Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König

Kapitel 28








Kapitel 28: Sound off



Das Getriebe schrie auf.
Geblendet durch die Sonne, die ganz plötzlich hinter einer auffällig geformten Wolke hervorstrahlte, hatte ich wohl die Kupplung nicht richtig durchgetreten. Erschrocken konzentrierte ich mich wieder auf das Auto. Nachdem ich dann alles erneut unter Kontrolle hatte, wagte ich noch einmal einen Blick nach oben. Die Wolke neben der Sonne bewegte sich rasch und veränderte dabei ihre Gestalt. An irgendetwas erinnerte mich ihre Form.
Egal. Ich hatte jetzt andere Sorgen.
Ich mußte Lisa finden. Was hatte sie nur vor? Warum war sie so plötzlich verschwunden? Und das, ohne zu sagen, wohin. Vielleicht, weil wir sie sonst davon abgehalten hätten. Aber wozu überhaupt diese ganze Geheimniskrämerei?
Lisa hatte noch nicht einmal mit Aaron geredet. War ihr Verhältnis tatsächlich ernsthaft gestört? Aaron wurde ja wirklich zunehmend sonderbar. Nur mit seiner Sorge konnte man das nicht erklären. Und vor allem: Wo war er jetzt? Hatte sein Auto eigentlich noch am Weghaus gestanden? Ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Wußte er am Ende, wo Lisa hin wollte und war ihr gefolgt? Dann wäre Diana jetzt ganz alleine.
Die Verhältnisse entzogen sich immer weiter meiner Kontrolle. Ich hatte das Gefühl, nur noch zu reagieren. Und das sogar, ohne recht zu wissen, worauf ich eigentlich reagieren sollte.
Hoffentlich hatte Diana recht damit, daß Lisa zur Johanniskirche wollte. Dort würde ich sie bald finden. Danach könnte man dann weiter sehen.
Ich kam über die Friedrich-Ebert-Straße und fuhr auf die Auguststadt zu.
Dann bog ich rechts ab und parkte direkt neben dem Waisenhaus. Ich überquerte die Fahrbahn und hielt Ausschau nach Lisas Auto. Weit und breit keine Spur davon. Also ging ich um die Ecke in die Hospitalstraße und stieß dort beinahe mit einem Mann zusammen, der plötzlich aus einem Hauseingang kam.
Theo Schneider!
Das kam so unerwartet, daß ich gar nicht wußte, was ich sagen sollte. Theo auch nicht. Und so standen wir einen Moment einfach da und starrten uns an. Ich fand als erster die Sprache wieder:

„Theo! Hey! Was machst du denn hier? Im Dienst? Oder beim Sonntagsspaziergang?“

„Als Polizist ist man doch immer im Dienst. Ich hatte hier in der Nähe zu tun. Und du?“

„Na, ich genauso. Das heißt, ich meine, ich hab hier nichts zu tun. Ich geh nur ein bißchen spazieren.“

„In der Auguststadt?"

„Warum nicht? Hier gibt's doch auch schöne Ecken, z.B. die Johanniskirche. Da wollte ich gerade hin."

Ich staunte über mich selbst. Warum hatte ich ihm bloß nicht den wahren Grund für mein Hiersein genannt? Konnte er eigentlich ruhig wissen. Aber ich war einem plötzlichen Impuls gefolgt und hatte diesen Touristenquatsch erzählt. Komisch.
Vielleicht hatte Theo Schneider berufsbedingt eine empfindliche Antenne für solche „Falschaussagen“. Jedenfalls sah er mich sehr mißtrauisch an und schien mir nicht zu glauben. Das machte mich zuerst ein bißchen unsicher, aber dann dachte ich mir, daß es schließlich ganz egal war, ob Theo mir glaubte oder nicht. Fast etwas trotzig sagte ich:

„Ich will dann mal los. Mach's gut.“

Doch Theo ließ sich nicht so leicht abschütteln:

„Wenn du nichts dagegen hast. Ein paar Schritte könnten mir auch gut tun. Ich komm einfach mit.“

