, und er versuchte, die Frühlingssonne zu genießen. Er setzte die Ohrhörer seines Walkmans auf und entspannte sich.

Mit 18 rannt ich in Düsseldorf rum
War Sänger in ner Rock and Roll Band
Meine Mutter nahm mir das immer krumm
Ich sollt was Seriöses werden
Wir verdienten vierhundert Mark pro Auftritt
Für ne Rolling Stones Kopie
Die Gitarren verstimmt, doch es ging tierisch los
Und wir hielten uns für Genies


Als Nicolai die Bibliothek wieder verließ, folgte ihm ein Inspektor, der jetzt wesentlich gelassener war und sich voll auf seine Aufgabe konzentrierte. Sie überquerten die Straße zum Zeughaus und gingen dann um den Schloßplatz herum in Richtung Einkaufszone. Am Meißnerhaus schwappten zwar wieder Gedanken an Aaron in Theos Bewußtsein, aber er verscheuchte sie schnell. Er mußte jetzt aufpassen, sein "Objekt" nicht aus den Augen zu verlieren. Das war inzwischen in die Löwenstraße eingebogen und ging dann an den Krambuden vorbei zum Stadtmarkt.
Theo beeilte sich hinterherzukommen, und als er auf den Marktplatz einbog, sah er gerade eben noch, wie Nicolai im Ratskeller verschwand. Aha, jetzt war also Mittagessen angesagt.
"Verbrechen lohnt sich nicht!", dachte Theo Schneider bitter, als er sein eigenes Mahl betrachtete, das aus zwei belegten Brötchen im Café gegenüber bestand. Von seinem Platz am Fenster aus hatte er den Eingang zum Ratskeller gut im Auge.
Aus einem Lautsprecher über der Theke sickerte leise Musik in den Raum:

In unserm Zimmer hing unser altes Gesicht
Unsere Körper wurden allmählich grau
Dein Arm wurde schwer, und ich wollte nicht
Daß wir vereisten in unserem Bau.

Es ging ein Wind, und es fuhr eine Bahn
Ich hab dir sogar noch den Koffer getragen
Die letzten Wochen, nur ein kurzer Wahn
Du wolltest die Abfahrt noch gerne vertagen.

Theo machte sich Gedanken über seine Aufstiegsmöglichkeiten. Wenn er bei diesem Fall erfolgreich war, konnte das eine Beförderung bedeuten. Und dann könnte er daran denken, selbst Kommissar zu werden. Aber nicht in Wolfenbüttel! Ganz abgesehen davon, daß Widemann sicher noch zehn Jahre diesen Posten blockieren würde, lag seine Berufung auch eher in der Großstadt.
Und seine Chancen standen gar nicht schlecht. Die Ermittlungen liefen eigentlich ganz gut. Widemann behandelte ihn gleichberechtigt, und er war offensichtlich von seiner Nicolai-Recherche beeindruckt gewesen.
Da kam ihm eine Idee. Vielleicht sollte er auf diese Karte setzen! Aaron und sein Freund waren doch so an Nicolai und Wagner interessiert. Wenn er sie darin noch ein wenig bestärken würde, könnte es schon sein, daß sie irgendwann etwas Brauchbares herausfänden. Sollte sich dann wider Erwarten zeigen, daß Widemann mit seinem Verdacht gegen die Frauen falsch lag, wäre Theo vielleicht in der Lage, ganz neue Erkenntnisse vorzuweisen. Jedenfalls hatte er überhaupt nichts zu verlieren. Der Kommissar brauchte von alledem ja nichts zu erfahren!
Zufrieden biß er in sein Brötchen und ließ seinen Blick über den Marktplatz schweifen. War das da hinten nicht...? - Tatsächlich: Horst Wagner kam von der Kommißstraße her. Er schlenderte scheinbar ziellos über den Platz und blieb wie zufällig vor dem Ratskeller stehen. Dort las er den Aushang mit der Speisekarte und ging dann hinein. Anders als vorhin in der Bibliothek glaubte Theo Schneider hier allerdings nicht an einen Zufall. Das sah ganz nach einem verabredeten Treffen aus.

