Das Walroß bist Du
Ein Kriminalroman von Helmut König


Kapitel 9





Kapitel 9: Into The Great Wide Open



"Stulpenstiefel", dachte ich im Aufwachen.
Verwundert über diesen seltsamen Gedanken, musterte ich aus erst halb geöffneten Augen mein Zimmer. Vom Fenster her blinzelte mir das erste Licht des Tages entgegen.
"Gelbe Stulpenstiefel!"
Ich wußte nichts damit anzufangen und schloß die Augen wieder. Die unvermeidliche Morgenamsel trällerte ihr Lied. Sie saß in einem Strauch neben der Gartenlaube. Oder war es doch eine Nachtigall? Ringsherum lag noch die Dunkelheit der Nacht auf den Bäumen. Um die Tür der Laube rankte wilder Wein. Er ließ den schmalen Zugang fast in seinem Schatten verschwinden.
Ich stand zwar draußen, konnte aber trotzdem durch die Wand ins Innere der Laube sehen.
Sie war eingerichtet wie eine altertümliche Studierstube. Ein Schreibtisch mit einem Lehnstuhl davor nahm den meisten Platz ein. Er war vollgepackt mit Büchern und Aufsätzen. Ein Manuskript in der Mitte schien auf die letzte Bearbeitung zu warten. Es hatte den Titel "Von der Freyheit". Rechts daneben stand ein halbgefülltes Glas Wein. Unter den Tisch waren zahlreiche zerrissene Briefe achtlos hingeworfen.
Auf einem Pult am Fenster lag aufgeschlagen Lessings Emilia Galotti, daneben eine alte Duellpistole.
Es war niemand in dem Zimmer. Dennoch hörte ich eine Stimme aus dem Hintergrund deklamieren:

      ... voller Mondenschein,
      Zum letztenmal auf meine Pein
      Den ich so manche Mitternacht
      An diesem Pult herangewacht:
      Dann über Büchern und Papier,
      Trübsel'ger Freund, erschienst du mir!
      Ach! könnt' ich doch auf Bergeshöhn
      In deinem lieben ...

Ich sah die Szene in allen Einzelheiten ganz genau vor mir. Nein, ich war selbst in diesem Haus. Gleichzeitig wußte ich aber, daß ich träumte, und daß nichts wirklich war.
Doch ging das? Konnte man träumen und zur selben Zeit davon wissen?
Ich wollte die Augen wieder öffnen, um mich aus diesem sonderbaren Zustand zu befreien. Es gelang mir nicht, jedoch in dem Bemühen verschwanden die Bilder aus meinem Kopf.
Allerdings nur, um kurze Zeit später durch andere ersetzt zu werden. Jetzt lief ich durch ein kleines Wäldchen. Auf der rechten Seite konnte ich in einiger Entfernung die Umrisse eines größeren Hauses ausmachen. Das kam mir bekannt vor, aber es lag nicht auf meinem Weg.
Ich mußte weiter, und ich mußte mich beeilen. Sonst würde ich zu spät kommen. Eine tief sitzende Angst trieb mich vorwärts. Ich hastete durch das Gehölz, sprang über Gräben, zwängte mich durch Sträucher. Dann lief ich über eine Wiese, lief wie um mein Leben.
Schließlich sah ich das Gartenhaus. Ich stürmte heran, zog an der Tür, und mit einem Ruck und einem großen Knall ging sie auf. Geruch von Pulver lag in der Luft.
Und da waren sie: gelbe Stulpenstiefel. Ein Mann hatte sie an den Füßen, der zusammengesunken in dem Lehnstuhl saß. Er trug eine Weste in derselben Farbe wie die Stiefel, darüber eine blaue Jacke. Seine rechte Hand lag auf der Armlehne und hielt noch schlaff die Pistole. Auf dem Schreibtisch rann das Blut. Es sickerte in bizarren Mustern durch die Papiere und suchte seinen Weg auf den Fußboden, wo es sich in einer schnell wachsenden Lache sammelte.
Ich hatte versagt!
Ich wollte verzweifeln, da bewegte sich die Gestalt. Sie hob den Kopf und wandte sich mir zu. Das Gesicht war fürchterlich verzerrt. Die Kugel war durch das rechte Auge in den Kopf gedrungen, das andere Auge sah mich mit starrem Blick an.
Trotz dieser Entstellungen erkannte ich das Gesicht! Es war Herr Nicolai!

Der Schrecken öffnete mir ruckartig die Augen. Ich war in meinem Zimmer in Hornburg, vom Fenster kamen die ersten Sonnenstrahlen herein, und eine Amsel sang.
Was war das gewesen? Es kam mir nicht wie ein Traum vor, mehr wie eine Erinnerung an längst Vergangenes. Mich überkam ein Gefühl wie bei einem déjavu. Ich wußte genau: Das hast du schon mal gesehen oder erlebt. Ich versuchte, die Erinnerung festzuhalten und sie zeitlich oder räumlich einzugrenzen. Da wurde mir schlagartig klar, daß das nicht ging: Ich war nie in einer solchen Laube gewesen, hatte nie einen Selbstmörder gesehen, ja, noch nicht einmal einen anderen Toten! Es konnte also gar keine Erinnerung sein!
Diese Erkenntnis durchzuckte mich mit einer heillosen Angst. Gleichzeitig verschwand das Lebhafte des Eindrucks, die Bilder verschwammen, entzogen sich in den Hintergrund und wurden unwirklich.
Also doch nur ein Traum?
Ich versuchte, ihn zurückzuholen, aber ich fand keinen Zugang mehr zu den Bildern. Einige Details waren mir noch gegenwärtig, aber die lebendige Erinnerung kam nicht zurück.
Ich wußte, daß ich sogar Gerüche wahrgenommen hatte. Alles war so real gewesen. Ich hatte die ganze Szene gefühlt, wie eine Rückbesinnung an die frühe Kindheit, die manchmal schemenhaft in unser Bewußtsein kriecht. Das Gefühl war genau dasselbe, nur anstatt undeutlicher Schemen hatte ich das ganze Bild gesehen. Alles hatte gestimmt - nur, daß es eben nicht stimmen konnte. Ich konnte eine solche Erinnerung nicht haben, weil ich nie etwas Ähnliches gesehen oder erlebt hatte.
Nur langsam kehrte wieder Ruhe in meinem Kopf ein. Ich steckte mir eine Zigarette an und beschloß, dieses Erlebnis endgültig zu einem Traum zu erklären. Etwas anderes konnte es ja schließlich auch nicht gewesen sein.
Im Nachhinein kam mir die Szenerie in der Gartenlaube vor wie ein Bild aus Lessings Zeit. Daß mir solche Bilder im Kopf herumspukten, war ja nicht weiter verwunderlich. Gewissermaßen bewegte ich mich doch immer, wenn ich in Wolfenbüttel war, mit einem Bein im 18. Jahrhundert.
Nur irgendetwas störte das Bild, paßte nicht recht hinein. Es erinnerte mich an Faust! Aber Faust gehörte doch nicht ins 18. Jahrhundert! Je mehr ich über diesen Widerspruch nachdachte, desto stärker machte sich ein quälendes Unbehagen breit.
Ich sah aus dem Fenster. Es war noch immer nicht ganz hell. Die Häuser der Wasserstraße wirkten in der Tagesdämmerung altertümlicher als sonst. Doch sie vermittelten längst nicht dieselbe Atmosphäre, die von Wolfenbüttel ausging. Trotz ihres Alters holten sie mich endgültig in die Gegenwart zurück. Ich schob die Tom-Petty-Kassette in meinen Recorder.

