Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König


Kapitel 4





Kapitel 4: Night Calls



Gleich mit den ersten Worten war Aaron hinter seinem Schreibtisch hervorgekommen. Er überbrückte die Distanz zwischen uns in einem Atemzug und hielt mich schon fest in stürmischer Umarmung, bevor er noch "angekommen" gesagt hatte. Die letzte Frage war dann bereits an meinem Kopf vorbei an die hintere Wand gerichtet.
Ich hatte ganz vergessen, daß mein Freund gelegentlich vor Herzlichkeit fast explodieren konnte, und war deshalb auf diesen Überfall nicht gefaßt gewesen. Noch mehr überraschte mich allerdings, was er sagte, so daß es nun eine geraume Weile brauchte, bis ich stammeln konnte:

"Wie kommst du darauf? Woher weißt du...?"

"Also ist wirklich etwas passiert? Ich wußte es doch! Erzähl! Schnell!"

Er ließ mich wieder los, um die beiden Stühle zu holen, drückte mich dann auf den einen, setzte sich selbst rittlings auf den anderen, mir genau gegenüber, und sah mich auffordernd an.
Also berichtete ich von dem Zwischenfall auf der Autobahn. Aaron hörte mir konzentriert zu. Sein Gesichtsausdruck war angespannt, wurde erstaunlicherweise aber erst wieder richtig besorgt, während ich von dem freundlichen Fremden erzählte. Als ich dann zu dem seltsamen Wiedersehen in Peine kam, unterbrach er mich aufgeregt:

"Ich wußte es! Aber daß er so weit gehen würde, hätte ich dann doch nicht gedacht!"

"Von wem sprichst du denn? Und was hast du gewußt?"

"Ich glaube nicht, daß es bei deinem Unfall mit rechten Dingen zugegangen ist. Aber wahrscheinlich solltest du selbst gar nicht zu Schaden kommen, sicher wollte er dich nur aufhalten. Ist denn dein Auto überhaupt nicht demoliert worden?"

"Ach, so schlimm nicht. Ich muß vielleicht noch in die Werkstatt, aber erst mal konnte ich noch weiterfahren. Der Mann wollte allerdings gleich einen Abschleppwagen rufen. Weißt du denn, wer das ist? War er denn gar nicht zufällig da?"

"Das glaube ich nicht. Ich weiß natürlich nicht wirklich, wer das war, aber zumindest kann ich mir vorstellen, wer dafür verantwortlich ist."

"Ja, und wer?"

"Tja, das ist eine längere und komplizierte Geschichte. Die erzähl ich dir lieber nachher in Ruhe. Aber alles hat irgendwie mit meiner Arbeit hier zu tun."

"Apropos, was ist denn das für eine Arbeit? So langsam bin ich ganz schön neugierig geworden."

Er machte eine bedeutungsschwangere Pause, erhob sich dann von seinem Stuhl, ging zum Schreibtisch und sagte mit der angedeuteten Verbeugung eines Zirkusdirektors:

"Du siehst vor dir den Nestor der diachronen Stadtbeschreibung!"

"Bitte was?"

"Na ja, man könnte natürlich auch sagen, ich bin der erste hauptamtliche Mitarbeiter der noch zu gründenden Stadt-Marketing-Gesellschaft von Wolfenbüttel."

"Also, das sagt mir auch nicht viel mehr."

"Na gut, dann ganz von vorne! Ein findiger Kopf in der Wolfenbütteler Stadtverwaltung hat eine Möglichkeit gefunden, Werbung für den Ort zum Nulltarif zu bekommen. Es gibt da nämlich bei der EU einen ziemlich gefüllten Topf für die Bewahrung von europäischem Kulturerbe. Damit werden der Erhalt und die Wiederherstellung von wichtigen Baudenkmälern gefördert.
Jetzt ist es so, daß man die gesamte Wolfenbütteler Altstadt zu solch einem Baudenkmal erklären kann. Dann könnten hier also Gelder fließen. Allerdings gibt es da einen doppelten Haken: 1. die Stadt muß selber auch Geld aufbringen, 2. das geförderte Projekt muß wissenschaftlich begleitet werden.
Nun, die Finanzierung ist inzwischen über den Werbeetat der Stadt und einige private Sponsoren aus Wolfenbüttel organisiert, und die wissenschaftliche Begleitung - bin ich."