Irgendwie war mir nicht wohl dabei. Aber letztlich machte ich ja nichts Verbotenes. Und wenn Lisa tatsächlich in Gefahr war, konnte ein Polizist als Begleiter nur von Nutzen sein. Wir gingen also zusammen die Hospitalstraße hinunter.
Theo Schneider war dann sehr schweigsam. Das kam mir einerseits gelegen. Andererseits wunderte ich mich, daß er sich gar nicht nach Aaron erkundigte.
Viel Zeit blieb allerdings auch nicht, denn bald kamen wir zur Johanniskirche. Wir betraten den Kirchhof, und auf einer der Bänke, die da standen, saß - Lisa Eschenburg.
Gott sei Dank! Ihr war nichts passiert. Theo hatte sie auch gesehen, sogar noch vor mir, denn ehe ich noch etwas sagen konnte, meinte er:

„Sieh an, sieh an, Frau E. Wenn das keine Überraschung ist.“

Erstaunlicherweise schien er jedoch gar nicht überrascht zu sein. Ich hatte ja damit gerechnet, Lisa in der Nähe der Kirche zu finden, hatte es gehofft. Aber Theo? Konnte er auch davon gewußt haben, daß sie hier sein könnte? War er vielleicht sogar deshalb mitgekommen?
Lisa hatte uns entdeckt und stand auf. Theo sagte:

„Na, Frau Eschenburg? Was machen Sie denn hier?“

Lisa murmelte etwas von "Gottesdienst besuchen". Doch als sie meine ungläubige Miene sah, verstummte sie. Theo wies sie dann auch darauf hin, daß der Gottesdienst schon längst angefangen hatte. Das brachte sie etwas durcheinander. Sie druckste noch ein wenig herum, da klingelte plötzlich Theo Schneiders Handy.
Die Erleichterung war Lisa ins Gesicht geschrieben, aber ich wollte sie nicht so leicht davon kommen lassen. Ich fragte sie, was sie sich dabei gedacht hatte, ohne Nachricht einfach zu verschwinden. Von mir schien sie nicht so eingeschüchtert zu sein wie von Theo, denn jetzt muckte sie auf:

„Was soll bloß der ganze Aufruhr! Kann man nicht einmal mehr spazieren gehen, ohne daß ihr gleich die Polizei alarmiert?“

„Ich hab Theo nicht alarmiert, er ist zufällig hier.“

„Seltsame Zufälle gibt es! Glaubst du doch selbst nicht.“

Hilfesuchend, sah ich zu Theo hinüber. Der war in sein Telefongespräch vertieft, das ihn gerade sichtlich aufregte. Er rief:

„Was?!? - Wann? - Wer hat das gemeldet? - Wie 'weg'?“

Es war anscheinend etwas passiert. Und wir erfuhren auch gleich, was. Theo Schneider steckte sein Telefon ein, kam auf uns zu und sagte, indem er Lisa direkt ansah:

„Diana Burckhardt ist tot.“

Lisa erbleichte. Auch mir fuhr der Schreck in die Glieder. Gleichzeitig stieg vom Bauch her ein unangenehmes Gefühl empor. Ich hatte sie alleine gelassen! War Hals über Kopf Lisa hinterher gefahren. Obwohl Diana in dem einsamen Haus doch viel eher in Gefahr gewesen war. Ich könnte schuld an ihrem Tod sein. Dieses Bewußtsein trieb mir das Blut ins Gesicht. Wir mußten ein seltsames Bild abgeben. Lisa kreidebleich und ich krebsrot.
Aber Theo Schneider hatte kein Auge für mich. Er sah nur zu Lisa und wartete auf eine Reaktion. Die erholte sich langsam von dem Schock. Trotzdem kam zuerst nur unzusammenhängendes Gemurmel aus ihrem Mund. „Wie?“, sagte sie und „Was? Wieso?“ Dann schluckte sie einmal und brachte den ersten ganzen Satz zustande:

„Wo ist Aaron?“

Theo Schneider beachtete die Frage nicht, sondern sagte:

„Frau Eschenburg, ich verhafte Sie wegen des Mordes an Diana Burckhardt.“

Lisa schrie auf. Theo packte sie vorsichtshalber am Arm.