Die Konferenz der beiden dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Dann kam Nicolai wieder heraus, allein. Theo wartete zunächst ab, ob auch Wagner erscheinen würde. Als der sich aber nicht sehen ließ, nahm er die Verfolgung wieder auf. Jetzt ging es in die Lange Herzogstraße. Nicolai blieb vor mehreren Geschäften stehen, betrat einige auch und kaufte sogar hier und da etwas. Was das war, hätte Theo gerne herausgefunden, aber er wollte nicht riskieren, seine Zielperson zu verlieren. Vielleicht ließ sich das ja später nachholen.
Schließlich war Nicolai am Ende der Fußgängerzone angekommen und bog nach rechts in die Breite Herzogstraße ein. Theo hatte einen großen Abstand zu ihm gelassen, und als er jetzt ebenfalls um die Ecke kam, war Nicolai verschwunden. Es war kein Laden in der Nähe, den er betreten haben konnte, höchstens ein Supermarkt kam da in Frage. Da Theo nichts anderes einfiel, ging er zu diesem Geschäft und sah hinein. Und er blickte genau auf den Hinterkopf des Gesuchten! Na, da hatte er ja noch mal Glück gehabt. Aber warum stand der da im Eingangsbereich des Ladens herum, anstatt ganz hineinzugehen?
Beim zweiten Hinsehen erkannte er den Grund dafür. Nicolai betrachtete die große Pinnwand neben den Kassen, wo man der Allgemeinheit mitteilen konnte, daß man ein Klavier zu viel oder einen Babysitter zu wenig hatte. Er schien alle Zettel, die dort befestigt waren, sehr sorgfältig zu lesen, dann nahm er selbst einen aus seiner Tasche und heftete ihn an die Wand. Einen anderen nahm er ab und steckte ihn ein.
Danach verließ er den Laden wieder und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Es machte den Eindruck, als ob er jetzt alle seine Besorgungen erledigt hätte und zu seinem Auto zurück wollte. Deshalb ließ Theo ihn auch gehen und betrat selbst den Supermarkt. Er hatte sich die Stelle genau eingeprägt, an der Nicolais Zettel hing, und richtig, da war er. Der Inspektor las den Text aufmerksam. Er lautete:

Für Gotthold Ephraim
Objekt lokalisiert
Treffen am Sonntag
nach Plan.
N.



Ungefähr zur selben Zeit wie Theo betrachtete auch Albert Widemann einen Zettel. Er sah dem aus dem Supermarkt sogar ziemlich ähnlich, aber das wußte der Kommissar natürlich nicht. Er hatte ihn als letztes aus der Ermittlungsakte genommen. Vorher war er die anderen Unterlagen durchgegangen, die Berichte der Spurensicherung und das Obduktionsprotokoll. Einige Fakten standen demnach fest. Er rekapitulierte noch einmal. Der Zeitpunkt des Todes lag ziemlich genau um Mitternacht. Zu dieser Zeit hatten angeblich alle Hausbewohner schon geschlafen. Die Tatwaffe war ein Messer, das eindeutig aus der Küche des Hauses stammte. Es war direkt ins Herz eingedrungen, und es gab keine Anzeichen für eine Gegenwehr des Opfers. Das könnte bedeuten, daß Burckhardt seinen Mörder kannte und arglos gewesen war. An dem Messer waren keine Fingerabdrücke. Wohl aber an anderen Stellen im Zimmer. Die meisten stammten von den Hausbewohnern. Lediglich zwei Abdrücke konnten bisher nicht zugeordnet werden. Der eine befand sich an der Tür. Der andere wurde auf dem Schreibtisch gefunden, der überladen war mit Stapeln aus Büchern, Karten und Papieren. Das alles mußte natürlich noch genauer untersucht werden. Deshalb blieb die Bibliothek einstweilen auch versiegelt. Ein Papier hatte allerdings schon den Weg in die Akte gefunden. Es war dieser Zettel, und er lag hier, weil er in Burckhardts Tasche gewesen war. Widemann wollte ihn gerade lesen, da klopfte es an der Tür, und, ohne auf ein Zeichen zu warten, platzte Gustav von Kleist ins Zimmer.