"Das klingt ja beeindruckend. Und was machst du da so?"

"Im wesentlichen soll ich in der Stadtgeschichte forschen. Ein Schwerpunkt ist dabei die Veränderung der Stadtstruktur über die letzten vier Jahrhunderte. Es geht aber auch um die Entwicklung und Geschichte einzelner Straßen, Straßenzüge und auch besonders interessanter oder wichtiger Häuser.
Aber jetzt kommt erst der Trick: Meine Arbeit erfüllt nicht nur dieses gewünschte Kriterium für die EU-Gelder, sondern liefert außerdem noch Ergebnisse, die sich dann wieder vermarkten lassen. Zum Beispiel könnte es ja sein, daß ich neue Objekte entdecke, die erhaltenswert sind. Oder es lassen sich Broschüren für den Fremdenverkehr erstellen mit bisher noch unbekannten Informationen über einzelne Häuser und Straßen. Außerdem plant die Stadt besondere Angebote für speziell interessierte Leute, z.B. unter der Überschrift "Wolfenbüttel zu Zeiten Lessings" oder "So sah Leibniz Wolfenbüttel". Damit könnten Historiker, Architekten, Kunsthistoriker, Literaturwissenschaftler oder auch Hobbyforscher angelockt werden. Nach und nach kann so eine vollständig neue Sparte der Fremdenverkehrswerbung aufgebaut werden."

Er erzählte mir dann noch, wer alles an der Finanzierung beteiligt war und was diejenigen sich davon versprachen, daß die Lessing-Akademie die Räume für seine Arbeit bereitstellte und die Herzog-August-Bibliothek und das Niedersächsische Staatsarchiv ihre Quellen und Hilfsmittel. Praktisch jedermann war anscheinend bereit, ihn zu unterstützen, weil sich alle etwas von den Ergebnissen versprachen: die Wissenschaftler neue Erkenntnisse, die Privatleute die Möglichkeit, Fördermittel für ihre Gebäude zu bekommen, die Firmen Werbung in den geplanten Veröffentlichungen und die Stadt eine positive Wirkung für den Fremdenverkehr. Es schien tatsächlich so zu sein, daß dieses Projekt nur Gewinner haben würde.

"Das beste aber ist, daß diese ganzen Pläne alle noch gar nicht richtig ausgebrütet sind. Zur Zeit kann ich also forschen, wie ich lustig bin. Alles, was ich herausfinde, könnte schließlich irgendwie interessant oder wichtig sein. Ich habe keine Vorgaben und kann machen, was ich will."

"Ganz abgesehen davon, daß dich sowieso keiner kontrolliert, welche Qualifikationen hast du eigentlich für diese Aufgabe?"

"Tja, das Berufsbild, das ich im Augenblick ausfülle, gibt's eigentlich gar nicht. Und deshalb gibt es auch keine vorgeschriebenen Qualifikationen. Ich war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort und hatte Interesse, also hab ich den Job bekommen."

"Gut, gut! Aber ich wußte ja gar nicht, daß du dich überhaupt für Stadtgeschichte interessierst oder für Architektur."

"Tu ich auch gar nicht. Mich interessiert hier vielmehr etwas ganz anderes. Ich versuche gewissermaßen, eine Urban-Semiotik zu begründen."

Ich machte große Augen.

"Ich betrachte nämlich die Stadt als ein kulturelles Zeichensystem. Die einzelnen Zeichen könnten dabei z.B. die Häuser sein, die sich in den Straßen zu Sätzen zusammenfügen. Die Bauweise erscheint dabei dann nicht mehr als Funktion, sondern als Symbol, das etwa ein bestimmtes Lebensgefühl oder kulturell bedeutende Werte ausdrückt."

Meine Augen wurden immer größer, aber er fuhr unbeeindruckt fort.

"Man könnte sagen, ich versuche, die Stadt zu lesen wie einen Text.
Das ist natürlich sehr schwer, wenn man eine Stadt der Gegenwart als Korpus für -"

Jetzt war es genug! Ich wußte, wenn Aaron über ein Thema mit dieser Vehemenz zu reden anfing, würde er bald nicht mehr zu stoppen sein, und ich hatte im Moment nicht die Nerven für kulturelle Zeichensysteme. Deshalb unterbrach ich ihn:

"Laß mal die Stadt der Gegenwart beiseite und lies etwas anderes!"