Well the good ol' days may not return
And the rocks might melt & the sea may burn

I'm learning to fly, but I ain't got wings
Coming down is the hardest thing

Die Kirchturmuhr schlug. Es blieb mir noch reichlich Zeit, in Ruhe zu frühstücken, bevor ich los mußte. Heute sollte mein Auto in die Werkstatt kommen.



Nachdem ich das erledigt hatte, fand ich mich auf der Landstraße zwischen Halchter und Wolfenbüttel wieder. Sie verlief in beiden Richtungen geradeaus, so weit das Auge reichte, und trotzdem war ein einsamer Bauer auf einem Feld rechts von der Straße die einzige lebende Seele weit und breit. Die Bushaltestelle bestand aus einem einfachen Schild an einem Laternenmast, das man leicht hätte übersehen können. Eine trostlose Szene. Der Fahrplan der Linie 53 besserte diese trübe Stimmung auch nicht gerade. Der Bus war nicht so bald zu erwarten.
Ich setzte mich an den Straßenrand und drehte mir ein paar Zigaretten. Aus meinem Walkman heraus kommentierte Tom die Situation:

Under a big ol' sky
Out in a field of green
There's gotta be something left for us to believe

Oh, I await the day
Good fortune comes our way
And we ride down the Kings Highway

Die Reparatur an meinem Auto würde bis zum Nachmittag dauern. Solange wollte ich in der Bibliothek arbeiten. Bei meinem letzten Besuch dort hatte ich ja schon Hinweise auf Lessings Faust-Version gefunden. Ich mußte jetzt versuchen, noch andere Belege zu entdecken. Ich wollte unbedingt herausfinden, ob es das vollständige Manuskript je gegeben hatte und wo es geblieben war. Wenn es mir gelingen sollte, diese Aufgabe zu lösen, wäre das eine literaturwissenschaftliche Sensation!
Die Faust-Sage war in unserer kulturellen Geschichte eine feste Größe. Aber alles, was aus ihr bekannt war, wurde eigentlich durch Goethes Bearbeitung geprägt. Ich war mir sicher, daß Lessing bestimmt einen ganz anderen Faust geschrieben hatte.
Wenn er ihn geschrieben hatte!
Ich war so beschäftigt damit, mir alle Konsequenzen einer solchen Entdeckung auszumalen, daß ich beinahe den Bus übersehen hätte, als er dann doch endlich kam.

Auf der Fahrt grübelte ich weiter.
Es könnte gut sein, daß Nicolai auch hinter Lessings Faust-Manuskript her war. Dazu paßte sein Interesse für das Weghaus, auch seine seltsame Einstellung zu mir. Ich müßte ihm da als Bedrohung für seine Pläne erscheinen. Aber wie fügte sich der Alchimist Therocyklus in dieses Bild?
Mit Lessing hatte der ja überhaupt nichts zu tun. Obwohl: Wenn es stimmte, was Aaron berichtet hatte, dann war er auch jemand gewesen, der auf der Suche nach Erkenntnis neue Wege beschritten hatte. Ein Wissensdurstiger wie Lessing, wie Faust. Es gab da schon Übereinstimmungen. Der historische Doktor Faust war vielleicht auch ein Alchimist wie Therocyklus, und ihre Lebensgeschichten wiesen auch einige andere Parallelen auf.
Wie, um meine Überlegungen zu unterstützen, fuhr der Bus jetzt in der Nähe des Stadtgrabens vorbei. Hier hatte Nicolai an dem Sömmering-Grab gestanden, sicher kein Zufall. Das mußte auch noch genauer untersucht werden. Dieser Sömmering könnte schließlich ein Nachkomme von Therocyklus gewesen sein.
Der Bus machte einen Schwenk nach links, weg vom alten Bürgerfriedhof und fuhr auf den Kornmarkt.
Dort stieg ich aus und war wieder in Lessings Welt. Langsam schlenderte ich die Straße entlang und bog in den Stadtmarkt ein. Ich betrachtete die Häuser ringsherum, die fast alle vollständig erhalten waren. Hier war Lessing sicher auch oft gegangen und hatte dieselben Fassaden gesehen, möglicherweise sogar in einigen dieser Häuser verkehrt.
Vielleicht bildete ich mir das ja ein, aber immer, wenn ich mich in Bereichen der Stadt bewegte, die wahrscheinlich seit dem 18. Jahrhundert unverändert waren, hatte ich das Gefühl, die Häuser und Plätze könnten die Erinnerung an die vergangene Zeit gespeichert haben. Ich glaubte dann, etwas von dem wahrzunehmen, was auch Lessing hier gefühlt haben mußte. Auf dem Stadtmarkt war dieser Eindruck besonders stark. Deshalb war ich immer wieder gerne hier.
Auch heute konnte ich den Platz nicht einfach auf meinem Weg zur Bibliothek überqueren. Ich blieb stehen und atmete die Vergangenheit ein.
Warum hetzen? Ich hatte Zeit! Also suchte ich mir einen Tisch vor dem Café und setzte mich. Ich überlegte, welche Bücher ich in der Bibliothek zu Rate ziehen sollte. Vielleicht ganz sinnvoll, mein Vorgehen erstmal zu planen. Aber das war in Wirklichkeit nur ein Vorwand, eigentlich wollte ich nur hier sitzen und die Gefühle spüren, die diese Umgebung in mir auslöste. Ich weiß nicht, wie lange ich da gesessen hatte. Mehrere Kaffeetassen türmten sich schon auf meinem Tisch, und reichlich Tabakkrümel hatten den Platz dazwischen gefüllt. Ich war jedenfalls weit weg, als jemand an meinen Stuhl stieß. Verwundert sah ich hoch und erkannte Theo Schneider!
Er hatte mich ganz offensichtlich nicht gesehen. Seine Aufmerksamkeit war auf eine andere Richtung konzentriert, in die er sich jetzt auch in Bewegung setzte. Ich folgte seinem Blick und sah: Herrn Nicolai!
Anscheinend wurde er von Theo Schneider verfolgt. Gute alte Polizeiarbeit. Irgendwie beruhigte mich der Gedanke, daß die Polizei diesen undurchsichtigen Burschen im Auge behielt. Dann konnte ich mich ja beruhigt meiner Forschungsarbeit widmen.
Ich zahlte und brach auf, jetzt wirklich in Gedanken schon bei meiner Arbeit.



Als ich am Lessinghaus vorbei auf die Bibliothek zu ging, fiel mir wieder einmal auf, wie häßlich dieser klobige Steinbau eigentlich war. Und ich wünschte mir, die alte (ich dachte immer 'echte') Bibliothek wäre stattdessen erhalten geblieben. Leider ein müßiger Wunsch, für den die beiden steinernen Löwen am Eingang auch kein Verständnis hatten. Ich wollte gerade zwischen ihnen die Treppe hochsteigen, als mir schon wieder eine vertraute Gestalt entgegenkam, es war Aaron.

"Sag bloß nicht, du kommst mich zum Mittagessen einladen", rief er mir entgegen.

"Weniger leibliche Genüsse, und mehr geistige Nahrung!" erwiderte ich tadelnd.