"Herr Kommissar! Ich protestiere ganz energisch! So geht es ja nicht! Sie können doch eine Dame nicht so behandeln! Schon gar nicht, wenn sie in Trauer ist. Etwas mehr Respekt, bitte! Und Rücksichtnahme! Das kann man ja wohl verlangen. Ansonsten werde ich -"

"Sie sind Herr Kleist, nehme ich an?"

"Von Kleist! Nicht daß ich Wert darauf lege, nur der Vollständigkeit halber: von Kleist. Und ich verfüge über Beziehungen, darf ich sagen, die Ihnen Ärger bereiten könnten."

"Wie zum Beispiel zur Forstbehörde?"

"Aha! Sie haben wohl mit Mendelssohn geredet, dem alten Schnarchsack. Der schikaniert mich doch, wo er nur kann. Dabei ist er selbst seiner Arbeit nicht gewachsen, der Saufkopp. Überhaupt, die Amtspersonen heutzutage ..."

"Zur Sache, bitte!"

"Ja, da weiß ich gar nicht, was ich hier soll. Ich hab Burckhardt nämlich schon seit Jahren nicht mehr gesehen."

"Aber gestern waren Sie schon da, nicht wahr? Ist ja sogar aktenkundig geworden."

"Ein Mißverständnis das, hat sich doch alles aufgeklärt."

"Und warum sind Sie dagewesen?"

"Na, um den Frauen beizustehen. Mit denen war ich ja nicht zerstritten."

"Aber mit Herrn Burckhardt, oder? Worum ging dieser Streit eigentlich?"

"Weiß ich gar nicht mehr richtig. Ist schon so lange her. Das meiste waren wohl auch nur Mißverständnisse."

"Wie ich höre, ist es damals aber doch ziemlich hoch hergegangen."

"Na ja, nicht so heiß gegessen wie gekocht, wenn Sie verstehen, was ich meine."

"Außerdem sollen Sie beide wohl mit vielen Leuten, na sagen wir mal, 'Meinungsverschiedenheiten' gehabt haben."

"Ich ja nicht so, aber Johann, ja, der hat sich da sicher einige Feinde gemacht."

"Nennen Sie mal ein paar Namen!"

"Ach, das sind so viele. Da müßte ich erst mal überlegen. Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr, was es mal war."

"Dann überlegen Sie das in Ruhe zuhause, und machen Sie mir eine möglichst vollständige Liste."

"Aber gerne, wenn ich dazu beitragen kann, diese schändliche Tat aufzuklären."

"Sehr schön! Wird Ihr Name dann auch auf der Liste stehen?"

"Wie? - Nein! Natürlich nicht! Wir haben uns gestritten, ja, aber Feinde waren wir doch nicht!"

"Na gut, Herr Kleist. Haben Sie noch Ihre Gaststätte? Können wir Sie da erreichen?"

"'Zum Eichelhäher', ja. Aber mein Sohn führt die jetzt. Ich widme mich hingegen mehr der Natur, Hege und Pflege, wissen Sie?"

"Ich melde mich dann bei Ihnen."

"Tun Sie das! Tun Sie das! Und nichts für ungut."


Albert Widemann atmete erleichtert auf, als Kleist den Raum verlassen hatte. Der Mann war ihm gleich unsympathisch gewesen. Diese seltsame Mischung aus Herablassung und Unterwürfigkeit ging ihm gegen den Strich, und das Gespräch hatte ihn richtiggehend körperlich angestrengt. Aber was war schließlich in seinem Job nicht anstrengend und nervenaufreibend?
Widerwillig nahm er sich noch einmal den Zettel vor. Er las ihn zweimal, konnte aber nichts damit anfangen, und so legte er das Blatt zurück in die Akte. Es lag jetzt ganz oben, und durch den Klarsichtdeckel konnte man weiterhin den Text sehen. Da stand:

Mag jener dünkelhafte Mann
Mich als gefährlich preisen:
Der Plumpe, der nicht schwimmen kann,
Er will's dem Wasser verweisen!
Was schiert mich der Berliner Bann,
Geschmäcklerpfaffenwesen!
Und wer mich nicht verstehen kann,
Der lerne besser lesen.




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