Ich zeigte ihm das Blatt, das ich heute morgen aus seinem Buch genommen hatte. Er warf nur einen kurzen Blick darauf und sagte:

"Hab ich noch nie gesehen. Was soll das sein?"

"Das war als Lesezeichen in deinem Daunicht, hab ich heute morgen hier gefunden."

"Ich benutze nie Lesezeichen. Wenn ich mit einem Buch arbeite, notiere ich mir immer die Seite, auf der ich gerade bin. Ich bin kein Freund dieser Zettelwirtschaft in Büchern. Aber wenn auch, warum regt dich das so auf?"

"Weil genau solch ein Blatt vorher schon in meinem Auto aufgetaucht ist."

Ich zeigte ihm auch den ersten Zettel und erzählte, wie ich ihn gefunden hatte.

"Hm, die gehören tatsächlich zusammen, es könnten sogar vier Strophen von demselben Gedicht sein. Laß mal sehen. Naturlyrik glaub ich, aber die Wortwahl ist ein bißchen merkwürdig. 'Brennesselstein' zum Beispiel, oder die Zusammenstellung von 'pfeifenden Ratten' mit einem Vers 'im Schmetterlingslicht'. Und du kennst das Gedicht gar nicht? Das sollte mich aber wundern."

Als hätte es nur dieser Aufforderung bedurft, kam mir plötzlich die Erleuchtung:

"Die ganze Zeit denke ich darüber nach, von wem das Gedicht sein könnte, und es fällt und fällt mir nicht ein. Und jetzt kommst du, sagst nur zwei belanglose Sätze dazu, und schon weiß ich es wieder. Günter Eich natürlich! Da hätte ich ja nun wirklich drauf kommen können, wo das doch mein Lieblingsdichter ist. Also: Das Gedicht ist von Günter Eich!"

"Herzlichen Glückwunsch! Und was nützt dir das jetzt?"

"Keine Ahnung. Aber wir könnten jetzt die Zettel mit dem Original vergleichen und feststellen, ob es das ganze Gedicht ist und ob es Abweichungen gibt."

"Gute Idee. Es kann sogar sein, daß wir das bei mir zuhause machen können. Ich hab mir neulich einen Band Eich ausgeliehen, weil ich ein paar Maulwürfe lesen wollte. Ich glaub, in dem Buch sind auch die Gedichte drin."

"Prima, dann können wir ja nachher ein "literarisches Duett" auf die Beine stellen.
Aber laß uns doch jetzt vielleicht woanders hingehen! Ich fühl mich hier nicht besonders wohl."

"Ist gebongt. Ich hab mir heute auch keine Mittagspause gegönnt und könnte deshalb sowieso langsam Feierabend machen."

Er fing an, seine verstreuten Unterlagen zusammenzuräumen, und ich reichte ihm einige Skizzen, die vom Schreibtisch gefallen waren. Er legte sie zu den anderen Papieren in einen der beiden Schränke und schloß alles ein. Die Bücher kamen in den zweiten Schrank, der ebenfalls verschlossen wurde. Dann schob er mich aus dem Zimmer und schloß auch hier die Tür ab.
Wir verließen das Meißnerhaus und gingen langsam in Richtung Fußgängerzone, dann vorbei an Karstadt und rechts in den Großen Zimmerhof.
Unterwegs erzählte er mir, wie es ihm seit unserem letzten Treffen ergangen war und was ihn nach Wolfenbüttel verschlagen hatte.
Im Zimmerhof waren nur vereinzelte Fußgänger unterwegs, aber das Café war gut gefüllt mit überwiegend jüngeren Gästen. Wir suchten uns einen Tisch im hinteren Teil des Raumes. Hier war das gutgelaunte Stimmengewirr von vorne nur noch halblaut zu hören, und es vermischte sich außerdem mit der Musik, die von der Theke her behutsam einen melancholischen Schleier über die Szene legte. Aus diesem Hintergrund erhob sich dann und wann die unverkennbare Stimme von Joe Cocker.

We start a fight
Who knows who'll fall?
Who knows who's winning?
And who's keeping score?