"Du hast leicht reden. Du sitzt ja auch nicht seit vier Stunden in dieser trockenen Luft hier herum."

"Stimmt! Aber ich bin schon ganz heiß darauf, endlich mit der Arbeit anzufangen. Willst du jetzt in die Stadt?"

"Ja, mal sehen, ob ich irgendwo einen Happen zu essen finde."

"Aber paß auf, wenn du deinen Freund zufällig triffst. Nicht ansprechen! Er ist nämlich im Einsatz."

"Theo? Du meinst Theo? Wieso, was treibt er denn?"

"Verfolgt Georg Nicolai."

Aaron versuchte, erstaunt zu gucken und gleichzeitig zu pfeifen. Weil ihm das nicht gelingen wollte, sagte er stattdessen:

"Oh, sieh mal an! Nimmt die Polizei unseren Verdacht jetzt also doch ernst. Na, hoffentlich nützt das was, Nicolai zu verfolgen. Und hoffentlich entdeckt er Theo nicht."

"Glaub ich nicht. Es sieht aus, als ob dein Freund seinen Job ganz gut versteht."

"Sag doch nicht immer 'dein Freund' mit diesem komischen Unterton! Du machst mich noch ganz verrückt. Du weißt genau, daß ich -"

"Ja, ja, schon klar! Tut mir leid. Aber der Gedanke ist halt zu reizvoll: Theo Schneider und Aaron T. Schmitt - das Traumpaar der herzoglichen Residenz!"

Damit Aaron nicht doch noch wirklich böse werden konnte, setzte ich jetzt schnell eine ernste Miene auf und lenkte das Gespräch dann zurück auf Nicolai. Zum Glück ging er darauf ein. Verärgern wollte ich ihn ja nun doch nicht. Er sagte:

"Was ich komisch finde, ist, daß Nicolai überhaupt noch hier ist. Wenn er Burckhardt ermordet hat, sollte man meinen, er macht sich möglichst schnell vom Acker."

"Eben nicht, wenn er schlau ist. Gerade das würde ihn ja verdächtig machen.
Aber ehrlich gesagt, das interessiert mich gar nicht so besonders, ob er jetzt Burckhardt ermordet hat oder nicht."

"Nein?"

"Nein! Viel spannender ist doch dieses Manuskript, hinter dem er vielleicht her ist. Da könnte sein Hierbleiben ja bedeuten, daß er es eben noch nicht gefunden hat. Dann haben wir noch eine Chance."

"Du redest schon so, als ob ganz sicher ist, daß es dieses Teil überhaupt gibt."

"Hast du recht! Aber gerade an der Frage wollte ich ja jetzt ein bißchen weiterkommen. Willst du mir nicht helfen?"

"No way! Ich muß mich krummlegen im Interesse des Stadtmarketings. Hab ich nachher schon reichlich zu tun. Aber wir sehen uns dann ja bestimmt noch."

Er tätschelte einem der Löwen zum Abschied die Mähne und ging die Treppe hinunter. Dann zögerte er kurz, blieb stehen und sah mich fragend an.
Erst da merkte ich, daß ich noch etwas loswerden mußte. Ich hatte es den ganzen Vormittag verdrängt, aber durch unser Gespräch über Nicolai und den Mord war jetzt die Erinnerung an meinen morgendlichen Traum zurückgekommen. Also erzählte ich.
Aaron hörte mir aufmerksam zu. Zwischendurch lächelte er mehrfach, aber ohne mich zu unterbrechen. Doch als ich fertig war, platzte es aus ihm heraus:

"Du bist vielleicht gut! Erzählst mir hier einen, von wegen 'der Mord interessiert mich nicht so besonders'! Und dann kommst du mit so einem Traum um die Ecke!"

"Wieso, siehst du denn da einen Zusammenhang?"

"Na, zumindest ist der Zusammenhang ja wohl, daß du von Mord träumst. Oder passiert dir das etwa öfter?"

"Eigentlich nicht."

"Na also. Außerdem muß bei dir unser Hauptverdächtiger dran glauben. Vielleicht dein Wunschdenken, weil du ihn für verantwortlich hältst. Oder du willst gerne den Konkurrenten bei deiner Manuskript-Suche loswerden."

"Jetzt aber mal langsam!"

"Nein, nein, da ist schon was dran. Und weil das Ganze nicht zu offensichtlich sein soll, mußt du es noch literarisch verbrämen."

"Wieso literarisch?"

"Na, sag bloß, du hast das nicht gecheckt? Die ganze Umgebung, die Einzelheiten, das ist doch der Werther-Selbstmord, den du geträumt hast, nur mit Nicolai als Opfer."

Er hatte recht. Jetzt fiel es mir auch auf. Fast alle Details stimmten mit der Szene überein, wie sie im Werther beschrieben wird. Ich muß wohl ziemlich verblüfft geguckt haben, denn Aaron lachte jetzt laut los. Ich war allerdings mit seiner Interpretation nicht ganz einverstanden, doch bevor ich noch etwas dazu sagen konnte, war er die letzten Stufen hinuntergesprungen. Er winkte mir noch einmal zu, rief etwas von "abends weiterreden" und ließ mich mit der Herzog-August-Bibliothek und meinen Gedanken alleine. Und er hatte schon wieder recht, das hatte Zeit bis abends. Jetzt wartete die Bibliothek auf mich. Voller Tatendrang ging ich hinein.



Am Samstag hatte ich nur sehr schnell und oberflächlich nach Hinweisen auf irgendeine unbekannte Schrift Lessings gesucht, die in einer Verbindung zu seiner Wolfenbütteler Zeit stand. Die Idee, es könnte sich dabei um eine Version des Faust handeln, hatte mich schnell begeistert, so daß ich mich mit einigen Zitaten, die in diese Richtung deuteten, zufrieden gegeben hatte.
Heute wollte ich sorgfältiger und systematisch vorgehen. Auch wenn es lange dauern sollte. Immerhin waren schon die Annahmen, Nicolai sei einem alten Manuskript auf der Spur, und das könnte ein Lessingtext sein, bloße Vermutungen.
Allerdings wurde die erste Vermutung durch Nicolais kriminelle Vergangenheit gestützt, die zweite durch die Tatsache, daß er in Wolfenbüttel suchte und sich dabei für das 18. Jahrhundert interessierte. Trotzdem waren beide Vermutungen ja ungesichert. Und jetzt auf diese doppelte Unsicherheit noch eine dritte zu setzen, nämlich, daß dieser Text Lessings Faust sein könnte, war schon ganz schön gewagt.
Andererseits hatte gestern die bloße Erwähnung des Namens "Faust" Nicolai erheblich aus dem Konzept gebracht, und auch sein Interesse für Therocyklus, der so viele Gemeinsamkeiten mit Faust hatte, deutete darauf hin, daß mein 'Schuß ins Blaue' vielleicht nicht so weit vom Ziel entfernt getroffen hatte.
Dennoch waren jetzt weniger Spekulationen und mehr Informationen gefragt. Eine Aufgabe also für den Wissenschaftler in mir.
Das Zitat von Müller, das ich gefunden hatte, stellte Lessings Faust in einen Zusammenhang mit Goethe. Also galt es jetzt erst einmal, das Verhältnis von Goethe und Lessing etwas genauer zu untersuchen, und zwar für die Zeit vor der Werther-Veröffentlichung.
Ich ließ mir zunächst einige der Bücher kommen, die ich auch Samstag schon benutzt hatte, und begann, gezielt nach Hinweisen zu suchen, die dieses Verhältnis beschrieben.
Schon bald zeichnete sich ein Bild ab:
Es war verblüffend. Diese beiden großen Dichter hatten zur selben Zeit gelebt, aber - soweit man weiß - keinerlei Kontakt zueinander gehabt. Sie waren beide viel gereist, hatten Verbindungen zu Menschen in ganz Deutschland, korrespondierten auch reichlich - aber eben nicht miteinander. Besonders bei Goethe machte es den Anschein, als ob er dem Älteren buchstäblich aus dem Weg gegangen wäre.
Auf Lessings Seite ist ziemlich klar, worin die Vorbehalte bestanden:
So paßte es ihm z.B. nicht, wie Goethe sich gegen verdienstvolle ältere Zeitgenossen benahm. Besonders Goethes Angriff auf Wieland ärgerte ihn sehr. Davon berichtet Chr. Friedr. Nicolai:

aber der durch nichts veranlaßte Ausfall auf Wieland [...] indignirte ihn so, daß er im Begriffe war, die eignen Werke des jungen Mannes ganz genau zu beleuchten, der sich unterstand, auf einen Mann wie Wieland, ohne weitere Ursache als Laune und Dünkel, wie auf einen mittelmäßigen Kopf herabzusehen.

Ich mußte den Text noch einmal lesen, um ihn richtig aufzunehmen, weil meine Aufmerksamkeit durch den Namen des Schreibers abgelenkt wurde. Sicher war mir schon längst aufgefallen, daß Herr Nicolai einen Namen trug, der auch in Lessings Lebensgeschichte eine Rolle gespielt hatte. Aber dieser Zufall wurde jetzt ganz schön frappierend, weil ich ja eigentlich auf der Spur des einen Nicolai den anderen benutzte, um die Zusammenhänge zu verstehen. Schon irgendwie sonderbar. Aber zurück zu Lessing!
Einen Mann wie ihn, der immer bemüht war, auch Menschen anderer Meinung "auf ihrem eigenen Weg" zur Wahrheit zu führen, mußte es geradezu vor den Kopf stoßen, wie hier jemand, der selbst noch ohne jedes Verdienst war, öffentlich auf andere herabsah. Er hatte deshalb auch "schon vorher über den unerträglichen Dünkel des jungen Genies oft den Kopf geschüttelt" (Nicolai).
Dieser Dünkel gründete in der Überzeugung, das Genie brauche keine Rücksichten zu nehmen. Folgerichtig setzten sich Goethe und seine Mitstreiter (wie z.B. Lenz) nicht nur über den Anstand gegen lebende Zeitgenossen hinweg, sondern sie glaubten auch, nicht an literarische Regeln gebunden zu sein.
Ihren "theatralischen Freibeutereien" (H. Chr. Boie) fielen dann sogar allseits akzeptierte Normen wie die des Aristoteles zum Opfer. So beklagt sich auch Chr. F. Weiße: "Diese Herren machen die Regeln des Aristoteles lächerlich." Und er weiß Lessing auf seiner Seite: "Sehr angenehm ist mir Lessings Donnereifer wider das itzige Göthisiren und Lenzisiren gewesen."
Dabei hielt Lessing Goethes Überheblichkeit für durchaus unbegründet, denn

der müsse ganz auf den Kopf gefallen sein, der, wenn er sich keiner Regel unterwerfen wolle, nicht eine Situation oder launigte Scene machen könne (Lessing nach Weiße).

Darüber hinaus glaubte er auch, daß sie einen schädlichen Einfluß auf das deutsche Theater hätte. Lessing selber hatte unter Berufung auf Aristoteles und Shakespeare daran gearbeitet, dem deutschen Theater einen eigenen Charakter zu schaffen, es aus der bloßen Nachahmung der französischen Mode herauszuheben. Er sah ein deutsches Theater noch nicht gefestigt, da drohten "Goethes und Kompanie Haupt- und Staatsaktionen"(Weiße) dieses empfindliche Gebilde schon wieder zu zerstören.
So meint Lessing selber, der Beifall, den der Götz bei einer Berliner Aufführung bekommen habe, gereiche "weder zu Ehre des Verfassers, noch zu Ehre Berlins" (Brief an Karl v. 30. 4. 74), und über Goethes Ideen zu Euripides soll er Jacobi zu Folge gesagt haben, sie "seyen der klareste Unsinn, wahrhaft tolles Zeug".
Wie fern Lessing das Geniegehabe der jungen Wilden war, zeigt vielleicht am besten eine Anekdote, die von gleich mehreren Zeitzeugen belegt wird. Einer von ihnen ist Karl W. Böttiger. Er erzählt, Lessing habe einmal unwillig ausgerufen: "Wer mich ein Genie nennt, dem geb ich eine Ohrfeige, daß er denkt, es wären zwei!"
Bei all den Vorbehalten gegenüber Goethes Charakter und dem Ärger über dessen "Haupt- und Staatsaktionen" verwundert es, daß Lessing sich mit öffentlichem Tadel Goethes sehr zurückhielt. Ob dies mit Rücksicht auf dessen Jugend oder sein Talent (das Lessing trotzdem durchaus erkannte) geschah, läßt sich nur vermuten. Viele von Lessings Bekannten glaubten aber, daß das Ende seiner Zurückhaltung um das Jahr 1774 herum bald gekommen sein würde.
Da geschah etwas, das dieses Faß eigentlich zum Überlaufen hätte bringen müssen: Goethe veröffentlichte Die Leiden des jungen Werthers.
Ich dachte zurück an die Zeit, als ich diesen Roman zum ersten Mal gelesen hatte. Ziemlich genau 200 Jahre nach seinem Erscheinen war er einmal meine Urlaubslektüre gewesen. Ich erinnerte mich daran, wie wir in der Sonne gelegen und versucht hatten, genauso zu sprechen wie Werther. Das war lustig gewesen.
Goethes Zeitgenossen aber hatten den Roman nicht lustig gefunden. Ich zwang mich zurück ins 18. Jahrhundert.
Mit dem Werther hatte Goethe seine Rücksichtslosigkeit gleich in mehrfacher Hinsicht auf die Spitze getrieben.
Er bediente sich für seine Titelfigur hemmungslos an einem Vorbild aus der Realität. Keine zwei Jahre vorher hatte sich in Wetzlar der junge Jurist Karl Wilhelm Jerusalem erschossen. Goethe übernahm so viele Details aus verschiedenen Schilderungen dieses Vorfalls in seinen Roman, daß bald schon allgemein feststand: Werther war Jerusalem! Daß die beiden Personen in ihren wesentlichen Charaktereigenschaften ganz unterschiedlich waren, merkten nur die, die Jerusalem wirklich gekannt hatten. Für alle anderen war klar, der Roman enthielt Nachrichten über das tatsächliche Ereignis, beschrieb also das Schicksal Jerusalems.
Das mußte alle Verwandten und Freunde des echten Jerusalems empören, ganz abgesehen davon, daß so kurze Zeit nach dem Tod die Trauer, z.B. bei seinem Vater, noch nicht verheilt war. Durch den Trubel, den jetzt eine sensationslüsterne Öffentlichkeit veranstaltete, wurde alles wieder aufgewühlt.
Diese Folgen seines Romans nahm Goethe wissentlich in Kauf. Es interessierte ihn nicht. Ebensowenig wie es ihn interessierte, daß die Figur des Werthers zu einer Modewelle wurde, und überall junge Leute ihrem Ideal nacheiferten (bis hin zu tatsächlichen Selbstmorden).
Sein Publikum nannte er an anderer Stelle ja auch schon mal eine "Heerd Schwein", und was der Literaturbetrieb von seinem Werk hielt, war ihm ebenfalls vollkommen gleichgültig:

Von Rezensionen nahm ich wenig Notiz. Die Sache war für mich völlig abgetan, jene guten Leute mochten nun auch sehn, wie sie damit fertig wurden. (Dichtung und Wahrheit)

Hier war auch Lessing angesprochen. Er hatte den Roman sehr früh zur Kenntnis genommen und schon da vor den Folgen gewarnt. Zur Abschwächung der Wirkung hatte er geraten, ein weiteres Kapitel hinzuzufügen: "Also, lieber Göthe, noch ein Kapitelchen zum Schlusse; und je cynischer je besser!" (Brief an Eschenburg v. 26. 10. 74) Ihm war klar, daß die Tendenz eines Kunstwerks mit in die Verantwortung des Autors gehört. Bei seinen eigenen Werken war sie ihm oft sogar noch wichtiger gewesen als die sprachliche Gestalt.
Aber Lessings Interesse war nicht nur literarischer Art, er war auch selbst betroffen. Denn er kannte Jerusalems Vater und achtete ihn als einen aufrechten Theologen und Pädagogen, und er war auch mit Jerusalem selbst befreundet. 1770 hatte er ihn in Wolfenbüttel kennen und schätzen gelernt. Umso mehr empörte ihn, wie Goethe da mit dem Andenken an den Sohn und dem Schmerz des Vaters umging.

Höchst aufgebracht war er gegen die Leiden des jungen Werthers und behauptete, der Charakter des jungen Jerusalems wäre ganz verfehlet: er sei niemals der empfindsame Narr, sondern ein wahrer, nachdenklicher, kalter Philosoph gewesen.

So schreibt Weiße in einem Brief an Chr. Garve vom 4. 3. 1775.
Deshalb muß es wohl gleich mehrere Pläne gegeben haben, darauf - jetzt auch öffentlich - zu reagieren. Weiße sagt im selben Brief: "Kurz ich merke, er [L] wird ihm [G] einmal jählings [...] auf den Nacken springen", und in einem anderen Brief (an Chr. Friedr. v. Blanckenburg v. 20. 5. 75) kündigt er an, "daß er (L.) ihm [G] in einer Vorrede derb die Wahrheit sagen wolle". Diese Vorrede sollte zu der Herausgabe von Jerusalems Schriften gehören, die Lessing vorbereitete.
Chr. Friedr. Nicolai weiß von einem weiteren Vorhaben Lessings: "Es leben noch verschiedene von Lessings Freunden, welche wissen wie nahe er daran war, Wertherische Briefe herauszugeben". In diesen Briefen sollte nicht nur dieser Roman, sondern auch die anderen Werke Goethes genauer untersucht werden.
Schließlich ist noch bekannt, daß Lessing sogar plante, eine eigene Parodie über den Werther zu schreiben. Der Titel Werther, der bessere und die Skizze einer Szene sind noch erhalten.
Unterdessen meldeten sich schon viele andere zu Wort, der Hauptpastor Goeze z.B., Lessings späterer Gegner im Fragmentenstreit, und andere Kirchenvertreter, die die Moral der Jugend angegriffen sahen. Viele Nachahmer und Trittbrettfahrer des Ruhms veröffentlichten Gegenschriften, Parodien, Fortsetzungen zum Werther. Die Berliner Freunde Lessings ließen sich ebenfalls hören und wurden dafür von Goethe als "Geschmäcklerpfaffen" verspottet. Nicolai schrieb Die Freuden des jungen Werthers.
Und was kam letztlich von Lessing?
Nichts!
Er gab zwar die philosophischen Schriften Jerusalems heraus, schrieb auch ein Vorwort dazu, aber ohne auf Goethes Roman oder seinen Autor Bezug zu nehmen.
Es gab keine öffentliche Äußerung Lessings über Goethe und den Werther.
Das ist die erste von vielen Absonderlichkeiten, die das Jahr 1775 in diesem Zusammenhang mit sich bringt. Lessing scheint urplötzlich jedes Interesse an Werther und Goethe verloren zu haben und arbeitet stattdessen ebenso plötzlich wieder an einem Projekt, das schon 20 Jahre alt ist: seine Version des Fauststoffes.
Schon 1755 hatte er in einem Brief an George August von Breitenbauch geschrieben:

Schon wieder ein Gleichnis aus der Hölle? Merken Sie mir es nun bald an, daß ich an meinem D. Faust arbeite? Sie sollten mich in einer mitternächtlichen Stunde darüber sinnen sehen! Ich muß zum Entsetzen aussehen, wenn sich die schrecklichen Bilder, die mir in dem Kopfe herumschwärmen, nur halb auf meinem Gesicht ausdrücken.

Und 1759 veröffentlicht er eine Szene des Stücks und leitet sie mit folgenden Worten ein:

Einer von meinen Freunden verwahret einen alten Entwurf eines Trauerspiels, und er hat mir einen Auftritt daraus mitgeteilet, in welchem gewiß ungemein viel großes liegt.

Hier hat es den Anschein, als ob das Stück zumindest fast beendet ist, und er damit sehr zufrieden wäre. In den nächsten Jahren wurde dann auch allerseits mit der Aufführung gerechnet, aber erstaunlicherweise wurde es still um das Projekt.
Erst jetzt im Jahr 1775 arbeitet Lessing wieder daran. Dieses wiedererwachte Interesse an dem alten Vorhaben schien gewissermaßen die Begeisterung für das neuere Vorhaben (Goethe/Werther) ersetzt zu haben.
Bei einer Zigarettenpause vor der Tür überlegte ich, ob dieses Zusammentreffen bloßer Zufall sein könnte. Ich glaubte nicht daran.
Spontan fiel mir eine andere Situation aus Lessings Leben ein, wo es eine ähnliche Konstellation gegeben hatte. Jahre später im Streit mit Goeze und anderen über die Fragmente eines Ungenannten, die Lessing veröffentlicht hatte, verstummte er ebenso plötzlich. Allerdings nicht freiwillig, jede weitere öffentliche Äußerung dazu war ihm verboten worden. Statt eines weiteren Anti-Goezes schrieb er dann ein Theaterstück, den Nathan.
Konnte es nicht sein, daß Lessing hier schon Ähnliches vorgehabt hatte, nämlich Goethe auf seiner "alten Kanzel, dem Theater" zu begegnen? Wie später der Nathan eigentlich ein Anti-Goeze war, hätte vielleicht der Faust ein Anti-Goethe werden sollen?
Wenn man diesen Zusammenhang nicht sehen wollte, stolperte man gleich über den nächsten Zufall:
Zur selben Zeit, als Lessing wieder an seinem Faust saß, schrieb nämlich auch Goethe an seiner ersten Fassung, die später als Urfaust bekannt wurde. Beide mußten durch Zwischenträger auch vom jeweils anderen wissen.
Wenn man meine Idee vom Faust als Anti-Goethe annahm, löste sich auch dieser Zufall auf. Dann hat Lessing, eben weil er von Goethes Arbeit wußte, seinen Faust wieder vorgenommen, als angemessenes Mittel der Auseinandersetzung. Ich hatte irgendwo im Daunicht eine Stelle gesehen, die auch so etwas nahelegte. Ich ging wieder hinein, suchte ein wenig und fand schließlich, was ich gemeint hatte. Weiße sagte in einem Brief an J. P. Uz (v. 7. 10. 75):

Lessing [...] schwur das deutsche Drama zu rächen. Er hatte gehört, daß Goethe einen Doktor Faust liefern will, und tritt er ihm da in den Weg, so müßte ich ihn sehr verkennen, wenn er nicht Wort halten sollte.