„Machen Sie keine Schwierigkeiten! Und folgen Sie mir zum Auto. Wir sollten doch ohne Handschellen auskommen, oder?“

Da ich schon Diana nicht hatte helfen können, wollte ich wenigstens Lisa beistehen. Ich sagte also zu Theo:

„Weißt du, was du da tust? Ich kann bezeugen, daß Frau Burckhardt noch gelebt hat, als Lisa verschwunden ist. Sie kann's gar nicht gewesen sein.“

„Misch dich da mal nicht ein. Das ist eine Amtshandlung. Frau Eschenburg, bitte!“

Er war wohl nicht davon abzubringen. Ich versuchte, Lisa zu überzeugen, daß sich das Mißverständnis bestimmt bald aufklären würde. Sie sollte am besten mit zur Inspektion fahren. Ich wollte dann Aaron informieren und eventuell auch Dr. Zacharias. Schließlich fügte sie sich.
Gemeinsam gingen wir dann zu Theo Schneiders Auto. Nachdem Theo seine Gefangene darin verstaut hatte, kam er noch einmal zu mir.

„Nur damit du siehst, daß ich schon noch weiß, was ich tue: Diana Burckhardt ist ganz offensichtlich vergiftet worden. Das kann Frau E. durchaus arrangiert haben. Und dann ist sie hierher gefahren, um so eine Art Alibi zu haben. Ziemlich blöd allerdings.“

„Vergiftet sagst du? Doch nicht etwa mit Pralinen?“

„Doch! Pralinen waren es! Was weißt du darüber?“

Ich erzählte, daß die Schachtel heute morgen aufgetaucht war. Und keiner wußte, woher. Theo sagte:

„Dummes Zeug! Wer hat sie denn zuerst gehabt?

„Nun, Lisa, aber ...“

„Aha! Und was hat sie damit gemacht?“

„Sie hat sie Diana geschenkt, weil ...“

„Bingo!“

Das paßte Theo sichtlich gut ins Konzept. Doch so ganz von der Hand zu weisen war sein Verdacht nicht. Theo wollte noch etwas von mir:

„Aaron hat den Mord über Notruf gemeldet. Aber als die Kollegen zum Haus kamen, war er nicht mehr da. Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?“

Hatte ich nicht, und das nervte mich. So langsam würde ich selbst mal gerne wissen, wo mein Freund eigentlich war.

Nachdem Theo abgefahren war, stand ich ratlos am Straßenrand.
Diana ermordet, Lisa verhaftet und Aaron verschwunden! Ein schönes Durcheinander!
Was sollte ich jetzt damit anfangen?
Diana konnte ich nicht mehr helfen. Da hätte ich früher auf der Hut sein sollen. Meine Schuldgefühle kamen wieder hoch. Allerdings hatte Theo gesagt, daß sie vergiftet worden war. Da hätte es ja nun auch keinen Unterschied gemacht, wenn ich da geblieben wäre. Die Schuldgefühle wollten trotzdem nicht verschwinden. Ich bemühte mich, sie zu ignorieren. Diana war tot. Das konnte niemand mehr ändern.
Aber Lisa mußte geholfen werden! Nur, vielleicht war sie ja die Täterin? Außerdem sollte sich doch Aaron um sie kümmern!
Wo steckte der bloß? Wahrscheinlich hatte er Lisa die ganze Zeit gesucht. Inzwischen war er bestimmt zurück ins Weghaus gekommen. Also da hin!
Ich stieg ins Auto und fuhr los. Wenig später kam ich beim Weghaus an. Es standen einige Polizeiwagen vor der Tür. Ich hatte mich schon innerlich darauf eingestellt, auch einem Leichenwagen zu begegnen, aber Diana schien schon weggebracht worden zu sein.
Als ich das Grundstück betrat, sprang mir sofort Rollo entgegen. Er war völlig außer sich, hüpfte an mir hoch, bellte und winselte abwechselnd. Ich bückte mich zu ihm herunter, nahm ihn in den Arm und versuchte, ihn zu beruhigen. Schließlich gelang es mir halbwegs.
Dann wollte ich ins Haus, um nach Aaron zu sehen. Ich hatte noch nicht den ersten Fuß hinein gesetzt, da trat mir schon Kommissar Widemann in den Weg.