Jetzt war ich erstmal an der Reihe damit, von mir zu erzählen. Aaron war immer sehr an meinen Lebensumständen interessiert, und wenn wir uns auch oft für längere Zeit nicht sahen, so verloren wir uns doch nie ganz aus den Augen. Und immer, wenn wir uns dann wiedertrafen, war sofort das vertraute Gefühl von Nähe wieder da, das inzwischen über Jahrzehnte gewachsen war.
So waren wir auch diesmal wieder sehr schnell in ein derartig angeregtes Gespräch vertieft, daß ich beinahe vergessen hätte zu rauchen. Als ich dann doch meinen Tabak herausnahm, hob Aaron eine Augenbraue. Bevor ich ihn kannte, hatte ich immer gedacht, daß dieses Kunststück nur in Romanen von P.G.Wodehouse, aber nicht in der Realität vorkommen konnte. Als ich es dann das erste Mal bei Aaron gesehen hatte, war ich so begeistert gewesen, daß er es sich seitdem nur mir zuliebe angewöhnt hatte. Mit der neuen randlosen Brille, die ihm immer wieder von der Nase zu rutschen drohte, sah es noch komischer aus als früher. Ich ließ mich jetzt aber nicht mehr abhalten, sondern begann, meine Zigarette zu drehen. Weil auf dem Tisch eine weiße Decke lag, die ich nicht vollkrümeln wollte, legte ich ein Blatt Papier unter. Es war einer der beiden Gedichtzettel. Als Aaron ihn wiedererkannte, hob er auch die zweite Augenbraue und sagte:

"Diese Zettel sind ja schon ganz schön merkwürdig. Hast du dir eigentlich mal Gedanken gemacht, was das soll?"

"Hab ich, aber ohne Ergebnis. Vielleicht hast du ja eine Idee?"

"Wenn uns die jemand absichtlich untergeschoben hat, und so sieht's ja aus, dann kommt mir das vor wie eine verschlüsselte Nachricht."

"Aber wenn das wirklich eine Nachricht sein soll, wer hat sie dann geschickt?"

"Überlegen wir mal, wer dafür in Frage kommt. War jemand in den letzten Tagen in deinem Auto?"

"Nein, nur ich."

"Dann muß deine Nachricht von dem freundlichen Herrn aus Peine kommen, er war doch in deinem Auto. Wenn du's nicht selber geschrieben hast, ist das die einzige Möglichkeit."

Ich überlegte. Es war gut vorstellbar, daß der Samariter mir etwas ins Handschuhfach gelegt hatte. Gleich nach dem Unfall war ich ja so weggetreten gewesen, daß ich das sicher nicht bemerkt hätte.

"Und dein Zettel?"

"In mein Büro ist doch neulich eingebrochen worden, und da hab ich ja einen Verdacht. Dabei könnte schon der Zettel hier zurückgelassen worden sein. Ich hab zwar hinterher festgestellt, daß nichts fehlt, aber ob etwas hinzugekommen ist, ist mir nicht aufgefallen. Ich hab natürlich auch nicht weiter darauf geachtet, deshalb wäre es schon möglich."

Zuletzt hatten wir, vielleicht wegen des geheimnisvollen Charakters unseres Gesprächs, gelegentlich die Stimmen gesenkt und waren dichter zusammengerückt. Ganz automatisch im Rahmen dieses konspirativen Verhaltens hatte ich mich immer wieder vorsichtig umgesehen, und mir war aufgefallen, daß am Nachbartisch ein Mann zuerst beiläufig und dann immer interessierter zu uns herüber gesehen hatte. Bei Aarons letzten Worten war er deutlich näher gekommen, und ich sagte deshalb:

"Laß uns vielleicht lieber nach Hause fahren und dann noch mal in Ruhe überlegen."

"Können wir machen, ich koch uns erst mal was, und danach sehen wir dann weiter. Der Rauch hier wird mir sowieso langsam zuviel. Ich versuch grad mal wieder, weniger zu rauchen, und dann kann ich das gar nicht gut haben."

Draußen erzählte ich Aaron von meiner Beobachtung, und er sagte:

"Der Typ ist mir auch aufgefallen, ich glaub sogar, den hab ich schon mal irgendwo gesehen. Aber vielleicht werde ich ja auch schon langsam paranoid."