Mag man auch das noch als Zufall gelten lassen, so wird es doch zunehmend unwahrscheinlicher, wenn man die nächste Absonderlichkeit betrachtet.
Im Laufe des Jahres 1775 haben anscheinend beide ihr jeweiliges Werk beendet. Von Lessing heißt es, sein Schauspiel erwarte "nur die letzte Hand", Goethes Text war schon 1774 "fast fertig", 1775 las er bereits im kleinen Kreis daraus vor.
Und doch wurden beide Dramen nicht veröffentlicht.
Wiederum ein Zufall?
Die seltsame Zurückhaltung der beiden dauerte sogar über Jahre hin an. Bis zu Lessings Tod im Jahr 1781 war weder Goethes noch Lessings Faust erschienen.
Noch ein Zufall?
Goethe brauchte noch weitere sechs Jahre bis er die erste Fassung seines Projekts herausbrachte. Lessings Faust blieb ganz verschwunden.
Auch das ein Zufall?
Ich war nicht bereit, das anzunehmen.
Nach meiner Sicht der Dinge ließen sich diese Zufälle fast alle aufheben.
Lessing hatte auf Goethes Faust gewartet, um dann seinen (eben als Anti-Goethe) dagegen zu setzen. So vermutete ja auch Müller in dem Zitat, das ich schon Samstag gefunden hatte. Heute war mir noch ein anderer Beleg dafür untergekommen. Friedr. Münter schreibt in seinem Tagebuch: "er wartete auf Göthens Faust um s Herauszugeben".
Anscheinend hat Goethe davon erfahren und deshalb seine Veröffentlichung ebenfalls zurückgestellt. Das sonst so forsche junge Genie war zwar nur schwer als literarischer Feigling vorzustellen, aber vielleicht war ja der Respekt vor einem solchen Gegner, wie es Lessing gewesen wäre, doch groß genug, um wenigstens vorsichtig zu sein. Und so wartete einer auf den anderen, bis Lessing dann gestorben war.
Aber hätte der Faust dann nicht in seinem Nachlaß auftauchen müssen?
Diese letzte Frage ließ sich vorläufig durch meine Theorie nicht klären. Leider war das ja die spannendste. Aber ich brauchte jetzt eine Pause. Meine Gedanken begannen sich zu verwirren, und mein Kopf fing an zu dröhnen. Das mußte alles erst einmal ein bißchen sacken.


* * *



Er saß auf der Wiese im sicheren Schatten zweier Bäume. Die dichten Sträucher ringsum beschützten ihn vor unerwünschten Blicken. Deshalb konnte er die Pistole auch offen im Gras liegen lassen. Er hatte sie äußerst sorgfältig gereinigt, und jetzt erstrahlte sie im neuen Glanz. Beinahe liebevoll betrachtete er die Waffe. Sie war vollkommen, ein Kunstwerk in ihrer Art.
Eigentlich war sie zu schade für das, was er mit ihr geplant hatte. Verschwendet an diesen aufgeblasenen Hohlkopf, für den Kostbarkeiten nur dann zählten, wenn man sie auch in klingender Münze ausdrücken konnte. Für echte Kunstwerke hatte der kein Verständnis. Wie konnte man überhaupt auch nur daran denken, ein einzigartiges Kulturgut zu vernichten?
Doch es lohnte nicht, sich jetzt noch darüber zu ereifern. Schließlich war dieser Gegner schon so gut wie Vergangenheit, nur noch ein weiterer häßlicher Fleck auf der Müllhalde der Geschichte.
Trotzdem war nicht an Ausruhen zu denken. Schon zeigte sich ein neuer Gegenspieler und verlangte nach Aufmerksamkeit. Aber der mußte noch warten. Er konnte nur richtig arbeiten, wenn er sich auf eine Aufgabe beschränkte und sich richtig konzentrierte. Das fiel ihm in letzter Zeit immer schwerer. Kein Wunder auch, wenn er doch nachts keine Ruhe bekam! Ständig quälten ihn diese unbarmherzigen Träume. Der von heute früh war besonders schlimm gewesen. Schweißgebadet war er aufgewacht und hatte sofort das Kästchen öffnen müssen. Da hatten die Pistolen zum Glück gelegen.
Sie hatten ihm Angst gemacht, wie sie so da lagen und ihn ansahen. Und dann hatte er das Gefühl gehabt, sie redeten mit ihm. Es passierte jetzt öfter, daß die Dinge zu ihm sprachen. Eine beunruhigende Erfahrung, aber sie zeugte auch von seiner Entwicklung. Zeigte ihm, daß er wuchs, ganz allmählich zwar, aber unaufhaltsam, zurück zu dem Ursprung des Universums. Wo belebte und unbelebte Teile der Welt noch im Einklang miteinander gewesen waren. Wo man die Dinge bei ihrem Namen nennen konnte und dadurch Kontakt zu ihnen bekam, ein Teil von ihnen wurde. "Eins und alles", dachte er, "ich bin ein Teil von allem, und alles liegt verborgen in mir."
Diesen Einklang mit der Welt gab es heute nicht mehr. Man mußte sich abmühen mit den Hilfskonstruktionen der Kultur, mit den Unzulänglichkeiten der Sprache. Einen Rest von Macht hatte die Sprache aber auch heute noch behalten. Wenn man sie zu benutzen wußte, konnte man etwas bewegen.
Er nahm den Zettel noch einmal aus der Tasche.
Da raschelte es im Gebüsch zu seiner Rechten. Instinktiv griff er nach der Pistole, aber nicht, um sie zu verstecken. Er spannte ihren Hahn und richtete sie auf den Busch. Sein Blick wanderte über den Lauf und versuchte, das Geäst zu durchdringen.
Schließlich sah er die Augen seines Feindes. Sie starrten ihn an. Er korrigierte die Waffe leicht, so daß sie nun genau zwischen die Augen zielte. Die bewegten sich nicht, zeigten auch keine Furcht oder Erschrecken. Sie sahen ihn nur höhnisch an und schienen ihn zu verspotten. "Schieß nur", zwinkerten sie, "es wird dir nichts nützen."
Sein Finger krümmte sich, bewegte den Abzug bis zu dem Druckpunkt, den er bei den Probeschüssen im Wald kennengelernt hatte. Dann zögerte er, atmete noch einmal tief ein und versuchte dann abzudrücken. Aber es ging nicht. Er schaffte es nicht, den Finger den entscheidenden Millimeter weiter zu bewegen.
Die Augen schauten ihn immer noch an, ruhig, gelassen und spöttisch. Sie wußten um seine Schwäche, sahen, wie sein Finger nicht mehr in der Lage war, den Abzug noch länger zu halten, und sich entspannte.
Er senkte die Waffe. Erst jetzt merkte er, daß sein ganzer Arm verkrampft war und leicht zitterte. Er sah wieder zu den Sträuchern. Die Augen waren verschwunden.
Er legte die Pistole vorsichtig ins Gras und hob den Zettel auf, der ihm herunter gefallen war. Er versuchte, noch einmal zu überprüfen, was er geschrieben hatte. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen und kamen nur langsam zur Ruhe. Schließlich standen sie still, und er konnte den Text lesen.
"Und siehe," dachte er, "es war wohlgetan."
Er steckte Zettel und Pistole wieder ein und stand auf. Seine Nerven hatten sich jetzt beruhigt, und er summte leise vor sich hin:

I'm takin' control of my life, I'm
takin' control of my life,
I'm takin' control of my life
now, right now
Oh yeah


* * *



Ich erwachte auf einer Bank im Schloßpark.
Unnatürlich lautes Vogelgezwitscher schrillte mir in den Ohren. Ich sah mich verwundert um und wußte im ersten Moment nicht, wo ich war und was ich da machte. Dann fiel es mir wieder ein: Die Bibliothek. Mein dröhnender Kopf. Der Spaziergang um das Schloß herum, zu dem ich mich entschlossen hatte.
Ich mußte auf der Bank eingeschlafen sein. Die Kopfhörer meines Walkmans waren verrutscht, und ich hörte Tom nur noch ganz leise singen:

Where the sky begins the horizon ends
Despite the best intentions
And a big ol' man goes up for sale
He becomes his own invention

Der Schlaf hatte meine Gedanken anscheinend nicht zur Ruhe kommen lassen, denn die Vögel im Park riefen mir die Stichworte meiner Arbeit zu: Von weitem war ein langgezogenes "Weeeerther" zu hören, links aus der Richtung des Schlosses tönte es jammervoll "Faust! - Faust! - Faust!", und im Baum direkt über mir flötete ein besonders aufdringlicher Vogel "Anti-Goethe! Anti! Anti! Anti-Goethe!"
Ich verbat mir die Einmischung in meine Angelegenheiten und sondierte meine Umgebung. Es war ziemlich einsam in dieser Ecke des Parks. Lediglich ein Pärchen konnte ich entdecken. Die beiden saßen weit entfernt von mir ebenfalls auf einer Bank und waren wohl ganz froh über diese Einsamkeit.
"Anti-Goethe", nahm ich den Faden des Schreihalses über meinem Kopf wieder auf. Das wäre etwas, wenn es mir gelingen würde, Lessings Faust wiederzuentdecken! Und wenn ich außerdem zeigen konnte, daß er als Teil der Auseinandersetzung um den Werther entstanden war! Nicht nur die Lessingforschung würde das interessieren, auch das Goethe-Bild wäre unter Umständen betroffen.
Goethes Faust hatte ja durchaus gemeinsame Züge mit Werther. Faust war ebenfalls melancholisch. Und wenn ich mich recht erinnerte, war auch beim Faust von Lebensüberdruß und Selbstmordgedanken die Rede. Ansonsten trug er Charakterzüge seines Schöpfers, dieselbe Überheblichkeit, dieselbe Rechtfertigung eines jeden Regelverstoßes durch das geniale Über-den-Dingen-Stehen.
Genau das hätte sicher den Unterschied zu Lessings Faust ausgemacht. Der wäre nicht der geniale Sünder gewesen, der Naturgesetze außer Kraft setzen konnte, sondern ein Wahrheitssucher, ein Entdecker von neuen Gesetzmäßigkeiten zum Nutzen für die ganze Menschheit. Außerdem hätte Lessing ganz bestimmt den Drang nach Wissen und Erkenntnis nicht als sündhaft dargestellt.
Je mehr ich über den Inhalt des unbekannten Dramas spekulierte, desto größer wurde meine Gewißheit: Der Faust existierte - nur wo?
Als ob die Vögel eine Antwort auf diese Frage hätten, sah ich mich um. Das Pärchen war inzwischen aufgestanden und ging in Richtung Stadt. Weil sie dafür näher an meinen Platz kommen mußten, konnte ich sie etwas besser sehen. Die Frau schien ziemlich hübsch zu sein, und der Mann - Moment mal! Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. Das war ja Aaron! Entgeistert sah ich ihm nach. So sah also die Knochenarbeit aus, unter der mein Freund stöhnte.
Na, der würde abends etwas von mir zu hören kriegen!
Aber bis dahin hatte ich noch zu arbeiten. Es war ja ganz reizvoll, darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten meine Theorie bot. Besser wäre es in jedem Fall, noch mehr Fakten zu sammeln, die sie stärken konnten.



Wieder im Lesesaal suchte ich noch einmal die Tagebucheintragung von Kuntzsch heraus, auf die ich Samstag gestoßen war. Die Zeilen konnte man ja so verstehen, daß Lessing seinen Faust sehr wohl beendet hatte:

Im W mit Zachariä, Ebert, Schmidt und den anderen.
L hat gelesen. Alle waren sehr beeindruckt.
Auch der junge Herr G wird sich noch wundern.

Kuntzsch nannte noch drei andere Teilnehmer dieses Lesezirkels. Vielleicht konnte ich bei einem von ihnen einen weiteren Anhaltspunkt aufspüren. Es dauerte eine ganze Weile, aber dann wurde ich fündig. Erinnerungen an mein Leben hieß das Bändchen, das ich schließlich in Händen hielt, es war von Konrad Arnold Schmidt. Und dort fand ich tatsächlich eine Stelle, die sich auf dasselbe Ereignis beziehen mußte. Hier hieß es:

Im Jahre 76 saßen wir oft im Hinterzimmer beysammen, weil nicht für jedermanns Ohren taugte, was wir zu bereden hatten. So auch in einer Nacht im October. Draußen toste ein ordentlicher Wind. Er ließ das Feuer im Kamin, das neben einem vierarmigen Candelaber unsere einzige Beleuchtung war, mitunter gespenstisch aufflackern. Das alles gab die rechte Kulisse für das Stück, aus dem L vorlas. Seine wohltönende Stimme war dem Sujet so recht angemessen, und manch einem der Freunde trieb sie wohlige Schauer ins Gemüth. Ich glaubte, hier sein Meisterwerk gehört zu haben. Leider nur dieses eine Mal. Oft habe ich mich seither gefragt, was daraus geworden sein mag.
Später diskutirten wir noch über das Wolfenbütteler Urbild der Titelfigur. Der Landsyndikus Sömmering hatte unserem Freund eine alte Familienchronik überlassen, nebst etlichem Material, was er wohl genutzet hat.