„Sie bleiben gefälligst draußen! Und erst recht dieser Hund. Die Spurenlage ist sowieso schon katastrophal.“

Abgeschreckt von der Zurechtweisung machte ich unwillkürlich einen Schritt zurück und wäre beinahe auf Rollo getreten.
Widemann kam ganz heraus und schloß die Tür hinter sich. Ob er befürchtete, daß Rollo an ihm vorbei ins Haus schlüpfen konnte, oder ob er mir mißtraute, war nicht ganz klar. Er wollte dann wissen, wo Aaron abgeblieben wäre. Daß ich angab, das wüßte ich auch nicht, schien ihn keineswegs zu überzeugen. Er beäugte mich mißtrauisch. Dann sagte er:

"Was wissen Sie über diese Pralinen?"

Ich erzählte ihm dasselbe wie schon Theo vorher. Daß sie plötzlich in Lisas Zimmer gelegen hatten und Lisa nicht wußte, wie sie dahin gekommen waren. Genau wie Theo fand er diese Erklärung wohl nicht so ganz plausibel.

"Was sagt denn ihr Freund zu alldem? Und warum taucht er nicht wieder auf?"

Ja, das war natürlich die Frage. Wo steckte Aaron? Während ich dem Kommissar noch erklärte, was ich in der Stadt gewollt hatte, sah ich mich um, ob ich Aarons Auto irgendwo entdecken konnte. Fehlanzeige!
Sicher war er weggefahren, um Lisa zu suchen. Wenn er sie nicht findet, wird er sich doch bestimmt irgendwann bei Theo Schneider melden. Vielleicht hatte er das sogar schon getan. Dann wüßte er jetzt, daß sie verhaftet worden war. Ja, genau. Und er würde natürlich zur Inspektion fahren, um ihr beizustehen.
Also mußte ich auch da hin. Widemann fand die Idee gut, weil er sowieso noch ein Protokoll meiner Aussage brauchte.
Der Kommissar ging ins Haus zurück, und ich wollte zu meinem Auto. Da sah ich, daß Rollo sich ganz seltsam verhielt. Er lief wie aufgedreht auf der Wiese herum, immer im Kreis. Dann sauste er zu seiner Hütte und kam mit der Katze wieder heraus. Mit ihr in der Schnauze rannte er wieder zur Wiese. Rollo war ganz offensichtlich mit den Nerven am Ende. Konnte ein Hund wohl so etwas wie einen Nervenzusammenbruch haben? Ich wußte es nicht, aber Rollo benahm sich jedenfalls so. Er hatte sogar die Katze aus dem Maul fallen lassen. Sie lag am Boden, und Rollo rannte ohne sie weiter. So etwas hatte er sonst nie getan. Er mußte wirklich ernsthaft gestört sein.
Ich hob die Katze auf und überlegte. Wer sollte sich jetzt eigentlich um den Hund kümmern? Im Haus war ja niemand mehr, wenn die Polizisten gegangen sein würden. Sollte ich ihn mitnehmen? Was mochte Frau Topp dazu sagen? Die Polizisten könnten ihn vielleicht ins Tierheim stecken. Das konnte ich doch nicht verantworten.
Wenn ich nur wüßte, wann Aaron wieder zurück ist.
Ich überlegte hin und her, aber dann war mir klar, daß ich meinen vierbeinigen Freund nicht zurücklassen konnte, schon gar nicht in dem Zustand, in dem er sich gerade befand.
Also sammelte ich ihn da ein, wo er gerade durch die Gegend taumelte, und nahm ihn mit zu meinem Wagen. Auf dem Weg dahin schien er sich schon ein wenig zu beruhigen. Und im Auto dann, auf dem Rücksitz, war er fast der Alte. Er nahm auch seine Katze wieder und schien neugierig zu sein, wo die Fahrt wohl hingehen würde.