Sein "Verfolgungswahn" hinderte ihn jedoch nicht daran, auf dem Weg zu unseren Autos wieder zu seinem Lieblingsthema zurückzukehren. So beschrieb er mir zahlreiche Einzelheiten an den Häusern, an denen wir vorbeikamen. Und immer wieder bemühte er sich auch, mir seine Stadt-Semiotik zu erklären.
Das klappte aber jetzt auch nicht viel besser als bei seinem ersten Versuch in der Akademie, weil mir noch ständig die Gedichtzeilen im Kopf herumschwirrten. Er redete trotzdem unverdrossen weiter: über die historisch bedingten Unterschiede des Verputzes von Fachwerkhäusern, die Bedeutung der Anordnung und Ausrichtung von Fenstern und Giebeln und die Komposition einzelner Häuser zu "Ensembles".

Im Auto suchte ich nach meiner Cocker-CD und schob sie in den CD-Spieler. Ich versuchte, das Lied zu finden, das ich vorhin im Café gehört hatte, aber mir fiel der Titel nicht mehr ein. Stattdessen orakelte Joe dann "There's a storm coming" und später "Can't find my way home".
Trotzdem verlief die Fahrt schnell und ereignislos, ich mußte lediglich aufpassen, Aarons altem VW-Käfer nicht zu nahe zu kommen, denn der hatte einige Probleme bei der Beschleunigung. In Hornburg waren inzwischen auch Fußgänger erlaubt, aber wir kümmerten uns nicht um sie, sondern gingen sofort in Aarons Wohnung. Er verschwand dann gleich in der Küche.
Mein Freund konnte seine Aufmerksamkeit sehr schnell von einem Gebiet auf das nächste richten. Genau wie er in den Straßen Wolfenbüttels wieder auf sein Arbeitsgebiet umgeschwenkt war, konzentrierte er sich jetzt voll darauf, unser Essen zuzubereiten. Mit demselben Eifer, mit dem er mir von seiner Stadt-Semiotik erzählt hatte, schnippelte er nun an dem Gemüse herum, und ich glaube nicht, daß er sich dabei durch Gedanken an Günter Eich oder unseren Zettelschreiber stören ließ.
Ich hingegen war noch so tief in meinen Gedanken gewesen, daß ich erst jetzt allmählich meine neue Umgebung bewußt wahrnahm.
Aarons Einrichtung war außerordentlich bunt zusammengewürfelt. Bei den Möbeln stritt sich Gelsenkirchener Barock mit elchartiger Sachlichkeit, und von den Wänden schrien Gemälde herab, die offensichtlich jemand auf einem Trödelmarkt eingesammelt hatte.
Anscheinend hatte Aaron die Wohnung möbliert gemietet und nur einige wenige Einrichtungsgegenstände selbst hinzugefügt. So mußte das große Mandella, das aus einer Ecke heraus den Raum beherrschte, von ihm stammen, genauso wie die Schamanenmaske und das Poster von John Wayne. Auch der CD-Spieler mit einer ganz ansehnlichen Musiksammlung war wohl seiner. Und siehe da! Auch hier war Joe Cocker vertreten. Ich nahm die CD aus dem Regal und ließ diesmal den CD-Spieler selbst über die Auswahl entscheiden.

Out of the rain
Under the shelter
I've been so long where
The sun don't shine
Standing at the crossroad
Could have went either way
And now I found you
And the storm is behind

Natürlich gehörten die Bücher, die überall verstreut herumstanden und -lagen, alle Aaron. Ich sah von meinem Platz aus einige Kriminalromane, eine Beatles-Biographie, einige Informatik-Lehrbücher und Reiseführer. Außerdem eine Gruppe von Büchern, die wohl mit seinem neuesten Hobby zu tun hatte: verschiedene Einführungen in die Semiotik und Nachbarwissenschaften. Die Titel sagten mir alle nichts, einige der Autorennamen hatte ich aber schon mal gehört: Peirce, Morris, Cherry, Klaus, Koch und auch ein Buch von Umberto Eco. Das zog ich hervor, aber es war kein bekannter Roman, sondern ein wissenschaftliches Buch mit italienischem Titel: Opera aperta.
Aaron kam aus der Küche, um mir ein Bier zu bringen. Ohne Jacke und Krawatte sah er wieder ein wenig wie früher aus. Nur an seine kurzen Haare mußte ich mich erst noch gewöhnen. Er lächelte, weil ich wohl ein bißchen hilflos dreingeschaut haben mußte, und sagte:

"Ein sehr interessantes Buch, du solltest dir mal das Kapitel über Architektur ansehen."