Die Buchstaben schienen vor meinen Augen zu tanzen. Ich hatte eine Entdeckung gemacht: Lessing hatte sich anscheinend auf die Wolfenbütteler Überlieferung von Therocyklus bezogen und Material aus dem Leben dieses Alchimisten für seinen Faust benutzt.
Allerdings war ich wohl nicht der erste, der das herausgefunden hatte. Nicolai mußte vor mir darauf gekommen sein. Denn wie sonst war sein Interesse an Therocyklus/Sömmering zu erklären?
Aber noch etwas war interessant an diesem Bericht: das Datum. Oktober 1776.
Aufgeregt blätterte ich im Daunicht, um mich zu vergewissern. Richtig. Eine Erklärung für das Verschwinden des Faust-Manuskripts war, daß es in einer Kiste von Dresden aus nach Braunschweig geschickt worden sein soll, die dann nie dort angekommen ist. Doch das war schon im Januar oder Februar 1776!
Wenn Schmidt hier im Oktober berichtet, daß Lessing daraus vorgelesen hat, so kann diese Erklärung nicht stimmen. Lessings Bruder Karl behauptet zwar, Lessing selber habe ihm das mitgeteilt. Aber er irrte sich entweder, oder Lessing wollte sich vor allzu neugierigen Nachfragen seines Bruders schützen und hat diese Episode erfunden.
Jedenfalls ist der Faust nie in dieser Kiste gewesen, oder zumindest nicht das einzige Exemplar. Wäre auch nur schwer vorzustellen, daß Lessing "alles, was er über den Faust gearbeitet" (Karl), dem damals sehr unsicheren Postweg anvertraut hätte.
Dann blieb noch die andere Vermutung, die verschiedentlich geäußert wurde: Das Manuskript sei in seinem Nachlaß gewesen und da abhanden gekommen.
Ich suchte nach Arbeiten, die dieser Möglichkeit nachgegangen waren. Zum Glück fand ich eine sehr sorgfältige und umfangreiche Untersuchung von Gottfried Emperius aus dem 19. Jahrhundert. Er hatte die genauen Umstände von Lessings Nachlaß erforscht. Dem Kanzleisekretär J. H. Fricke, der für die Versiegelung der Bibliothekarswohnung und die Verpackung der vorhandenen Druckwerke verantwortlich gewesen war, hatte er hinterher gespürt und die unseligen Umstände des Erbstreits zwischen Karl und der Familie Henneberg bis ins kleinste Detail beleuchtet. Es gab viele Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten, aber keine noch so kleine Andeutung auf den Faust.
Also zurück zu meiner Theorie:
Der Faust war nicht zu Lessings Lebzeiten verloren gegangen. Er war fertig gestellt und hätte erscheinen können. Lessing aber wartete, weil Goethe ebenfalls mit seiner Veröffentlichung zögerte. Es dauerte Jahre, und nichts geschah.
Was hätte Lessing (vorausgesetzt, diese Vermutungen stimmten) tun können?
Eine Möglichkeit wäre gewesen, Goethe Goethe sein zu lassen und den Faust eben als erster herauszubringen. Das hatte er offensichtlich nicht getan.
Obwohl er vielleicht befürchten mußte, daß seine Zeit knapp würde, und der reichlich jüngere Goethe noch lange warten könnte.
War Lessing womöglich auf die Idee gekommen, die Zeitspanne, die ihm zu warten verblieb, zu verlängern? Und zwar dadurch, daß er das Buch jemandem anvertraute, der deutlich jünger war als er, und der, wenn die Zeit gekommen wäre, die Veröffentlichung auch noch nach seinem Tod besorgen könnte?
Weit hergeholt?
Vielleicht, aber auch nicht viel weiter als diese ominöse "Kiste", die spurlos verschwindet und nie wieder auftaucht.
Mal sehen, wer käme denn da in Frage?
Es mußte jemand sein, der ein sehr enger Vertrauter Lessings war. Er mußte die genauen Umstände des Werther-Streits gekannt haben und deutlich jünger als Lessing gewesen sein.
Es gab tatsächlich jemanden, auf den all das zutraf: Johann Joachim Eschenburg.
Er war wahrscheinlich der engste Freund aus Lessings letzten Lebensjahren. Die Briefe an ihn, in denen Lessing über den Tod seines Sohnes und seiner Frau berichtet, sind in die Literaturgeschichte eingegangen. Er war es sogar, der Lessing den Werther zugänglich gemacht hatte. Mit ihm hatte er schon darüber gesprochen, bevor die allgemeine Aufregung einsetzte. Und er war deutlich jünger als Lessing.
Ich brachte meine Theorie auf den Punkt:
Lessing hatte sein Manuskript "einem guten Freunde zur Verwahrung gegeben" (ich konnte beinahe seine Worte hören) und ihm überlassen zu entscheiden, wann es der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte.
Vielleicht eine abenteuerliche Idee, aber sie faszinierte mich: ein geheimes Vermächtnis.
Das allerdings nie eingelöst worden war. Wann wäre wohl der geeignete Zeitpunkt dafür gewesen? Goethe hatte 1790 Faust. Ein Fragment veröffentlicht. Kurz danach hätte dann auch Lessings Faust erscheinen können, was aber nicht geschehen war.
Ich mußte in Eschenburgs Umgebung um diese Zeit herum suchen. Möglicherweise hatte er ja auch Lebenserinnerungen oder Tagebücher geschrieben, die erhalten waren.
Kurze Zeit später hielt ich einen Band mit Briefen von Eschenburg in der Hand.
Gespannt suchte ich nach dem Jahr 1790. Beim Umblättern fiel ein Blatt Papier aus dem Buch. Anscheinend eine Rechnung. Ich steckte es automatisch in die Tasche, ohne es genauer anzusehen, denn auf dieser Seite schien etwas Interessantes zu stehen. Ein Brief an Anton Ullrich. Da hieß es:

Glauben Sie nur, daß ich jenes, was ich Ihnen unter dem Siegel der Freundschaft anvertraute, nunmehr so bald als irgend möglich zurück brauche.

Ein paar Seiten weiter wurde es noch drängender. Wieder ein Brief an Ullrich:

Ich mag nicht glauben, mich in Ihnen so getäuscht zu haben. Ich erfinde tausenderlei Gründe, was Sie abgehalten haben mag. Nichtsdestoweniger benöthige ich es jetzt dringend. Ohn Verzug, unabdingbar brauche ich es.

Schließlich fand ich noch einen Brief an Christian Andreas von Biel, der auch zu dem Kreis um das Weghaus gehört hatte, in dem es um dieselbe Sache ging:

Sollten Sie mit Ihrer Vermuthung recht haben, so habe ich Schande auf meinen Namen geladen, die sich wohl schwerlich wird wieder tilgen lassen.
Aber wurde ich nicht aufs gröbste selbst hintergangen?
Was ist nur zu tun?
U habe Verbindung zu Mylius sagen Sie? Der habe damit geprahlet, unserem seeligen Freunde noch posthum 'das Maul gestopfet' zu haben?
Wenn Sie sich doch irrten! Sie sehen mich zutiefst bestürzt und beschämet. Ich weiß mir keinen Rath.

Ich konnte es gar nicht glauben. Der Faust wurde zwar an keiner Stelle erwähnt, aber das alles paßte zu gut ins Bild: Eschenburg hatte das Manuskript an Ullrich ausgeliehen und nicht zurückbekommen. Und dieser Mylius hatte dabei seine Hände im Spiel.
Der Name "Ullrich" kam mir bekannt vor. Ich blätterte in den Anmerkungen zum Eschenburg-Buch und fand die Eintragung: "Anton Ullrich, Schwiegersohn von Georg Otto Leopold, Besitzer des Weghauses." Da war also die Verbindung. Aber warum hatte Ullrich das getan? Und was hatte Mylius damit zu tun? Und wer war das überhaupt?
Auf gut Glück sah ich in einem Literaturlexikon nach und fand tatsächlich einen kurzen Eintrag: "Friedrich Wilhelm Mylius, unbedeutender Literat des 18. Jahrhunderts, kurze Zeit ein Vertrauter GOETHES".




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