Vor der Inspektion angekommen, wollte Rollo mit raus. Aber ich hielt es doch für besser, ihn im Auto zu lassen. Er würde bestimmt stören, außerdem war ich mir nicht sicher, wie Theo Schneider es finden würde, daß ich den Hund einfach mitgenommen hatte. Rollo protestierte erst lauthals, als ich die Tür vor ihm schloß, doch dann beruhigte er sich auch schnell wieder.
Ich ging hinein und fragte mich zu Theos Büro durch. Theo saß hinter seinem Schreibtisch und blätterte angeregt in Papieren. Er machte einen sehr selbstzufriedenen Eindruck. In Widemanns Abwesenheit kam er sich wahrscheinlich noch bedeutender vor als sonst. Ich sagte:

"Hat sich Aaron schon bei dir gemeldet? War er hier?"

„Negativ. Du hast auch nichts von ihm gehört?“

„Nein. Im Haus war er nicht. Und sein Auto ist weg. Komisch. Ich dachte bestimmt, er wäre inzwischen hier aufgelaufen.“

„Wie du siehst, hat er anscheinend andere Pläne. Tja, tut mir leid. Dann muß ich wohl nach ihm suchen lassen.“

Ich sah ihn verständnislos an.

„Na ja. Er ist mindestens ein wichtiger Zeuge.“

„Was heißt denn 'mindestens'?"

„Widemann hält ihn sogar für verdächtig. Wir haben nämlich seine Fingerabdrücke auf der Pralinenschachtel gefunden.“

„Nur seine?“

„Nein, natürlich nicht. Es gibt auch sehr schöne Abdrücke von Frau E. Und die der Toten natürlich.“

"Aha!"

"Mir ist ja sowieso klar, daß Frau E. die Täterin ist. Hab ich schließlich schon die ganze Zeit gesagt."

"Daß sie die Pralinenschachtel angefaßt hat, ist noch kein Beweis."

"Vielleicht nicht, aber der Brief doch wohl. Übrigens auch mit Fingerabdrücken der Toten."

"Was für ein Brief?"

Theo zeigte mir einen Zettel, auf dem stand "Ich weiß, was du getan hast. Komm um 12 zur Johanniskirche und bring Geld mit. 10 000 reichen fürs erste."
Deshalb war Lisa also zur Kirche gefahren. Aber worum es da ging, wußte ich immer noch nicht. Theo schon:

"Frau Burckhardt wollte die E. erpressen. Und deshalb mußte sie sterben."

"Erpressen? Womit denn?"

"Werden wir schon herausfinden."

"Theo, Theo! Das gibt doch keinen Sinn! Wenn Lisa Diana umbringt, weil die sie erpressen wollte, warum fährt sie dann trotzdem zur Johanniskirche?"

"Vielleicht weil außerdem ein Komplize im Spiel ist. Aber wo wir schon dabei sind: Warum ist sie denn deiner Meinung nach zur Kirche gefahren, wenn sie so unschuldig ist?"

Die Frage blieb natürlich. Alles andere hingegen war vollkommen konstruiert. Es kam mir so vor, als ob Theo selbst nicht richtig an diese Erpressungstheorie glaubte. Doch er wollte wohl unbedingt, daß Lisa schuldig ist.
Jetzt zog er einen zweiten Zettel aus seinem Aktenordner und reichte ihn mir mit den Worten:

"Hier ist wieder etwas für deine literarische Ader. Hatte Frau Burckhardt bei sich."