Gehorsam blätterte ich weiter, und als mein Freund schon wieder in der Küche klapperte, betrachtete ich die Zeichnungen in dem Kapitel. Von dem Text konnte ich nicht viel verstehen, aber soviel war mir klar: Hier gab es irgendwo auf der Welt noch einen Urban-Semiotiker!
Ich hätte Aaron jetzt doch gern einige Fragen zu diesem Thema gestellt, aber beim Essen später war er schon wieder zu den aktuellen Ereignissen zurückgekehrt.

"Ich hab dir ja schon von meiner offiziellen Arbeit erzählt, und daß es auch eine Reihe von Wolfenbütteler Bürgern gibt, die Geld in dieses Projekt stecken."

Ich nickte und legte Eco beiseite.

"Also, ein Mann fällt da besonders heraus, weil er mehr Geld zur Verfügung stellt als alle anderen Privatleute zusammen. Er heißt Johann Gottlieb Burckhardt und wohnt eigentlich nicht mal direkt in Wolfenbüttel, sondern ein ganzes Stück außerhalb. Ich hab mich von Anfang an gefragt, was der wohl für ein Interesse hat. Er besteht nun natürlich darauf, daß ich mich auch um sein Haus kümmere, aber bis jetzt hab ich das noch vor mir hergeschoben. Merkwürdig ist auch, daß er anscheinend noch jemand anderen mit Nachforschungen beauftragt hat. Jedenfalls ist ein Herr Nicolai auch in den Archiven der Stadt für ihn unterwegs und versucht, etwas Bestimmtes herauszufinden."

"Woher weißt du denn das?"

"Weil ich ihn dauernd bei meiner Arbeit treffe und er schon ein paar mal probiert hat, mir Vorschriften zu machen. Immer mit Verweis auf die Finanzierung durch Burckhardt natürlich. Er ist nicht nur unheimlich neugierig auf meine Arbeitsergebnisse, er versucht auch immer wieder, meine Arbeit in eine bestimmte Richtung zu lenken: auf einige Häuser und deren Bewohner im 18. Jahrhundert. Er tut dabei so, als ob er den wenigen Wolfenbütteler Kontakten von Lessing auf der Spur wäre und spielt sich als Experte auf.
Ich hab deshalb schon daran gedacht, dich um Rat zu fragen, weil du dich doch in dieser Zeit und mit Lessing besonders gut auskennst. Ich dachte, vielleicht könntest du deshalb eher als ich dahinterkommen, was Burckhardt und Nicolai eigentlich suchen."

"Und deshalb hast du mir dann geschrieben?"

"Nein, da noch nicht, aber ich hab schon mal damit gedroht. Einmal ist er mir nämlich so auf die Nerven gegangen mit seinem Getue, daß ich gesagt hab, ich würde selbst einen Fachmann für dieses Gebiet hinzuziehen. Er war gleich sehr beeindruckt und interessiert, dummerweise hab ich ihm dann auch noch deinen Namen genannt, und er schien schon von dir gehört zu haben und war sehr neugierig."

"In deinem Brief hast du eine Andeutung auf das Weghaus gemacht, und das Lesezeichen lag auch an einer Stelle, in der es darum ging."

"Ja, das ist eines dieser Häuser, das Nicolai immer in den Vordergrund schiebt. Angeblich soll es für die Lessing-Forschung von eminenter Bedeutung sein, dieses Haus aufzufinden. Ich hab aber noch nie davon gehört."

"Doch, das stimmt schon, das Weghaus war ein Gasthaus, in dem sich Lessing oft mit seinen Freunden aus Braunschweig getroffen hat. Soviel ich weiß, ist nicht mehr genau bekannt, wo es einmal gelegen hat. Es wäre schon interessant, das herauszufinden."

"Dann hat Nicolai damit also recht gehabt, sieh mal an."

"Und dieser Nicolai hat dann auch bei dir eingebrochen, meinst du?"

"Das war erst nur so eine Idee, weil der Einbrecher ja anscheinend auch an meiner Arbeit interessiert war, genau wie Nicolai. Nach dem Einbruch hab ich dir dann geschrieben, aber da dachte ich noch, daß sich auch jemand anders so sehr für meine Arbeit interessiert. Ich konnte mir das überhaupt nicht erklären und hab gehofft, du könntest mir helfen herauszufinden, was das alles soll. Erst danach kam mir dann der Gedanke, daß der Einbrecher und Nicolai vielleicht zusammenhängen könnten. Ich hab deshalb Theo Schneider, der wegen des Einbruchs ermittelt hat, von meinem vagen Verdacht erzählt."

"Du meinst diesen Miami-Vice-Fan? Kann man den denn ernstnehmen?"

Ich erzählte von meiner Begegnung mit der Wolfenbütteler Ordnungsmacht. Aaron lächelte kurz und sagte dann:

"Ich weiß, er wirkt auf den ersten Blick ein bißchen schrill, aber als Kriminalist ist er ganz schön fähig, und auch sonst ein ganz netter Mensch, wenn man ihn näher kennt. Na, jedenfalls hat er dann auch vorsichtig Erkundigungen eingezogen und dabei ganz Erstaunliches herausgefunden:
Dieser Nicolai ist nämlich kein unbeschriebenes Blatt. Er ist schon in einige Kriminalfälle verwickelt gewesen. In einem ist eine alleinstehende Witwe unter nicht geklärten Umständen in den Selbstmord getrieben worden, ein andermal war ein Angestellter eines Auktionshauses plötzlich unauffindbar, und beide Male sind wertvolle Manuskripte verschwunden. Bei einem dritten Fall ist jemand für einen Diebstahl zwar verurteilt worden, aber die Handschriften, um die es da ging, sind nie wieder aufgetaucht, und der Angeklagte hat auch noch nach dem Urteil immer wieder seine Unschuld beteuert. Immer war Nicolai auf die eine oder andere Weise in das Geschehen verstrickt. Theo sagt, die Kollegen hätten ihn jeweils in Verdacht gehabt, aber sie konnten ihm nichts nachweisen.
Jedenfalls scheint dieser Mann eine ziemlich böse Socke zu sein. Er ist wirklich Experte, aber für seltene und teure Manuskripte, die immer, wenn er auftaucht, verschwinden und nie wieder gesehen werden. Theo meint, dem ist alles zuzutrauen, und er hat mich nachdrücklich vor ihm gewarnt. Außerdem versucht er, ein Auge auf seine Aktivitäten zu haben. Allerdings wissen wir beide nicht, was es in dieser Hinsicht hier zu erbeuten gibt.
Ich hab natürlich einen ziemlichen Schrecken gekriegt, als ich das alles erfahren hab, weil ich dir da doch schon geschrieben hatte."

"Und du meinst jetzt, Nicolai ist nicht nur für den Einbruch, sondern auch für meinen Unfall verantwortlich?"

"Das könnte schon sein, jedenfalls hab ich gestern noch gehört, daß er sich in der Akademie nach dir erkundigt haben soll. Er wollte versuchen, deine Adresse herauszubekommen. Deshalb hatte ich ziemliche Angst, er könnte sich jetzt auch um dich kümmern. Und als du dann von dem freundlichen Fremden erzählt hast, läuteten bei mir sofort die Alarmglocken. Ich glaub bestimmt, der hatte etwas mit deinem Unfall zu tun."

"Wie soll er denn das gemacht haben? Er war doch im Wagen hinter mir, als der Lkw mich behindert hat."

"Weiß ich auch nicht, vielleicht steckte ja der Lkw-Fahrer mit ihm unter einer Decke, oder er hat ihn von hinten irgendwie abgelenkt. Jedenfalls war es doch kein Zufall, daß dieser Samariter gleich zur Stelle war, und sein seltsames Benehmen in Peine ist doch wohl auch sehr verdächtig.
Na, zum Glück ist dir ja nichts passiert. Und jetzt bist du nicht mehr alleine, und ich kann auf dich aufpassen. Übrigens, sag mal, wo wohnst du eigentlich, willst du hier bei mir mit unterkriechen?"

"Nein, nicht nötig. Ich hab schon eine Wohnung. Zufälligerweise gab es etwas genau hier gegenüber. Du kannst meine Wohnung sehen, wenn du aus dem Fenster guckst."