Auf dem Zettel stand:

Was heut noch grün und frisch dasteht,
Wird morgen weggemäht;
Die edel Narzissel,
Die englische Schlüssel,
Der schön Hyazinth,
Die türkische Bind,
Hüt dich schöns Blümelein!

"Ein altes Volkslied, glaub ich. Hab sogar die Melodie im Kopf. Wie hieß das bloß noch? Liegt mir auf der Zunge."

"Ist ja auch egal. Hat bestimmt überhaupt nichts zu bedeuten."

"Da wär ich aber nicht so sicher."

"Doch, doch. Ein neuer Mord ist jedenfalls nicht mehr zu befürchten. Frau E. ist jetzt am Ziel. Sie ist Alleinerbin, und alle eventuellen Mitwisser sind beseitigt. Es sei denn ..."

"Was?"

"Es sei denn, Aaron weiß auch etwas. Mir ist gar nicht wohl dabei, daß er verschwunden ist."

"Ein bißchen komisch ist das schon, daß er gar nicht wieder auftaucht. Vielleicht ist er ja in seine Wohnung nach Hornburg gefahren. Ich werd da mal nachsehen."

"Tu das. Und schick ihn her, wenn du ihn findest."



Rollo begrüßte mich überschwenglich, als ich ins Auto zurück kam.
Ich dachte daran, daß er im Moment der einzige rechtmäßige Bewohner des Weghauses war. Und doch konnte er da nicht bleiben. Selbst wenn Lisa wieder frei käme. Wer weiß, ob sie Rollo behalten wollte? Würde sie nicht sogar aus dem Weghaus ausziehen?
Die Zukunft des Hundes war überaus ungewiß.
Aber Lisas Zukunft ebenso.
Theo tat scheinbar alles, um sie des Mordes zu überführen. Ob die Beweise das hergaben, war ihm dabei fast einerlei. Warum machte er das? Um Aaron zu schützen? Um ihn zu entlasten? Weil er so langsam auch verdächtig war? Oder hatte Theo in Wirklichkeit ganz andere Interessen?
Was ihn wohl überhaupt nicht interessierte, war die neue Botschaft. Auch komisch.
Als ich daran dachte, hatte ich sofort wieder die Melodie im Kopf. Und jetzt fiel mir auch ein, wie das Lied hieß: Ist ein Schnitter, heißt der Tod.
Plötzlich wurde mir ganz heiß. Ein Schnitter ist doch jemand, der etwas schneidet. Heute würde man vielleicht eher 'Schneider' sagen. "Schneider heißt der Tod".
Sollte am Ende Theo auch noch ermordet werden? Aber der Schnitter in dem Lied tötet ja selbst. Wollte der Zettelschreiber mir also sagen, daß Theo Schneider der Mörder ist?
Ein abenteuerlicher Gedanke!
Auf der anderen Seite: Theo war von Anfang an bei allem, was passiert ist, dabei. War in jede Kleinigkeit eingeweiht. Wußte auch, was Aaron und ich herausgefunden und überlegt hatten. Und er konnte sich leicht und unverdächtig überall bewegen.
Gelegenheit hätte er also gehabt. Doch wo wäre das Motiv?
Ich mußte unbedingt mit Aaron darüber reden. Zum Glück war ich inzwischen schon fast in Hornburg angekommen. Wenn Aaron nicht im Weghaus war und auch nicht auf der Inspektion, dann müßte er doch hier sein.
Als ich in die Wasserstraße einbog, war ich mir deshalb ganz sicher, gleich den alten VW zu sehen. Aber leider war das nicht so. Kein VW in der ganzen Straße. Ich fuhr bis vor sein Haus und stieg aus.
Ich sah zum Fenster hinauf und die Straße entlang. Das Auto blieb verschwunden. Ich stieg unschlüssig aus. Da kam mir aus dem Haus seine Zimmerwirtin entgegen. Sie sagte:

"Suchen Sie Ihren Freund? Da kommen Sie zu spät. Der ist ganz plötzlich abgereist. Vor einer Stunde."




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