"Na Gott sei Dank! Ich bin ja hier ein bißchen abgelegen, und ich dachte schon, daß du sehr weit entfernt wohnen könntest. So ist das natürlich optimal. Wenn jetzt wirklich mal was sein sollte, können wir uns sehr schnell gegenseitig helfen. Tatsächlich sollen hier ja auch schon verdächtige Gestalten rumgeschlichen sein."

"Ja, ich weiß, Frau Topp hat mir davon erzählt, meine Vermieterin. Weiß man denn inzwischen etwas Genaueres darüber?"

"Nein, gar nichts. Ist ja auch weiter nichts passiert. Aber seltsam ist es schon. Ich bin jedenfalls ganz froh, daß du jetzt in der Nähe bist. Was für ein unglaublicher Zufall, daß du ausgerechnet hier gelandet bist!"

"Ganz so groß ist der Zufall dann doch nicht. Ich wußte ja, wo du wohnst."

Ich zeigte ihm den Zettel mit seiner eigenen Adresse, den ich von Herrn Schneider bekommen hatte. Dabei fiel mir wieder ein, daß der mir ja einen Auftrag mitgegeben hatte, und ich sagte:

"Ich hab ganz vergessen, dir zu sagen, daß du Theo anrufen solltest, am besten noch vor 18 Uhr. Das wird jetzt wohl nicht mehr gehen."

Mit einem Blick auf die Uhr sagte Aaron:

"Das macht nichts, ich weiß, wo er heute zu Abend ißt. Ich kann ihn da anrufen. Dann kann ich ihm auch gleich von deinem Abenteuer erzählen."

Er ging zum Telefon, und ich konnte erst einmal in Ruhe über alles nachdenken, was ich eben erfahren hatte.
Sicher, es klang ziemlich verdächtig, was Herr Schneider über Nicolai herausgefunden haben wollte, und auch sein Verhalten hier erschien ja ein wenig sonderbar, aber irgendwie konnte ich mir nicht recht vorstellen, daß der freundliche Mann, der mir geholfen hatte, mit diesen Machenschaften zu tun haben sollte. Und ich wollte auch nicht glauben, daß er verantwortlich für meinen Beinahe-Unfall gewesen sein sollte. Andererseits hatte er wahrscheinlich die Gelegenheit gehabt, an mein Handschuhfach zu kommen. Und Aarons Zettel war meinem so ähnlich, daß das kein Zufall sein konnte. Also mußte derselbe Mann in Aarons Büro gewesen sein und in meinem Auto. Aber war das mein hilfreicher Samariter?
Und was wollte Nicolai eigentlich von Aaron? Und wie kam ich da ins Spiel? Was konnte ich wissen? Oder herausfinden?
Wenn Nicolai und mein Samariter zusammengehörten, und der Unfall wirklich irgendwie arrangiert worden war, sollte vielleicht verhindert werden, daß ich hierher kam. Aber warum?
Aaron kam vom Telefonieren zurück und ging gleich weiter in den Flur. Mit der Zeitung in der Hand kam er dann wieder herein. Er blätterte darin, schlug sie im Braunschweiger Lokalteil auf und legte sie vor mir auf den Tisch.

"Was sagst du jetzt? Hier berichtet ein gewisser Herr Wagner von der jährlichen Feier zum Gründungstag des Collegium Carolinums. Dabei ist ein Herr Eschenburg durch eine besonders großzügige Spende aufgefallen."

"Das könnte vielleicht ein Nachkomme von Johann Joachim Eschenburg sein, der war zu Lessings Zeit Lehrer am Carolinum und außerdem mit Lessing befreundet."

"Nein, das kann er nicht sein!"

"Wieso denn nicht?"

"Weil dieser angebliche Eschenburg in Wirklichkeit unser Nicolai ist. Jetzt kann Theo ihn vielleicht wegen Betrugs drankriegen."

"Woher weißt du denn das schon wieder?"

"Weil hier in der Zeitung ein Foto ist, schau her! Das ist er!"

Er deutete auf eine ziemlich große Abbildung einer Gruppe von Honoratioren. Sein Finger zeigte auf eine Gestalt im Vordergrund. Ich sah genauer hin und erkannte: meinen freundlichen Helfer von der Autobahn!




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